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Tätigkeitsbericht für das Jahr 2000


II. Forschungsvorhaben

D. Vereinte Nationen

2. Selbstverteidigung und kollektive Sicherheit (Dissertation)

Mit Selbstverteidigungsrecht und kollektivem Sicherheitssystem stehen sich nicht nur zwei Rechtsinstitute gegenüber, sondern auch zwei Ordnungsmodelle, deren Widerstreit das Völkerrecht seit langer Zeit, besonders aber im zwanzigsten Jahrhundert geprägt hat: Das Selbstverteidigungsrecht repräsentiert die „alte“ Ordnung des klassischen Völkerrechts, in dem Staaten ihre Herrschaftsbereiche gegeneinander abzugrenzen suchten und mangels Alternative darauf angewiesen waren, ihre Rechte selbst und notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Das System kollektiver Sicherheit hingegen verkörpert die Idee der internationalen Organisation: die „neue“ Ordnung, in der Staaten nicht nur koexistieren, sondern kooperieren, und in der sie auf Institutionen zurückgreifen können, um Streitigkeiten beizulegen und den Frieden zu sichern.

Vor diesem Hintergrund versucht die Dissertation von Nico Krisch, das Verhältnis von Selbstverteidigungsrecht und kollektivem Sicherheitssystem im gegenwärtigen Völkerrecht näher zu bestimmen. Sie zeigt, daß dieses Verhältnis eng mit einem grundlegenden Wandel der Idee kollektiver Sicherheit verknüpft ist. Sah man kollektive Sicherheit ursprünglich am besten in einem Mechanismus verwirklicht, der jeden Aggressor mit vereinten Kräften zurückschlägt und alle Staaten zur Verteidigung des Angegriffenen mobilisiert, so rückte man davon bereits bald nach Gründung des Völkerbunds ab. In den Vordergrund traten präventive Maßnahmen wie etwa Waffenstillstandsanordnungen, die den Ausbruch eines Kriegs verhindern bzw. ihn im Keim ersticken sollten. Die vorherige Feststellung des Aggressors sollte hierfür nicht mehr nötig sein; Maßnahmen sollten vielmehr an beide Kriegsparteien gerichtet werden können, unabhängig von ihrer Verantwortlichkeit für den Konflikt. Obwohl diese Betonung präventiven Handelns gegenüber dem klassischen Konzept kollektiver Sicherheit einige Defizite aufwies - insbesondere hinsichtlich der Berechenbarkeit der kollektiven Reaktion -, erschien sie doch als die praktikablere und erfolgversprechendere Alternative. Daß es damit zu Einschränkungen der Verteidigungsmöglichkeiten eines angegriffenen Staates kommen konnte, wurde um der Friedenssicherung willen hingenommen. Eine rechtliche Fixierung fand die gewandelte Vorstellung allerdings vor dem Zweiten Weltkrieg nicht.

Diese neue Konzeption kollektiver Sicherheit, die eine schnelle Friedenssicherung der Verteidigung des angegriffenen Staates vorordnete, bildete nach Ende des Kriegs jedoch die Grundlage für die Charta der Vereinten Nationen. Das Verhältnis zum Selbstverteidigungsrecht ist in ihr allerdings nicht eindeutig geregelt. Zwar sieht Art. 51 der Charta vor, daß ein angegriffener Staat sich nur solange verteidigen kann, „bis der Sicherheitsrat die zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit erforderlichen Maßnahmen getroffen hat“. Und er legt fest, daß Selbstverteidigungshandlungen eines Staats den Sicherheitsrat in keiner Weise in der Erfüllung seiner Verantwortung für den Weltfrieden beeinträchtigen sollen. Gleichzeitig jedoch betont Art. 51 den „naturgegebenen“ Charakter des Selbstverteidigungsrechts und deutet damit auf eine besondere Stellung der Selbstverteidigung im Völkerrecht hin. Damit bleibt es nach dem Text der Charta unklar, unter welchen Bedingungen der UN-Sicherheitsrat das Selbstverteidigungsrecht eines Staates um der Friedenssicherung willen beschränken kann.

Diese Bedingungen werden in der Dissertation auf der Grundlage einer eingehenden Analyse von Text, Systematik und Entstehungsgeschichte der Charta sowie der Staatenpraxis seit 1945 näher bestimmt. Die Entstehung der Charta zeigt dabei zwar deutlich das Grundkonzept kollektiver Sicherheit und die herausragende Stellung des Sicherheitsrats, läßt jedoch die einzelnen Fragen des Verhältnisses zum Selbstverteidigungsrecht weitgehend offen. Weitergehende Einsichten erlaubt die Praxisanalyse, in deren Zentrum Fälle stehen, in denen der Sicherheitsrat das Selbstverteidigungsrecht eines Staates durch die Anordnung eines Waffenstillstands beschränkt hat. Insbesondere anhand der Kriege zwischen Iran und Irak sowie zwischen Eritrea und Äthiopien läßt sich zeigen, daß die Staatenpraxis es im Grundsatz akzeptiert hat, daß der Sicherheitsrat das Selbstverteidigungsrecht eines Staates einschränken kann, ohne ihm dafür gleichwertigen Ersatz durch kollektive Maßnahmen zu bieten. Besondere Aufmerksamkeit finden neben diesen Fällen der zweite Golfkrieg sowie der Krieg in Bosnien, in denen sowohl inner- als auch außerhalb des Sicherheitsrats intensive Diskussionen über die relevanten Fragen geführt wurden. Gerade in letzterem ist es zwischen den Staaten zu erheblichem Streit darüber gekommen, welche Grenzen der Sicherheitsrat einhalten muß, wenn er einen Staat zum Zwecke der Eindämmung des Konflikts an der Ausübung seines Verteidigungsrechts - hier durch ein Waffenembargo - hindert. Daß er dies im Grundsatz darf, war dabei unbestritten; Gegenstand der Auseinandersetzung war allein die Frage, ob dies auch noch gilt, wenn der verteidigende Staat dadurch in existentielle Not gerät.

Die Untersuchung von Nico Krisch führt auf der Grundlage dieser Staatenpraxis und der Analyse von Text und Systematik der Charta im Grundsatz zu dem Ergebnis, daß das System kollektiver Sicherheit dem Selbstverteidigungsrecht sehr weitgehend übergeordnet ist. Dies zeigt sich insbesondere daran, daß der Sicherheitsrat letzteres auch dann einschränken kann, wenn er dem Staat keinen Ersatz für dessen Verteidigungshandlungen bietet, sondern mit seinen Maßnahmen andere Ziele verfolgt - etwa die schnelle Beendigung oder Eindämmung eines Konflikts oder den Schutz der betroffenen Zivilbevölkerung vor extremem Leiden. Wie es ihrer Grundkonzeption kollektiver Sicherheit entspricht, räumt die Charta dem Interesse an effektiver Friedenssicherung den Vorrang ein und läßt dem Selbstverteidigungsrecht nurmehr eine subsidiäre und provisorische Rolle zukommen. Frieden heißt für sie nicht mehr allein Sicherheit der Staaten, sondern gerade auch die Bewahrung von „künftigen Generationen“, von Menschen, vor den Folgen bewaffneter Konflikte.

Zur Einschränkung des Selbstverteidigungsrecht führt gleichwohl nicht jede Maßnahme des Sicherheitsrats, sondern nur solche, die als „effektiv“ gelten können. Die Effektivität einer Maßnahme bemißt sich allerdings nicht an ihrer Wirkung zugunsten des angegriffenen Staats, sondern allein an derjenigen zum Schutz des Weltfriedens in einem breiteren Sinne. Da der Sicherheitsrat zudem bei der Beurteilung, ob eine Maßnahme hinreichend effektiv ist, einen erheblichen Beurteilungsspielraum genießt, kann die Konzeption der Charta zu sehr weitreichenden, ersatzlosen Einschränkungen des Selbstverteidigungsrechts zum Zwecke der Friedenssicherung führen. Die Charta zieht dem Sicherheitsrat insofern eher prozedurale denn substantielle Grenzen.

Dies gilt allerdings nur für den von der Charta in den Blick genommenen Normalfall, in dem staatliche Rechtspositionen allein vorübergehend und nicht schwerwiegend beeinträchtigt werden. Denn die Charta verleiht dem Sicherheitsrat seine sehr weitreichenden Befugnisse nur unter der Bedingung, daß er sich im Rahmen „polizeilicher“, provisorischer Maßnahmen hält, die endgültige Regelung eines Streits aber den Parteien überläßt. Nur auf dieser Grundlage entbindet sie den Rat für Zwangsmaßnahmen von der Beachtung des allgemeinen Völkerrechts; nur deswegen ist es ihm gestattet, Zwangsmaßnahmen ohne Rücksicht darauf zu ergreifen, wer im Recht ist und wer nicht; und nur deshalb darf er das Selbstverteidigungsrecht eines Staates in so weitem Maße einschränken. Nicht immer aber lassen sich polizeiliche Zwangsmaßnahmen und friedliche Streitbeilegung derart klar trennen; oft haben Zwangsmaßnahmen zumindest faktisch präjudizielle Wirkung für spätere Verhandlungen der Parteien. Diese Wirkung läßt sich nicht immer vermeiden, wenn nicht auch das Ziel der Friedenswahrung aufgegeben werden soll, wie sich etwa im bosnischen Konflikt gezeigt hat. Friedenswahrung und Erhalt staatlicher Rechte sind dann nicht zugleich zu erreichen; sie treten in einen erheblichen Konflikt, der von der Charta nicht geregelt ist. Diese weist damit eine entscheidende Lücke auf: Die Frage, ob der Sicherheitsrat zur effektiven Friedenssicherung auch die Integrität oder Existenz eines Staats dauerhaft in Gefahr bringen darf, entscheidet sie nicht.

Dementsprechend widmet sich der letzte Teil der Dissertation der Suche nach Maßstäben zur Ausfüllung dieser Lücke. Dabei scheint es zunächst, als dürfe sie allein zugunsten der staatlichen Integrität geschlossen werden, weil das Selbstverteidigungsrecht bereits nach der Charta „naturgegeben“ und das Recht der Staaten auf Existenzerhaltung vom Völkerrecht absolut gewährleistet ist. Dies trifft aber nicht zu: Denn die „Naturgegebenheit“ verweist allenfalls auf den gewohnheitsrechtlichen Charakter des Selbstverteidigungsrechts, nicht jedoch auf seinen höheren Rang im Völkerrecht. Es ist nicht ius cogens, weil dadurch nur Interessen der Staatengemeinschaft als ganzer geschützt werden, das Selbstverteidigungsrecht aber primär im Interesse des einzelnen Staates liegt; auch die Staatenpraxis hat einen zwingenden Charakter des Rechts nicht anerkannt. Selbstverteidigungsrecht und staatliche Integrität sind aber auch anderweitig nicht besonders geschützt: Das Völkerrecht erlaubt den Staaten, diese Rechte einzuschränken oder aufzugeben, und es ist nicht undenkbar, daß sie dies mit ihrer Zustimmung zur UN-Charta getan haben; in anderen Feldern haben sie ihre Integrität der Friedenswahrung ebenfalls nachgeordnet. Nicht einmal die staatliche Existenz ist absolut geschützt: Dem Völkerrecht liegt ein formaler Souveränitätsbegriff zugrunde, der Staaten die eigene Aufgabe ebenso erlaubt wie die Übertragung einer entsprechenden Befugnis auf ein zwischenstaatliches Organ. Damit ist das staatliche Existenzrecht auch nicht dem individuellen Lebensrecht vergleichbar: Dessen besonderer Schutz basiert auf dem Gedanken der Würde des Menschen, der auf den Staat nicht übertragbar ist.

Eine Befugnis des Sicherheitsrats, die staatliche Integrität in Gefahr zu bringen, stößt damit nicht auf grundsätzliche Hindernisse. Sie rechtfertigt sich letztlich durch Rekurs auf den Notstandsgedanken, der es erlaubt, in ein Rechtsgut um eines höheren Rechtsguts willen einzugreifen. Aus diesem Gedanken ergeben sich auch die Grenzen der Befugnis: Sie darf allenfalls im Ausnahmefall ausgeübt werden, und nur dann, wenn dies um eines höherwertigen Rechtsguts willen zwingend erforderlich ist. Dabei mag die Höherwertigkeit des zu schützenden Rechtsguts in manchen Fällen zweifelhaft sein. Der Schutz einer größeren Anzahl von Staaten wird dafür ausreichen; der Schutz der Bevölkerung vor weiterem Leid jedoch dürfte in einem staatenzentrierten Völkerrecht allenfalls eine Gefährdung der Integrität eines Staats, nicht aber eine solche seiner Existenz rechtfertigen. Anders liegt es, wenn man das Völkerrecht nicht als Staatenrecht, sondern als kosmopolitisches oder als Recht der Völker versteht; gerade für letzteres gibt es gute Gründe. Dann wird der Erhalt des Staates nicht in jedem Fall Vorrang vor dem Schutz der Bevölkerung beanspruchen können.

Eine allzu extensive Wahrnehmung dieser Befugnisse durch den Sicherheitsrat würde allerdings erhebliche Gefahren schaffen: Sie könnte eine Politik des Appeasement zum Standard machen, Aggressoren ermutigen und das zwischenstaatliche Gewaltverbot erheblich schwächen. Daß der Rat rechtlich nicht gehindert ist, die Integrität und gar Existenz eines Staates dauerhaft in Gefahr zu bringen, heißt noch nicht, daß dies auch politisch zweckmäßig ist - nur überläßt die Charta die Definition des jeweils Zweckmäßigen weitgehend dem Sicherheitsrat. In jedem Fall aber müssen solch weitgehende Maßnahmen die Ausnahme bleiben, und langfristig wird auf einen Zustand hinzuwirken sein, in dem Frieden durch, nicht gegen das Völkerrecht geschaffen wird.

Die in der Dissertation von Nico Krisch festgestellte weitgehende Überordnung des kollektiven Friedenssicherungssystems über das Selbstverteidigungsrecht der Staaten läßt bedeutsame Schlüsse für den bereits eingangs genannten völkerrechtlichen Grundkonflikt zu. Denn hieran zeigt sich, daß das Völkerrecht in sehr großem Maße die Idee der internationalen Organisation dem System der isolierten Einzelstaaten vorzieht, und daß es dem Gemeinschaftsinteresse am Frieden auch im Konflikt mit einem zentralen einzelstaatlichen Recht den Vorrang einräumt. Das Verhältnis von Selbstverteidigung und kollektiver Sicherheit verdeutlicht damit, wie weit der in vieler Hinsicht zu beobachtende Prozeß der Konstitutionalisierung des Völkerrechts bereits fortgeschritten ist. Die damit einhergehende Überordnung des am Menschen orientierten Ziels der Friedenssicherung über das staatliche Sicherheitsinteresse legt es zudem nahe, die Grundlagen des Völkerrechts zu überdenken. Denn diese Überordnung läßt sich erheblich leichter erklären, wenn nicht Staaten, sondern Menschen oder Völker als letzte Bezugspunkte des Völkerrechts angesehen werden.



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