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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 2000


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Carsten Stahn


IX. Internationaler Menschenrechtsschutz

1. Europäische Menschenrechtskonvention

b) Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK)

      50. In seiner Entscheidung vom 25.10.2000 (2 StR 232/00 = NJW 2001, 1146 = JZ 2001, 109156) erkannte der 2. Strafsenat des BGH die Möglichkeit eines Verfahrenshindernisses aufgrund rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung nach Art. 6 Abs. 1 EMRK an. Damit entwickelte der Senat die bisherige Rechtssprechung des BGH zur Verfahrensüberlänge fort. Dem Urteil lag ein Verfahren zugrunde, in welchem dem Angeklagten vorgeworfen wurde, er habe als Vorstand verschiedener miteinander verflochtener, von ihm beherrschter Gesellschaften in den Jahren 1984 bis 1986 in einer Vielzahl von Fällen Kapitalanleger beim Erwerb von Immobilien durch unzutreffende Behauptungen getäuscht und betrogen. Nach über siebenjährigen Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft und die Polizei war erst im August 1994 Anklage erhoben worden. Das Hauptverfahren wurde beim Landgericht Köln ohne weitere Ermittlungen im November 1994 eröffnet. Wegen Überlastung der zuständigen Wirtschaftsstrafkammer konnte die Hauptverhandlung jedoch erst im Januar 1999 beginnen. Nach 44 Verhandlungstagen stellte das LG die Hauptverhandlung aber mit der Begründung ein, es liege aufgrund langandauernder, vom Angeklagten nicht zu vertretender Verfahrensverzögerungen ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vor, der zu einem Verfahrenshindernis führe. Hiergehen wandte sich die Revision der Staatsanwaltschaft. Der BGH gab der Revision statt und hob das Urteil des LG auf, stellte aber klar, daß ein durch rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung bewirkter Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK in außergewöhnlichen Fällen zu einem Verfahrenshindernis führen kann. Der BGH führte aus, daß ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 wegen Verfahrensüberlänge für die Zulässigkeit des weiteren Verfahrens keine geringeren Folgen haben könne als der Verjährungseintritt, der einer Sachentscheidung sogar unabhängig von der konkreten Tatschuld entgegenstehe. Ferner stünden der Ansicht, eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK sei in außergewöhnlichen Sonderfällen als Verfahrenshindernis zu behandeln, weder der materiell-rechtliche Schuldgrundsatz entgegen, noch das Erfordernis, das Vorliegen des Hindernisses aufgrund einer umfassenden Gesamtwürdigung des Sachverhalts zu prüfen. Angesichts des Umstands, daß in dem insgesamt 13 � Jahre andauernden Verfahren die Grenze der absoluten Verjährung um mehr als drei Jahre überschritten sei und die Justiz das Verfahren seit Anklageerhebung über mindestens fünf Jahre lang nicht gefördert habe, liege ein Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK vor. Allerdings sei das Einstellungsurteil des LG Köln aufzuheben, da die Anerkennung eines Verfahrenshindernisses wegen Verfahrensverzögerung nicht dazu führen dürfe, daß ein Gericht das Verfahren ohne eine begründete und überprüfbare Entscheidung abbrechen könne. Die verfahrenseinstellende Entscheidung müsse es dem BGH ermöglichen, zu überprüfen, ob die Umstände des Einzelfalls so gelagert seien, daß der Verstoß gegen das Beschleunigungsverbot weder im Rahmen der Strafzumessung, noch durch Einstellung nach �� 153 a, 153 StPO ausgeglichen werden könne. Allein die Benennung der Umstände, welche einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK begründen, genüge dem Begründungserfordernis einer Verfahrenseinstellung nicht.




      56 Siehe auch die Anm. von H. Ostendorf/M. Radke, JZ 2001, 1094 ff.