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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1999


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Ludger Radermacher


VII. Asylrecht

4. Rechtsstellung der Flüchtlinge

       21. In einem Urteil vom 15.11.1999 vertrat das OVG Münster (22 A 45/99 - NVwZ-RR 2000, 719) die Auffassung, daß Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens39 (EFA) für die in den Schutzbereich des Abkommens fallenden Ausländer, d.h. auch für Flüchtlinge i.S. der Genfer Flüchtlingskonvention, die Anwendung von § 120 Abs. 2 BSHG und § 120 Abs. 5 S. 2 BSHG ausschließt. Im Fall ging es um einen seit 1994 in Deutschland lebenden irakischen Staatsangehörigen, bei dem das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge das Bestehen eines Abschiebungshindernisses nach § 51 AuslG anerkannt hatte. Die dem Kläger zunächst gewährte Hilfe zum Lebensunterhalt sollte nach einer Ankündigung der Beklagten mit Verweis auf § 120 Abs. 5 S. 2 BSHG eingestellt werden. Die hiergegen eingelegten Rechtsmittel hatten in der Berufungsinstanz Erfolg. Das OVG führte aus, daß der Anwendung des § 120 Abs. 2 und Abs. 5 BSHG Art. 1 des EFA i.V.m. Art. 1 und 2 des Zusatzprotokolls zu diesem Abkommen40 entgegensteht. Art. 1 EFA enthalte die Verpflichtung des Vertragsstaates, die Angehörigen der anderen Vertragsstaaten, die sich auf seinem Gebiet erlaubt aufhielten und nicht über ausreichende Mittel verfügten, in gleicher Weise und unter den gleichen Bedingungen wie seinen eigenen Staatsangehörigen Leistungen der sozialen und der Gesundheitsfürsorge zu gewähren. Da Art. 2 des Zusatzprotokolls zum EFA bestimme, daß die Vorschriften des Teils I des Fürsorgeabkommens auf Flüchtlinge unter den gleichen Voraussetzungen Anwendung fänden wie auf die Staatsangehörigen der Vertragsstaaten, gehöre auch der Kläger als Flüchtling i.S. der Genfer Flüchtlingskonvention41 (§ 3 AsylVfG) zum geschützten Personenkreis. Es finde sich kein Ansatz im Wortlaut des Zusatzprotokolls für eine einschränkende Auslegung dergestalt, daß er sich nur auf Flüchtlinge bezöge, die in einem anderen als dem die Fürsorge gewährenden Vertragsstaat als Flüchtlinge anerkannt worden seien. Ein solches Verständnis hätte zur Folge, daß die Flüchtlinge sich bemühten, in einen anderen Vertragsstaat weiter zu wandern, um in den Genuß von Fürsorgeleistungen zu kommen. Zweck des Zusatzprotokolls sei es jedoch gerade, solche Wanderungsbewegungen zu vermeiden. Nach Art. 11 (a) S. 2 EFA dürfe die Fürsorge auch nicht deswegen versagt werden, weil der Kläger die rechtzeitige Verlängerung seiner Aufenthaltsbefugnis versäumt habe, da die Verlängerung lediglich infolge einer bloßen Nachlässigkeit unterblieben sei. Die gebotene einschränkende Auslegung der § 120 Abs. 2 und 120 Abs. 5 BSHG werde auch nicht durch die lex posterior Regel in Frage gestellt. Diese Regel sei nicht anwendbar, da sich keinerlei Gesichtspunkte dafür ergäben, daß der Gesetzgeber mit der Schaffung von § 120 Abs. 2 und Abs. 5 BSHG von dem sich aus dem EFA ergebenden völkerrechtlichen Verpflichtungen habe abweichen wollen. Hinsichtlich des von § 120 II BSHG erfaßten Personenkreis folge dies bereits daraus, daß die dort erfaßten Personen als Anspruchsinhaber auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sich in aller Regel gerade nicht erlaubt i.S. des EFA im Bundesgebiet aufhielten. Auch die Entstehungsgeschichte des § 120 Abs. 5 BSHG lasse erkennen, daß damit gerade nicht von völkerrechtlichen Verpflichtungen habe abgewichen werden sollen.

       Siehe zu diesen Fragestellungen auch die Entscheidungen des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (Beschluß vom 12.2.1999, 1 TG 404/99 - InfAuslR 1999, 245 ff.) und des VG Aachen (Beschluß vom 18.11.1999, 2 L 1166/99 - InfAuslR 2000, 85 ff.) mit im wesentlichen gleichlautenden Leitsätzen. Das VG Aachen unterstrich in seiner Entscheidung ergänzend, daß auf ein anders als seine Eltern nicht als Konventionsflüchtling anerkanntes Kind § 120 Abs. 5 BSHG bei verfassungskonformer Auslegung unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG ebenfalls keine Anwendung findet, da das Interesse am Zusammenleben von Mutter und Kind höher zu gewichten ist als das mit § 120 Abs. 5 BSHG verfolgte Interesse an einer gleichmäßigen Verteilung der Soziallasten zwischen den Ländern

       22. In seinem Urteil vom 24.11.1999 (5 A 193/99 - InfAuslR 2000, 140 ff.) erkannte das VG Osnabrück, daß eine Beschränkung der Aufenthaltsbefugnis bei Sozialhilfebezug auf den Bereich der zuständigen Ausländerbehörde (§ 12 Abs. 1 S. 2 AuslG) weder gegen Art. 26 der Genfer Konvention42 (Genf-Konv.) noch gegen Art. 2 Abs. 1 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK verstößt. Der Kläger, bei dem die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festgestellt wurden, wehrte sich mit der Anfechtungsklage vergeblich gegen die räumliche Beschränkung seiner Aufenthaltsbefugnis. Das VG unterstrich, daß eine solche Beschränkung auch nach Art. 26 der Genf-Konv. zulässig ist. Das dort gewährte Recht auf freie Wahl des Aufenthaltsortes und auf Freizügigkeit im Hoheitsgebiet des aufnehmenden Staates stehe unter dem Vorbehalt der Bestimmungen, die auf Ausländer allgemein unter den gleichen Umständen Anwendung fänden. Ausweislich der in Art. 6 der Genf-Konv. vorgenommenen Legaldefinition des Ausdrucks "unter den gleichen Umständen" sei dieser Begriff dahingehend zu verstehen, daß der Betreffende alle Erfordernisse erfüllen müsse, die er, wenn er nicht Flüchtling wäre, erfüllen müßte, um in den Genuß des in Betracht kommenden Rechts zu gelangen. Ausgenommen hiervon seien Erfordernisse, die Flüchtlinge ihrer Natur nach nicht erfüllen könnten. Die hier vorgenommene Beschränkung des Aufenthalts nach dem Kriterium der Sozialhilfebedürftigkeit ermögliche aber auch die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsbefugnisse solcher Ausländer, die nicht politische Flüchtlinge seien, sondern aus anderen Gründen eine Aufenthaltsbefugnis erhalten hätten. Auch das Protokoll Nr. 4 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 16.9.199343, nach dem jedermann, der sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhält, das Recht habe, sich dort frei zu bewegen und seinen Wohnsitz frei zu wählen, stehe der Anwendung des § 12 Abs. 1 S. 2 AuslG nicht entgegen. Der Aufenthalt des Klägers sei dort nämlich nur insoweit rechtmäßig, als er sich in den Grenzen der verliehenen Aufenthaltsbefugnis bewege.

       23. Nach dem Urteil des BVerwG vom 24.6.1999 (5 C 24.98 - DVBl. 2000, 629) schließen die Regelungen des AsylVfG und des AsylbLG die Gewährung von Jugendhilfe an Minderjährige nicht aus, da minderjährige Asylbegehrende jedenfalls nach Ablauf von 6 Monaten einen gewöhnlichen Aufenthalt i.S. von Art. 1 des Haager Minderjährigenschutzabkommens (MSA)44 begründen. Die klagende Stadt begehrte von dem Beklagten als überörtlichem Träger der Jugendhilfe gemäß § 89 d SGB VIII die Erstattung von Aufwendungen, die ihr durch die Inobhutnahme und anschließende Hilfe zur Erziehung für ein aus der Türkei stammendes Kind entstanden sind. Das BVerwG erkannte, daß die Gewährung der Jugendhilfe zu Recht erfolgt ist, weil der Hilfesuchende einen gewöhnlichen Aufenthalt i.S. des § 6 Abs. 2 SGB VIII oder des MSA gehabt hat. Das MSA modifiziere über § 6 Abs. 4 SGB VIII den für den Anspruch von Ausländern auf Jugendhilfe maßgeblichen Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts. Gemäß § 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 MSA hätten die Behörden des Staates, in dem der Minderjährige seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe, die nach ihrem innerstaatlichem Recht vorgesehenen Maßnahmen zum Schutz der Person des Minderjährigen zu treffen, wozu auch Maßnahmen der öffentlichen Jugendhilfe gehörten. Die Regelung des MSA habe für den dort geschützten Personenkreis im Verhältnis zur allgemeinen Regelung des § 6 Abs. 2 VIII SGB den Vorrang, Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts i.S. des Art. 1 MSA sei durch das OVG im Interesse einer möglichst gleichmäßigen Anwendung in allen Vertragsstaaten zutreffend autonom und unter Beachtung der Faustregel ausgelegt worden, daß der Aufenthalt eines Minderjährigen jedenfalls nach 6 Monaten zum gewöhnlichen Aufenthalt i.S. dieser Bestimmung erstarke.

       24. Das VG Neustadt erkannte mit Urteil vom 6.10.1999 (8K 37/99.NW - InfAuslR 2000, 293 ff.), daß das Kontingentsflüchtlingsgesetz (HumAG)45 im Rahmen des Verfahrens zur Aufnahme jüdischer Emigranten nur entsprechende Anwendung findet, so daß Modifizierungen im Hinblick auf die Besonderheiten des Verfahrens möglich seien. Ein allgemeiner Anspruch auf Umverteilung jüdischer Emigranten von einem Bundesland in ein anderes ergebe sich weder aus dem Grundgesetz noch aus dem Völkervertragsrecht. Die räumliche Beschränkung des Erhalts bestimmter Sozialleistungen sei weder verfassungs- noch völkerrechtlich zu beanstanden. Zugrunde lag dem Fall folgender Sachverhalt: Die Kläger, jüdische Emigranten aus der Ukraine und Moldavien, erhielten 1994 einen Aufnahmebescheid des Bundesverwaltungsamtes und wurden zugleich dem Freistaat Sachsen zugewiesen. 1997 wurden ihnen unbefristete Aufenthaltserlaubnisse unter Hinzufügung der Nebenbestimmung "Wohnsitznahme Freistaat Sachsen" erteilt. 1998 beantragten die Kläger die Umsiedlung vom Freistaat Sachsen in das Bundesland Rheinland-Pfalz. Die Klage blieb erfolglos. Das VG führte aus, daß die Aufnahme jüdischer Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion keine gesetzliche Sonderregelung gefunden hat, sondern auf einer zwischen den Ministerpräsidenten der Länder und der Bundesregierung am 9. Januar 1991 vereinbarten Verwaltungspraxis beruht. Hiernach solle die Aufnahme entsprechend den Vorschriften des Gesetzes über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommener Flüchtlinge erfolgen. Aus dieser nur entsprechenden Anwendung folge, daß die Vorschriften des HumAG nur mit bestimmten Modifizierungen entsprechend den Besonderheiten des Verfahrens gelten sollten. Hierfür spreche auch, daß das HumAG nicht allgemein für Ausländer gelte, sondern nur für ausländische Flüchtlinge. Im vorliegenden Aufnahmeverfahren sei auf eine qualifizierte Prüfung hinsichtlich des Vorliegens einer Flüchtlingseigenschaft jedoch gerade verzichtet worden. Infolge der Freiwilligkeit der Aufnahme wohne dem Verfahren ein quasivertragliches Element inne, daß den jeweiligen Antragstellern die Pflicht aufgäbe, sich an die Bedingungen des Programms zu halten. Auch folge kein Anspruch aus Art. 26 der Genfer Konvention46, wonach jeder Staat den sich regelmäßig in seinem Gebiet befindlichen Flüchtlingen das Recht zur freien Wahl des Aufenthaltsortes zu gewähren habe. Dieses Recht sei nämlich nur vorbehaltlich der Bestimmungen, die allgemein auf Ausländer unter den gleichen Bedingungen Anwendung fänden, gewährt. Relevante Vergleichsgruppe seien aber nicht die anerkannten Asylbewerber, sondern die jüdischen Emigranten aus der ehemaligen UdSSR, für die eine Beschränkung der Aufenthaltsbefugnis auf ein Bundesland generell gelte. Ebenso wie es verfassungs- und völkerrechtlich zulässig sei, daß Konventionsflüchtlinge räumliche Beschränkungen beim Bezug von Sozialhilfe hinnehmen müßten, gelte der dabei zugrundeliegende Gedanke einer angemessenen Lastenverteilung zwischen den Bundesländern erst recht im Falle der lediglich freiwillig aufgenommenen Kläger. Ein Verstoß gegen Art. 23 der Genfer Konvention mit der postulierten Verpflichtung zur Gleichbehandlung der Flüchtlinge auf dem Gebiet der öffentlichen Fürsorge und der sonstigen Hilfeleistungen könne schon deshalb nicht vorliegen, weil den Emigranten lediglich zugemutet werde, diese Leistungen bei einem bestimmten Sozialhilfeträger geltend zu machen. Nichts anderes folge aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen bzw. aus dem entsprechenden Zustimmungsgesetz vom 11.12.1953 und dem Zusatzprotokoll47, da die Ukraine und Moldavien keine Vertragsparteien des Fürsorgeabkommens seien. Art. 2 Abs. 1 des Vierten Zusatzprotokolls zur EMRK vom 16.9.196348 sei deshalb nicht verletzt, weil weder die Reisefreiheit noch das Recht der freien Wohnsitznahme berührt seien. Die Beschränkung auf den Freistaat Sachsen gelte nämlich nur insoweit und solange, als die Kläger Sozialhilfe und die besonderen Eingliederungshilfen erhielten.




      39 Europäisches Fürsorgeabkommen (EFA) vom 11.12.1953, BGBl. 1956 II 564.

      40 BGBl. 1956 II 578.

      41 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951, BGBl. 1953 II 560.

      42 Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28.7.1951, BGBl. 1953 II 560.

      43 BGBl. 1968 II, 423, 1109.

      44 Übereinkommen über die Zuständigkeit und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 5.10.1961. Beitritt der Bundesrepublik durch Gesetz vom 30.4.1971, BGBl. I 217.

      45 Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommener Flüchtlinge vom 22.7.1980, BGBl. 1989 I 1057, zuletzt geändert durch Art. 5 des Gesetzes vom 9.7.1990, BGBl. 1990 I 1354.

      46 Abkommen vom 28.7.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. 1953 II, 559 ff.

      47 BGBl. 1956 II, 562 ff.

      48 BGBl. 1968 II, 423.