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Tätigkeitsbericht für das Jahr 2003


II. Abgeschlossene Forschungsvorhaben

G. Europarecht

4. Parlamente im Exelutivföderalismus (Dissertation)

Die in den Beiträgen zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht erscheinende Dissertation von Philipp Dann beschäftigt sich mit Struktur und Problemen parlamentarischer Demokratie in der Europäischen Union. Gegenstand der Untersuchung ist sowohl das Europäische Parlament als auch die nationalen Parlamenten sofern sie in europäischen Angelegenheiten mitwirken. Allerdings werden diese parlamentarischen Organe nicht isoliert und für sich betrachtet, sondern in ihrem Zusammenspiel mit der europäischen Institutionenordnung. Als zentrales Merkmal dieser Ordnung tritt ihr föderaler Charakter hervor. Insbesondere erweist sich die Kooperation von exekutiven Akteuren, durch eine verschränkte Kompetenzverteilung zwischen den Ebenen des föderalen Systems ausgelöst und im Ministerrat institutionell organisiert, als herausragendes Kennzeichen dieser Ordnung. Sie wird daher auch als Exekutivföderalismus bezeichnet. Die Frage nach den Chancen parlamentarischer Demokratie in der Union stellt sich insofern vor allem als eine Frage nach den Chancen parlamentarischer Akteure in einem Exekutivföderalismus dar. Daraus ergeben sich Titel und Untertitel der Arbeit: Parlamente im Exekutivföderalismus. Eine Studie zum Verhältnis von föderaler Ordnung und parlamentarischer Demokratie in der EU. Die Arbeit gliedert sich in drei Teile.

Der erste Teil widmet sich der Struktur und Funktionsweise des Exekutivföderalismus in der EU. Nach einer Klärung von Begrifflichkeiten und Methoden der Untersuchung werden zunächst verschiedene Strukturtypen von föderalen Ordnungen gegenübergestellt. Verglichen werden hier der am amerikanischen Beispiel illustrierte Trennföderalismus, die Schweizer Form eines Verflechtungsföderalismus sowie der auch in Deutschland existierende Exekutivföderalismus.

Auf dieser Grundlage setzt die Untersuchung sodann zu einer ausführlichen und komparativ angelegten Analyse der Kompetenzordnung in der EU sowie insbesondere des Ministerrates an. Insbesondere der Ministerrat rückt ins Zentrum des Interesses, wird er doch als institutioneller Kern des Exekutivföderalismus und damit als maßgeblicher Gegenspieler parlamentarischer Akteure erkannt. Die Analyse macht sich einen doppelten Vergleich zunutze. Sie stellt die europäischen Ausformungen des Exekutivföderalismus jeweils den deutschen Formen gegenüber, insbesondere dem reichsdeutschen Bundesrat von 1866/71 sowie dem Bundesrat der Bundesrepublik. Dadurch werden die strukturellen Konstanten dieses Organs im Rahmen einer exekutivföderalen Ordnung modelltheoretisch einzufangen versucht. Zudem wird der Blick auf die Eigenart der europäischen Form des Exekutivföderalismus geschärft. Hervor tritt dabei zunächst die gubernativ-bürokratische Doppelstruktur in der Besetzung und Organisation des Rates sowie die besondere Bedeutung des Ausschusses der Ständigen Vertreter. Offenbar wird bei der Analyse der Kompetenzen des Rates auch die weite Spanne seiner sowohl exekutiven wie legislativen Rechtsetzungsinstrumente. Schließlich tritt der besondere Modus der Entscheidungsfindung im Ministerrat (wie auch in den deutschen Bundesräten) hervor, nämlich die spezifische Form einer konsensualen und von bürokratischen Akteuren praktizierten konsensualen Verhandlungskultur.

Als Abschluß des ersten Teil wird schließlich ein erster Zusammenhang zwischen exekutivföderaler Ordnung und parlamentarischer Demokratie hergestellt, zunächst in Form eines ideengeschichtlichen Exkurs. Anhand der Schriften von Erich Kaufmann, Konrad Hesse, Gerhard Lehmbruch, Ernst-Wolfgang Böckenförde und Fritz W. Scharpf wird die alte deutsche Debatte über die Vereinbarkeit von parlamentarischer Demokratie und Exekutivföderalismus aufgegriffen. In der Auseinandersetzung mit diesen Schriften werden vier Strukturprobleme dieses Zusammenspiels identifiziert, die auf die Probleme der europäische Konstellation vorbereiten.

Der zweite Teil der Arbeit fragt sodann nach der Rolle der nationalen Parlamente in der Europäischen Union. Dazu werden zunächst Begriff und Konzeption parlamentarischer Kontrolle in unionswärtigen Angelegenheiten geklärt, die hier anders als in innerstaatlichen Zusammenhängen zu verstehen ist.

Dargestellt wird sodann die Rechtsstellung der nationalen Parlamente im europäischen Verfassungsrecht. Diese ist auf zwei Ebenen zu betrachten, nämlich einerseits als Stellung und Funktionen der Parlamente nach dem Unionsrecht und andererseits in den Organisationsformen und Mitwirkungsrechten der einzelstaatlichen Parlamente nach ihrem jeweiligen nationalen Verfassungsrecht. Hierbei wird die durchaus begrenzte Stellung der Parlamente, zugleich aber auch ein erstaunlicher Verfassungswandel und Reformschub in den vergangenen 15 Jahren offenbar.

Diese Versicherung über die Rechtslage bietet die Grundlage für die sodann folgende Untersuchung die Schwierigkeiten, welche der Mitwirkung der nationalen Parlamente an der europäischen Willensbildung entgegenstehen, insbesondere im Verhältnis von nationalen Parlamenten und Regierungen im Ministerrat. Da die nationalen Parlamente keine Organe der EU sind und im Grundsatz keine eigenen direkten Einflußrechte haben werden sie durch die Regierungen mediatisiert, welche direkt im Ministerrat vertreten sind. Nationalparlamentarische Kontrolle und Legitimation ergeben sich also allein aus dem Verhältnis der Parlamente zu den Regierungen im Rat. Wie problematisch und im Ergebnis eng begrenzt die Rolle der Parlamente trotz aller Reformen ist, wird sodann anhand von vier Problemkomplexen aufgezeigt und erläutert: Zunächst erweist sich die Mediatisierung selber als zentrales Problem, weil sie die nationalen Parlamente dazu zwingt, letztlich für sie fremde Verfahren zu kontrollieren. Informationsmangel, Zeitdruck und exekutiver Verhandlungsvorsprung sind die Folge. Ein zweites Problem nationalparlamentarischer Mitwirkung liegt in der Komplexität der Verfahren und der interinstitutionellen Verflechtung auf europäischer Ebene, die für die Parlamente ebenfalls schwer nachvollziehbar, geschweige denn zeit- und problemgerecht zu kontrollieren sind. Hinzu tritt als dritte Problemquelle die Nichtöffentlichkeit der Ratsverhandlungen, die sich zwar aus der Logik einer exekutivföderalen Verhandlungskultur erklären läßt, aber die Kontrolle durch die einzelstaatlichen Parlamente weiter erschwert. Ebenfalls aus der Struktur des Exekutivföderalismus erklärbar ist schließlich das vierte Problem, nämlich die konsensuale Entscheidungsform des Ministerrates.

Es wird offenbar, daß die Struktur des Exekutivföderalismus, welche die Vertretung der Mitgliedstaaten in der EU im Grundsatz den Exekutiven anvertraut, zugleich und in geradezu notwendiger Weise zur Wirkungslosigkeit der nationalen Parlamente führt. Diese finden sich in einem klassischen Dilemma wieder: Sie können zwar ihre Kontrolle verschärfen, gefährden damit aber die Funktionsfähigkeit der unionalen Entscheidungsabläufe. Nationalparlamentarische Legitimation und unionale Effizienz, so das Fazit des zweiten Teils, konterkarieren sich.

Damit richtet sich das Augenmerk auf die Rolle des Europäischen Parlaments. Ihm widmet sich der dritte Teil der Arbeit. Vorbemerkungen führen auch hier in den Stand der Forschungslage zum EP ein. Dabei wird die Schwierigkeit deutlich, dieses neue Parlament kohärent zu erklären. Um zu seiner Analyse einen Vergleichsrahmen zu schaffen, werden drei verschiedene Strukturtypen von Parlamenten und Regierungssystemen skizziert. Begrifflichkeiten und Typologie werden unter Rückgriff auf die Arbeiten von Max Weber und Winfried Steffani entwickelt, welche die Typen des Rede- und des Arbeitsparlaments unterschieden haben. Diese werden sodann knapp illustriert am britischen System und dem Unterhaus als Beispiel eines Redeparlaments im klassisch parlamentarischen System, am Kongreß und dem amerikanischen Regierungssystem, welche zur Demonstration der Rolle eines Arbeitsparlaments in einem präsidialen System dienen, sowie schließlich am Reichstag des Kaiserreiches, Beispiel eines Arbeitsparlaments in einem Exekutivföderalismus.

Vor dem Hintergrund dieser Typologie wird das EP in seiner organisatorischen Gestalt und in seinen vier zentralen Funktionen analysiert und mit den Parlamentstypen verglichen. Dabei tritt zunächst die Kreationsfunktion des EP in den Blickpunkt. Diese wird als eine negative` Kreationsfunktion charakterisiert, da das EP zwar bislang nicht autonom die Kommission bestellen kann; es kann diese aber autonom ihres Amtes entheben. Insofern nimmt das EP hier, typologisch betrachtet, eine Mittelstellung zwischen Rede- und Arbeitsparlament ein.

Bei der Analyse der Kontrollfunktion zeigt sich das EP sodann jedoch als Arbeitsparlament. Zwar verfügt das Parlament auch über Instrumente zur Kontrolle durch Öffentlichkeit, wie es typisch ist für Redeparlamente. Effektiv wird seine Kontrolle aber durch Ausschüsse organisiert, unterstützt von einem vergleichsweise gut ausgebildeten System wissenschaftlicher Hilfsdienste. Hier erweist sich das EP als geradezu klassisches Arbeitsparlament.

Diese Charakterisierung bestätigt sich auch in der Untersuchung seiner Rechtsetzungskompetenzen. Hier zeigt sich das EP als geeigneter Akteur in auf interinstitutioneller Kooperation angelegten Verfahren. Nicht die Durchsetzung der Politik einer parteipolitischen organisierten parlamentarischen Mehrheit kennzeichnet Rechtsetzung in der EU, sondern die kooperative Suche nach Kompromissen und Paketen zwischen Parteien, Staaten und Organen. Auch insofern ist das EP eindeutig als Arbeitsparlament zu kennzeichnen.

Ein besonderes Manko dieses Typs von Parlament wird in der zuletzt untersuchten Repräsentationsfunktion erkennbar. Hier zeigt sich, daß Arbeitsparlamente einen strukturell problematischeren Zugang zu den Wahlbürgern haben, da sie kaum als Forum der Nation und große Bühne nationaler Debatten funktionieren. Allerdings ist dieses Problem in der EU noch dadurch verschärft, daß sich bislang weder europäische Parteien noch in ihren Wahlkreisen verankerte Abgeordnete als zuverlässige Mittler zwischen Wahlvolk und Parlament erwiesen haben.

Dieser Mangel in der Repräsentationsfunktion ändert jedoch nichts an der Schlußfolgerung, das EP typologisch als ein Arbeitsparlament zu begreifen. Es ändert auch nichts daran, daß sich das EP, nach dem Ergebnis der Arbeit, viel eher als die nationalen Parlamente als der Garant parlamentarischer Mitwirkung und Legitimationsvermittlung auf europäischer Ebene erweist.