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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1998


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Kai Peter Ziegler


XIII. Europäische Gemeinschaften

13. Vorabentscheidungsverfahren (Art. 177 EG-Vertrag)

       132. Das BVerfG entschied mit Beschluß vom 4.6.1998 (1 BvR 2652/95 - GewArch 1998, 333), daß letztinstanzliche Hauptsachegerichte bei der Beurteilung entscheidungserheblicher Fragen des Gemeinschaftsrechts, zu denen noch keine hinreichende EuGH-Rechtsprechung vorliege bzw. zu denen eine Fortentwicklung der EuGH-Rechtsprechung möglich erscheine, Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nur dann verletzen würden, wenn sie ihren Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten hätten. Die Betreiber eines Selbstbedienungsmarkts der "Metro-Gruppe" wurden von einem Verein zur Förderung der Interessen des Einzelhandels darauf verklagt es zu unterlassen, in ihrem Markt Waren für den Eigenverbrauch der Kunden zu verkaufen, auf Werbeblättern eine doppelte Preisauszeichnung ohne grafische Differenzierung vorzunehmen und ihre Kassen noch nach den gesetzlichen Ladenschlußzeiten offenzuhalten. Gestützt auf eine frühere Entscheidung des BGH verurteilte das LG die Beschwerdeführer. Ihre Berufung wurde abgewiesen, die Revision nicht angenommen. Auch das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung an, weil die Fragen zu Art. 12 Abs. 1 GG und Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG geklärt seien. Die Nichteinleitung eines Vorlageverfahrens an den EuGH als gesetzlicher Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG könne das Grundrecht zwar verletzen, doch prüfe das BVerfG nur, ob die Fachgerichte die Voraussetzungen des Art. 177 Abs. 3 EGV in offensichtlich unhaltbarer Weise beurteilt hätten. Dies sei der Fall, wenn die Gerichte eine Vorlage an den EuGH trotz Zweifeln an der richtigen Auslegung entscheidungserheblicher gemeinschaftsrechtlicher Fragen nicht in Erwägung gezogen hätten oder bewußt von der Rechtsprechung des EuGH abgewichen seien ohne vorzulegen. Liege eine einschlägige EuGH-Rechtsprechung noch nicht vor, sei eine Frage möglicherweise noch nicht erschöpfend beantwortet, oder erscheine eine Fortentwicklung der EuGH-Rechtsprechung möglich, so sei Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nur dann verletzt, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht seinen Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschritten habe, weil etwa eine Gegenauffassung der des Gerichtes eindeutig vorzuziehen sei. Das OLG habe sich aber ausdrücklich mit der Frage einer Vorlage an den EuGH auseinandergesetzt, die Gerichte seien nicht bewußt von der Rechtsprechung des EuGH abgewichen und die europarechtlichen Fragen zur Rechtsprechung des EuGH in den Fällen Yves Rocher und Keck würden keine solchen Zweifel aufdrängen, daß die Nichtvorlage unvertretbar erscheine.197

       133. Der 1. Sen. des BFH legte mit Beschluß vom 9.9.1998 (I R 6/96 - DStR 1999, 151) dem Großen Senat die Frage vor, ob der BFH verpflichtet sei, dem EuGH Fragen nach dem Inhalt von Vorschriften der RL 78/660/EWG198 vorzulegen. Eine GmbH wies in ihrer Bilanz eine Rückstellung für die rückständige Entsorgung von Abfallprodukten aus, deren Beseitigung von einer Drittfirma übernommen worden war, von der die GmbH auch Abfallbehälter gemietet hatte. Einen konkreten Auftrag zum Abtransport der von der Rückstellung betroffenen Abfälle hatte die Klägerin zum Bilanzstichtag noch nicht erteilt. Das FA erkannte die Rückstellung mangels hinreichender Konkretisierung der Entsorgungsverpflichtung als steuerlich unzulässige Aufwandsrückstellung nicht an. Das FG wies die Klage ab, wogegen die Klägerin Revision einlegte. Der Senat führte dazu aus, daß der BFH bislang nicht zu erkennen gegeben habe, ob er i.R.d. Steuerbilanzrechts eine Vorlagepflicht bejahe. Zur Beantwortung dieser Frage sei nicht der EuGH zuständig, da nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 177 Abs. 2 EGV allein die nationalen Gericht über die Notwendigkeit der Vorlage entscheiden würden und der EuGH ihnen nach ständiger Rechtsprechung sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung als auch die Erheblichkeit der Fragen zur Beurteilung überlasse. Der 1. Senat sei der Auffassung, daß Fragen nach dem Inhalt der Bilanzrichtlinie dem EuGH nicht zur Vorabentscheidung vorzulegen seien. Ausgangspunkt für eine mögliche mittelbare Geltung der Bilanzrichtlinie bei der steuerlichen Gewinnermittlung sei § 5 Abs. 1 S. 1 EStG, der auf die handelsrechtlichen Grundsätze ordnungsmäßiger Buchführung verweise. Daß der Gesetzgeber damit aber einen Bezug zu den gemeinschaftsrechtlichen Bilanzierungsvorschriften hergestellt habe, stehe weder mit der Gesetzesgeschichte des Maßgeblichkeitsgrundsatzes, noch der Systematik des dritten Buches des HGB, noch den Gesetzesmaterialien zum Erlaß des Bilanzrichtliniengesetzes in Einklang. Der Maßgeblichkeitsgrundsatz habe bereits 1934, also ohne Bezug zum Gemeinschaftsrecht, Eingang in das EStG gefunden und der Rechtsausschuß des Bundestages habe die Vorschriften des Regierungsentwurfes zum Bilanzrichtliniengesetz umgruppiert, um zu verhindern, daß die ausschließlich für Kapitalgesellschaften einzuführenden Regelungen der Bilanzrichtlinie auch auf Personenhandelsgesellschaften und Kaufleute übertragen würden.199 Die Übernahme der Vorschriften der Bilanzrichtlinie im ersten Abschnitt des dritten Buches des HGB sei damit systematisch abgelehnt worden. Werde danach für Personengesellschaften und Einzelunternehmer weder handels- noch steuerrechtlich Bezug zum Gemeinschaftsrecht hergestellt, so gelte dies auch für die steuerliche Gewinnermittlung bei Kapitalgesellschaften, da unterschiedliche Gewinnermittlungsgrundsätze je nach Rechtsform eines Unternehmens dem deutschen Steuerrecht fremd seien und dem steuerlichen Prinzip der gleichmäßigen steuerlichen Belastung zuwiderlaufen würden. Dies ermögliche zwar abweichende Bilanzierungsregeln für die Handelsbilanz und für die Steuerbilanz von Kapitalgesellschaften, doch sei mit dem Gesetzgeber und von Verfassungs wegen (Art. 3 GG) gleichen Bilanzierungsgrundsätzen für die steuerliche Gewinnermittlung - unabhängig von der Rechtsform - Vorrang zu geben.

       134. Das BPatG legte mit Beschluß vom 29.1.1998 (4 W (pat) 40/97 - GRUR Int. 1998, 614) dem EuGH nach Art. 177 lit. a EGV die Frage zur Vorabentscheidung vor, ob es mit den Grundsätzen der Art. 30 und 36 EGV vereinbar sei, daß die Wirkungen eines für einen Mitgliedstaat erteilten europäischen Patents als von Anfang an nicht eingetreten gelten würden, wenn der Patentinhaber dem Patentamt des Mitgliedstaats nicht binnen drei Monaten nach der Veröffentlichung des Hinweises auf die Erteilung eine Übersetzung der Patentschrift in der Amtssprache des Mitgliedstaates einreiche. Das deutsche Patentamt stellte fest, daß die Wirkungen des europäischen Patents der Beschwerdeführerin für die Bundesrepublik als von Anfang an nicht eingetreten gelten würden, weil die Patentinhaberin beim deutschen Patentamt nicht gem. Art. II § 3 Abs. 2, 3 IntPatÜG200 innerhalb von drei Monaten nach der Veröffentlichung des Hinweises auf die Erteilung des Europäischen Patents im Europäischen Patentblatt eine deutsche Übersetzung der Patentschrift eingereicht hatte. Das BPatG hegte Zweifel an der Vereinbarkeit der in Art. II § 3 Abs. 2 IntPatÜG vorgesehenen Sanktionen mit dem Gemeinschaftsrecht und führte dazu aus, daß europäische Patente zwar nach dem EPÜ201 nur in Deutsch, Englisch oder Französisch einzureichen seien, inzwischen aber nahezu alle Mitgliedstaaten von Art. 65 EPÜ Gebrauch gemacht hätten. Art. 65 EPÜ erlaube es, die Einreichung einer Übersetzung der Patentschrift zu verlangen. Ein bedeutender Teil der Industrie sei aber finanziell nicht in der Lage, für alle Vertragsstaaten des europäischen Patentsystems die Übersetzungskosten aufzubringen. Das Übersetzungserfordernis wirke sich damit auf den Zugang zum Europäischen Patentsystem als Hindernis aus, könne daher eine Maßnahme gleicher Wirkung i.S.d. Art. 30 und 36 EGV sein und sei insbesondere in der Verhältnismäßigkeit der Sanktion zu dem mit ihr verfolgten Zweck zweifelhaft. Nach Art. 36 EGV seien Einfuhrbeschränkungen auch nur zum Schutz des gewerblichen Eigentums gerechtfertigt, das Übersetzungserfordernis beeinträchtige und erschwere jedoch den Zugang zum Patentschutz nachhaltig.

       135. Das LG Kiel faßte am 1.9.1998 den Beschluß (15 O 134/98 - EuZW 1999, 29), dem EuGH zur Vorabentscheidung die Fragen vorzulegen, (1) ob die Vergütungen und Erstattungen der §§ 2-4 StromeinspeisungsG202 eine staatliche Beihilfe i.S.d. Art. 92 EGV seien, (2) ob der Beihilfebegriff des Art. 92 EGV auch Regelungen erfasse, die den Unternehmen einer Branche die Förderung des Zahlungsempfängers mittels gesetzlicher Abnahmepflichten zu Mindestpreisen auferlegen würden, (3) ob der Beihilfebegriff des Art. 92 EGV auch Regelungen zur Verteilung zwischen Unternehmen von Aufwendungen erfasse, die durch Abnahmepflichten und Mindestvergütungen entstanden seien, wenn die gesetzliche Konzeption faktisch eine dauerhafte Lastenverteilung ohne Gegenleistung für belastete Unternehmen vorsehe, (4) ob, sofern Frage 2 verneint werde, sich die Sperrwirkung des Art. 93 Abs. 3 EGV nicht nur auf die Förderung an sich, sondern auch auf Ausführungsregelungen wie § 4 StromeinspeisungsG erstrecke und (5) ob, sofern alle bisherigen Fragen verneint würden, mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen bzw. Maßnahmen gleicher Wirkung i.S.d. Art. 30 EGV vorliegen würden, wenn eine Regelung Unternehmen verpflichte, Strom aus regenerativen Energiequellen zu Mindestpreisen abzunehmen und Netzbetreiber ohne Gegenleistung zur Finanzierung heranziehe. Die Klägerin betrieb konventionelle Kraftwerke und Stromverteilungsnetze. Sie lieferte der Beklagten Strom, mit dem die Beklagte Schleswig-Holstein versorgte. Das StromeinspeisungsG verpflichtete die Beklagte, Strom aus regenerativen Energiequellen abzunehmen und zu vergüten. Einen Teil der Mehrbelastungen aus der Abnahmepflicht hatte sie gem. § 4 StromeinspeisungsG gegenüber der Klägerin geltend gemacht, die unter Vorbehalt Abschlagszahlungen geleistet hatte und nunmehr einen Teilbetrag zurückforderte. Das LG Kiel setzte den Rechtsstreit aus und ersuchte den EuGH um Vorabentscheidung der genannten Fragen, weil bei entsprechender Auslegung des Beihilfebegriffs in Art. 92 EGV ein Vorprüfungsverfahren gemäß Art. 93 Abs. 3 EGV vorgeschrieben sei, das der nationale Gesetzgeber nicht eingehalten habe. Die Beihilferegelung wäre dann unanwendbar und die bisher geleisteten Zahlungen wären abzuwickeln. Sei diese Form der Beihilfeleistung keine Beihilfe i.S.d. Art. 92 EGV, so könne der nationale Gesetzgeber den Schutz des einzelnen durch das Prüfungsverfahren des Art. 93 EGV unterlaufen und die gesamten Beihilfevorschriften umgehen, indem er die Finanzierung Unternehmen zwangsweise und ohne Gegenleistung auferlege. Sei eine Beihilfe anzunehmen, so sei weiter fraglich, ob die Kostenverteilungsregelung des § 4 StromeinspeisungsG als eigenständige Beihilferegelung von Art. 92 EGV erfaßt werde, weil diese sog. Härteklausel aufgrund der tatsächlichen Gegebenheiten zu einer dauerhaften Inanspruchnahme Dritter führe. Könne § 4 StromeinspeisungsG nicht als eigenständige Beihilferegelung qualifiziert werden, so sei aus dem gleichen Grund zu fragen, ob die Sperrwirkung des Art. 93 Abs. 3 EGV neben §§ 2 und 3 StromeinspeisungsG auch § 4 StromeinspeisungsG erfasse. Seien schließlich die Regelungen des StromeinspeisungsG nicht als Beihilfen einzuordnen, so könne die Abnahmepflicht der Unternehmen zu festgeschriebenen Mindestpreisen eine unzulässige "Maßnahme gleicher Wirkung" i.S.d. Art. 30 EGV sein, weil zumindest die Möglichkeit eines Nachfragerückgangs gegenüber Erzeugern aus anderen Mitgliedstaaten nicht auszuschließen sei.



      197 EuGH, Urteil vom 18.5.1993, Rs. C-126/91, Slg. 1993, 2361; Urteil vom 24.11.1993, Rs. C-267/91, Slg. 1993, 6097.
      198 Vierte Richtlinie 78/660/EWG des Rates vom 25.7.1978 aufgrund von Art. 54 Abs. 3 lit. g) des Vertrages über den Jahresabschluß von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen, ABlEG Nr. L 222 vom 14.8.1978, 11-31.
      199 BT-Drs. 10/4268, 88, 89.
      200 Gesetz über internationale Patentübereinkommen vom 21.6.1976, BGBl. 1976 II 649.
      201 Übereinkommen über die Erteilung europäischer Patente vom 5.10.1973.
      202 Gesetz über die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien in das öffentliche Netz vom 7.12.1990, BGBl. 1990 I 26, i.d.F. des Art. 3 Nr. 2 des Gesetzes zur Neuregelung des Energiewirtschaftsrechts vom 24.4.1998, BGBl. 1998 I 730 (734-736).