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Tätigkeitsbericht für das Jahr 2003


XI. Symposien und Tagungen

D. Internationaler Workshop über "Die neuen transatlantischen Spannungen und das Kagan-Phänomen"

Ist es tatsächlich an der Zeit einzusehen, daß Europäer und US-Amerikaner nicht länger in ihrer Sicht auf die Welt übereinstimmen, ja nicht einmal mehr auf einer gemeinsamen Welt leben, weil Macht und Schwäche sie auseinanderdividieren, weil die einen im Dschungel, die anderen im Paradies zu Hause sind? Davon jedenfalls geht Robert Kagan vom US-Think-Tank "Carnegie Endowment for International Peace" in seinem jetzt auch auf Deutsch erschienenen Essay "Macht und Ohnmacht" (Siedler) aus, der mit dieser These eine seit Monaten nicht abreißende transatlantische Debatte mit angestoßen hat, zu deren jüngsten Beiträgen auch der Essay des US-Journalisten Robert D. Kaplan gehört, der am 26. Juli 2003 in der Zeitung "Die Welt" erschien.

Die These Kagans vom transatlantischen Werte- und Weltunterschied wurde am 1. August 2003 in einem vom German Law Journal (http://www.germanlawjournal.com) am Institut ausgerichteten und von der Robert-Bosch-Stiftung finanzierten Workshop zum Anlaß einer ausführlichen Auseinandersetzung genommen. Unter dem Arbeitstitel "Die neuen transatlantischen Spannungen und das Kagan-Phänomen" erhellten deutsche und US-amerikanische Juristen den politischen und völkerrechtlichen Kontext der Thesen Kagans.

Zu Beginn pointierte Prof. Craig Smith von der Vanderbilt University Law School die drei zentralen Thesen, die Kagan bereits im Sommer 2002 in seinem Essay "Power and Weakness" (in Policy Review 113) vorgestellt und nun in seinem Buch weiter ausgeführt hatte. Danach seien hauptsächlich die folgenden Umstände für die derzeitigen Spannungen zwischen den Vereinigten Staaten und Europa verantwortlich: Das enorme militärische Machtgefälle zwischen den beiden Erdteilen und die Folgen für Strategie und Psychologie, die Unerfahrenheit der USA mit multilateralen Mechanismen der Konfliktbewältigung und der Friedenssicherung sowie die Doppelrolle, welche die USA als Mitglied und Beschützer der westlichen, friedlichen, paradiesischen' Welt einerseits und als Akteur in der als Dschungel' bezeichneten, gefährlichen Welt andererseits einzunehmen habe.

Im Anschluß gelang es Dr. Andreas Paulus von der Universität München und Gastprofessor an der University of Michigan Law School, hinter den von Kagan eingeführten Begriffspaaren und Antinomien die Grundlegung eines diese Polarisierung erst ermöglichenden Ausnahmezustands aufzudecken. Dieser ist bekanntlicherweise durch seine eigene Grundlosigkeit charakterisiert wie auch durch die letztendlich willkürliche Definition der sich in ihm ergebenden Wahlmöglichkeiten. Im Ausnahmezustand der vermeintlich allgegenwärtigen und mit normalen' Mitteln nicht mehr beantwortbaren terroristischen Bedrohung markieren die Alternativen von Begriffen wie "Paradies" und "Dschungel", "Recht" und "Macht", "Unilateralismus" und "Multilateralismus", "Prävention" und "Repression" immer schon die Einschränkung des Analyserahmens und damit die Festlegung jeder Auseinandersetzung auf "Pro" oder "Contra", nicht länger aber dient die öffentliche Debatte der Suche nach Gründen und historischen Umständen.

Prof. Rebecca Bratspies von der Michigan State University führte in ihrem Referat diesen Gedankengang in der besten Tradition der rechtstheoretischen Schule des Legal Realism fort. Sie durchleuchtete die kraftvollen und selbstsicheren Forderungen Kagans nach mehr Entschlußfähigkeit und Entscheidungskraft der Europäer und kam zu dem Ergebnis, daß die von Kagan propagierte "Unausweichlichkeit" militärischer Stärke als Antwort der vermeintlich allein von den USA wahrgenommenen weltweiten Bedrohungen letzten Endes nur der Legitimation einer nicht länger der Kritik zugänglichen Präventionspolitik diene. Kagans einseitige Charakterisierung internationaler Politik nach dem Kalten Krieg als "Kampf gegen den Terrorismus" münde in eine quasi naturrechtliche Legitimation neuer Machtpolitik, ohne aber auch nur im Ansatz die im In- und Ausland geäußerte Kritik zur Kenntnis zu nehmen. So sei jeder Versuch der Erweiterung des Blicks auf Alternativen des Staatsdenkens wie auch auf die Eigenart der "neuen Kriege" (Kaldor; Münkler) von vorne herein zum Scheitern verurteilt, denn jenen Wortführern werde momentan lediglich die Frage gestellt (und damit der Vorwurf gemacht) sie seien "with the terrorists". Damit verliere aber auch die allem vorangestellte These von der angeblich grundsätzlichen Verschiedenheit der Amerikaner und der Europäer jegliche Bedeutung: die Zuschreibung und Unterscheidung bestimmter Handlungsmuster diene Kagan nicht der Kritik und dem besseren Verständnis unterschiedlicher Sichtweisen auf Politik und politisches Handeln, sondern lediglich dem silencing alternativer Sichtweisen.

Ebrahim Afsah vom Institut stellte Kagans Thesen in den Kontext der politischen Bekenntnisse der unter Reagan aufgewachsenen und nach einem Reifeprozeß in Denk- und Ideologiefabriken während der achtjährigen Clinton-Präsidentschaft groß gewordenen jetzigen Beratern der Bush-Administration. Diese hätten zunächst ein seit den 1980er Jahren bestehendes Machtvakuum innerhalb der Republikanischen Partei gefüllt, um nun (allen voran ihre prominenten Vertreter Richard Perle und Paul Wolfowitz) die ideologische Richtung der US-Außenpolitik zu bestimmen. Afsah warnte vor diesem Hintergrund eindringlich davor, Kagans Thesen wegen ihrer augenscheinlichen, bis zur Plattheit reichenden Simplifizierung der Freund-Feind-Beschreibung auf die leichte Schulter zu nehmen. Zu stark schon reflektierten die drastischen Äußerungen Kagans die seit einiger Zeit auch offiziell erklärte US-amerikanische außenpolitische Doktrin. Darüber hinaus sei diese Denkschule auch durch ihre Einbettung in moralische und religiöse Überzeugungen gut gegen aufgeklärte säkulare Kritik gewappnet. Insgesamt sei auch von jeder Verschwörungstheorie Abstand zu nehmen, nach der ein aus unterschiedlichen Gründen hilfloser Präsident in die Krallen von Falken geraten sei: vielmehr handele es sich bei der heutigen offiziellen Pentagondoktrin um die drastischste Entwicklung der amerikanischen Außenpolitik seit den sechziger Jahren, nicht aber um die überraschend sich ereignende Radikalisierung eines unerwarteten Unilateralismus.

Das abschließende Referat von Prof. Miller vom University of Idaho, College of Law, stellte zunächst auf die Gefahren der zugegebenermaßen auf beiden Seiten des Atlantiks anzutreffenden Überheblichkeit in der jeweiligen Fremdbeschreibung ab: ohne ein wirkliches Verständnis des "Anderen" zu ermöglichen, werde vielmehr der Blick bereits auf das "Eigene" dauerhaft verstellt. In diesem Sinne konnte das von Miller gewählte Thema einer Jurisprudenz der Würde' die im gegenwärtigen Klima ganz unerwarteten Parallelen im amerikanischen und beispielsweise deutschen Rechtsdenken mit großem Erkenntnisgewinn herausstreichen: Am Beispiel der rechtlichen Argumentation des deutschen Bundesverfassungsgerichts und des Supreme Court der USA über die Zulässigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe einerseits und der Todesstrafe andererseits, zeigte sich eine bemerkenswerte Nähe im Bekenntnis zu einer dem Staat und seinem Strafanspruch vorausliegenden Menschenwürde. Beide Gerichte, so Miller, gäben in ihren Leitentscheidungen ein eindrucksvolles Zeugnis von dem starken politischen Willen, das Strafverfahren - jenseits der Entscheidung für oder gegen die Todesstrafe - an den Grundwert der Menschenwürde zu binden und somit einer Erosion des rechtsstaatlichen Schutzes im Verfahren Vorschub entgegen zu wirken. Die hiermit aufgezeigte kulturelle Nähe im juristischen Denken auf beiden Seiten des Atlantiks mag verstanden werden als vielversprechende mögliche Denkalternative zu dem heute so verbreiteten Denken in Dichotomien und Feindbildern.

In der anschließenden Diskussion wurde die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Thesen von Robert Kagan bestätigt und gleichzeitig gefordert, daß die Debatte im Verhältnis der transatlantischen Partner nicht gegeneinander und destruktiv nach den Gesetzen des Stärkeren, sondern konstruktiv unter Einbeziehung der gegenseitigen Schwächen zu führen sei.