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2001


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J. Christina Gille


II. Völkerrechtliche Verträge

1. Fortentwicklung und Änderung

      5. Mit Urteil vom 22.11.2001 (2 BvE 6/99 - BVerfGE 104, 126) stellte das BVerfG klar, daß die Fortentwicklung eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit i.S.d. Art. 24 Abs. 2 GG, die keine Vertragsänderung ist, keiner gesonderten Zustimmung des Bundestages bedarf, daß die Zustimmung der Bundesregierung zur Fortentwicklung eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit aber nicht die durch das Zustimmungsgesetz bestehende Ermächtigung und deren verfassungsrechtlichen Rahmen gemäß Art. 24 Abs. 2 GG überschreiten darf.

      In einem Organstreitverfahren hatte die Fraktion der PDS im Deutschen Bundestag beantragt festzustellen, daß die Bundesregierung mit ihrer Zustimmung zu den Beschlüssen über das neue strategische Konzept der NATO9 auf der Gipfelkonferenz der Staats- und Regierungschefs in Washington am 23. und 24.4.1999, ohne das verfassungsmäßig vorgeschriebene Zustimmungsverfahren beim Deutschen Bundestag einzuleiten, gegen Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG verstoßen und damit die Rechte des Deutschen Bundestages verletzt habe. Die Antragstellerin trug vor, daß das von der Bundesregierung am 23. und 24.4.1999 mitbeschlossene neue strategische Konzept der NATO, insbesondere dessen Bestimmungen zu den Voraussetzungen, unter denen Militäreinsätze der NATO möglich sind, auch wenn es sich nicht um einen Fall kollektiver Verteidigung i.S.d. Art. 5 NATO-Vertrag10 handelt, eine so erhebliche inhaltliche Änderung des NATO-Vertrags darstelle, daß eine Zustimmung des Bundestags in Gestalt eines Bundesgesetzes gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG hierfür erforderlich gewesen wäre. Das Zustimmungsgesetz vom 24.3.1955 zum ursprünglichen NATO-Vertrag umfasse nicht die neuen Aufgaben, die der NATO mit den Beschlüssen der Gipfelkonferenz 1999 übertragen worden seien. Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG müsse auch auf solche zwischenstaatliche Vereinbarungen Anwendung finden, die nicht in der äußeren Form eines völkerrechtlichen Vertrags oder einer ausdrücklichen Vertragsänderung beschlossen worden seien, aber gleichwohl für die Vertragsparteien Auswirkung von vergleichbarem Gewicht und vergleichbarer Intensität zeitigten.

      Das BVerfG wies den Antrag als zulässig aber unbegründet ab. Die Bundesregierung sei nicht verpflichtet gewesen, ein Zustimmungsverfahren zum neuen strategischen Konzept 1999 nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1, Art. 24 Abs. 2 GG einzuleiten. Der Beschluß über das neue strategische Konzept 1999 der NATO sei kein Vertrag, der die politischen Beziehungen des Bundes regele. Er finde vielmehr seine Rechtsgrundlage im NATO-Vertrag, dem die für die Bundesgesetzgebung zuständigen Körperschaften im Verfahren nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1, Art. 24 Abs. 2 GG zugestimmt hätten. Der Beschluß lasse weder einen Willen der Mitglieder erkennen, den bestehenden Vertrag förmlich abzuändern, noch sei der Inhalt des Beschlusses als objektive Änderung des bestehenden Vertragswerks anzusehen. Es sei in der internationalen wie in der nationalen Rechtsprechung anerkannt, daß ein Organakt einer internationalen Organisation zugleich einen Vertrag zwischen zwei oder mehr Mitgliedern der Organisation darstellen könne. Ob ein Dokument des internationalen Verkehrs ein völkerrechtlicher Vertrag sei, sei aus den Umständen zu schließen. Bezeichnung und Form der Annahme seien nicht maßgeblich. Auch ein Vertragsänderungsvertrag könne konkludent abgeschlossen werden. Das Fehlen einer Ratifikationsklausel sei aber Indiz gegen den Vertragscharakter, wenn auch hieraus allein nicht zwingend geschlossen werden könne, daß es an einem völkerrechtlichen Vertragsschluß fehle. Völkerrechtlich könne ein Staat vertragliche Verpflichtungen auch durch den Außenminister und andere typischerweise für die Außenrepräsentanz eines Staates zuständige Mitglieder der Exekutive eingehen, Art. 7 WVK11. Die Staaten seien darin frei, wie sie die Zustimmung, durch einen Vertrag gebunden sein zu wollen, zum Ausdruck bringen, Art. 11 WVK. Ratifikation durch das Parlament sei nur eine der völkerrechtlich zur Wahl stehenden Zustimmungsformen, Art. 14 WVK. Strengere, insbesondere an den Inhalt des Vertrags anknüpfende Anforderungen könnten sich insoweit allerdings aus nationalem Verfassungsrecht ergeben, wie dies etwa für die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG der Fall sei. Auch die gesamten Umstände der Annahme des neuen strategischen Konzepts 1999 ließen aber nicht auf einen rechtlichen Bindungswillen der Parteien schließen. Zwar spreche für einen solchen Bindungswillen die allseits hervorgehobene besondere Bedeutung des neuen strategischen Konzepts für die längerfristige Ausrichtung der NATO. Allein aus dem insoweit hochpolitischen Gegenstand des neuen strategischen Konzepts könne aber nicht auf einen Vertragsänderungswillen geschlossen werden. Das neue strategische Konzept sei ein Konsenspapier, in dem die neuen Aufgaben und Instrumente der NATO nur in allgemeiner Form beschrieben würden. Gegen die Vertragsnatur spreche vor allem der Wortlaut des neuen strategischen Konzepts, dessen Text weitgehend aus Schilderungen und Analysen der aktuellen politischen Lage im euro-atlantischen Raum und der neuen Gefahren, die sich daraus ergeben, sowie aus Absichtserklärungen bestehe, die zu allgemein gehalten seien, um aus dem Konzept als solchem vertragliche Verpflichtungen herzuleiten. Auch der Inhalt der Beschlüsse sei mangels objektiver Hinweise auf einen Abänderungswillen der Parteien nicht als konkludente Vertragsänderung anzusehen. Auf einen solchen könne geschlossen werden, wenn sich Festlegungen des strategischen Konzepts 1999 in einen nicht überwindbaren und deutlich erkennbaren Widerspruch zu dem im Vertrag definierten Einsatzbereich setzten, oder eine Erweiterung des Vertrages über den bisherigen Rahmen enthielten. Ohne Anhaltspunkte für einen entsprechenden subjektiven Bindungs- und Änderungswillen müsse der Widerspruch zum bestehenden Vertrag aber hinreichend deutlich im Beschluß zutage treten, um das Verfahren nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG auszulösen. Dies sei vorliegend aber nicht der Fall. Es handele sich insbesondere bei der Frage der Erweiterung des sicherheitspolitischen Ansatzes des Bündnisses auf Krisenreaktionseinsätze noch um eine Fortentwicklung des NATO-Vertrags, die sich jedenfalls nicht mit der für die Annahme eines konkludenten Vertragsänderungswillens nötigen Gewißheit als Widerspruch zum bestehenden Vertragsinhalt oder als dessen Erweiterung deuten lasse. Das neue strategische Konzept 1999 lasse die kollektive Verteidigungsfunktion des Bündnisses vielmehr unberührt und schreibe den in der Präambel des Vertrags niedergelegten Sicherheits- und Friedensauftrag des Bündnisses im Hinblick auf eine grundlegend neue Sicherheitslage fort. Ziel und Zweck der NATO sei weiterhin die Abwehr bzw. die Abschreckung einer Agression seitens eines dritten Staates.

      Eine bedeutsame, im Vertrag nicht implizierte Erweiterung der Aufgabenstellung finde sich allerdings in der Möglichkeit sogenannter Krisenreaktionseinsätze. Die der NATO nach dem neuen strategischen Konzept 1999 zukommenden Krisenreaktionsfähigkeiten stellten eine Funktion regionaler Sicherheit i.S. von Kapitel VIII VN-Charta12 dar, da sie Einsätze außerhalb des Bündnisgebiets vorsähen. Zentraler Begriff sei insoweit die Umschreibung eines "nicht unter Art. 5 (NATO-Vertrag) fallenden Krisenreaktionseinsatzes", also eines Einsatzes, der keinen Angriff auf das Territorium eines Vertragsstaats voraussetze. Bei der Krisenreaktion in diesem Sinne handele es sich entsprechend der Struktur der NATO als eines primär militärischen Bündnisses um militärische Aktivitäten zur Krisenbewältigung. Das neue strategische Konzept 1999 sei gegenüber dem aus dem Jahre 1991, in dem noch Absichtserklärungen dominiert hätten, gerade in den hier interessierenden Teilen wesentlich verdichtet. Insbesondere die maßgeblichen Aussagen zu den nicht unter Art. 5 NATO-Vertrag fallenden Aufgaben würden nicht mehr nur als Teil der sicherheitspolitischen Analyse, sondern auch als Teil des Sicherheitsansatzes des Bündnisses behandelt. Der Begriff des Krisenreaktionseinsatzes sei tatbestandlich ausgeformt in Teil III Nr. 31 ff. des Washingtoner Beschlusses13: Wenn sich ein Konflikt krisenhaft so zugespitzt habe, daß präventives Vorgehen nicht mehr erfolgversprechend erscheine, könne der Rat gegebenenfalls in Kooperation mit den befaßten internationalen Organisationen tätig werden und hierfür auf eine Reihe von Handlungsinstrumenten zurückgreifen, welche die nicht unter Art. 5 NATO-Vertrag fallenden Krisenreaktionseinsätze militärischer Natur einschlössen. Der Einsatz habe in Übereinstimmung mit dem jeweils anwendbaren Völkerrecht zu erfolgen. Hierdurch würden die seit 1994 entwickelten Verfahren verallgemeinert. Der Bestimmung der Kernfunktion des Bündnisses schließe sich nicht, wie noch im Konzept 1991, eine Klausel an, wonach die Mitgliedstaaten mit der Formulierung dieser Kernfunktion bestätigten, "daß der Wirkungsbereich des Bündnisses, wie auch ihre Rechte und Pflichten aus dem NATO-Vertrag unverändert bleiben". Aus alledem könne jedoch nicht geschlossen werden, daß eine objektive Änderung des NATO-Vertrags vorliege. Die getroffenen Inhaltsbestimmungen ließen sich noch als Fortentwicklung und Konkretisierung der offen formulierten Bestimmungen des NATO-Vertrags verstehen. Der Nordatlantikrat erkläre ausdrücklich, daß Zweck und Wesen des Bündnisses unverändert blieben. Die Dichte der vertraglichen Verpflichtungen sei im Bereich der Krisenreaktion geringer ausgeprägt. Die Mitgliedstaaten koordinierten ihre Maßnahmen "von Fall zu Fall" aufgrund von Konsultationen nach Art. 4 NATO-Vertrag. Eine Pflicht zur kollektiven Reaktion sei im Gegensatz zur kollektiven Verteidigung gemäß Art. 5 NATO-Vertrag nicht vorgesehen. Der Primat der Politik sowie der Mechanismus konsensualer Willensbildung im Nordatlantikrat über die Feststellung der Voraussetzungen, die Festsetzung und den Vollzug einer Maßnahme würden auch und gerade für diese neue Funktion der NATO gelten. Die Mitgliedstaaten handelten dabei auf der Grundlage des jeweiligen mitgliedstaatlichen Verfassungsrechts. Dem entspreche es, daß die Bundesregierung einer Beteiligung Deutschlands an Krisenreaktionseinsätzen im Rat unter dem Vorbehalt vorheriger konstitutiver Zustimmung des Bundestages zustimme.

      Das Bündnis habe bereits mehrfach auf gravierende Änderungen der politischen Situation reagiert, ohne den Vertrag förmlich zu ändern. Der NATO-Vertrag sei insoweit entwicklungsoffen. Eine solche Elastizität im Hinblick auf die Fortentwicklung des dem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit zugrundeliegenden Vertrags sei auch erforderlich, um das Bündnis seinen Zielen entsprechend leistungs- und anpassungsfähig zu halten. Die Auslegung des Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG habe auf diese besonderen Erfordernisse eines von Art. 24 Abs. 2 GG ausdrücklich gewollten Sicherheitssystems Rücksicht zu nehmen und dürfe deshalb nicht bereits bei einer, wenn auch erheblichen, Fortentwicklung des Vertrags durch die Organe des Sicherheitssystems einen hinreichend deutlich erkennbaren Widerspruch zum Vertrag annehmen, der auf einen konkludent zum Ausdruck gebrachten Vertragsänderungswillen schließen ließe.

      Die nicht als Vertragsänderung erfolgende Fortentwicklung eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit i.S.d. Art. 24 Abs. 2 GG bedürfe keiner gesonderten Zustimmung des Bundestags. Es könne dahinstehen, ob und welche völkerrechtlichen Bindungen für die Bundesrepublik Deutschland durch die Zustimmung zum neuen strategischen Konzepts 1999 unterhalb des Vertragsschlusses entstanden seien. In Betracht kämen bei entsprechender Interpretation des neuen strategischen Konzept 1999 verbindliche Konkretisierungen des Vertragsinhalts durch die dazu berufenen Organe der NATO oder eine authentische Interpretation des NATO-Vertrags durch die Vertragsparteien, aber auch die außervertragliche gemeinsame Verstärkung einer völkerrechtlichen Übung. Ungeachtet der Frage, ob eine solche Vertragsfortbildung durch Organakt oder sonstiges völkerrechtlich rechtserhebliches Handeln vom Integrationsprogramm des NATO-Vertrags und des Grundgesetzes gedeckt sei, bestehe jedenfalls keine Pflicht der Bundesregierung aus Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG, in bezug auf solche völkerrechtlichen Handlungsformen ein Gesetzgebungsverfahren einzuleiten oder die Zustimmung des Bundestages einzuholen. Die Konkretisierung des Vertrags, die Ausfüllung des mit ihm niedergelegten Integrationsprogrammes, sei Aufgabe der Bundesregierung, der das Grundgesetz in Anknüpfung an die traditionelle Staatsauffassung der Regierung im Bereich auswärtiger Politik einen weit bemessenen Spielraum zu eigenverantwortlicher Aufgabenwahrnehmung überlassen habe. Eine erweiternde Auslegung von Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG und Anwendung auf die Beteiligung der Bundesregierung an nichtförmlichen Fortentwicklungen der Vertragsgrundlage eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit würde nicht nur Rechtsunsicherheit hervorrufen und die Steuerungswirkung des Zustimmungsgesetzes in Frage stellen, sondern auch die außen- und sicherheitspolitische Handlungsfähigkeit der Bundesregierung ungerechtfertigt beschneiden und auf eine nicht funktionsgerechte Teilung der Staatsgewalt hinauslaufen. Es bestehe zwar die Gefahr, daß durch rechtserhebliches Handeln unterhalb der förmlichen Vertragsänderung eine allmähliche Inhaltsveränderung des Vertrages eintrete. Aber der Bundestag sei gegenüber einer - reversiblen - Veränderung der Vertragsgrundlage und damit des Zustimmungsgesetzes nicht schutzlos. Er verfüge über ausreichende Instrumente für die politische Kontrolle der Bundesregierung und das Budgetrecht. Darüber hinaus sei wegen des wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalts jeder Einsatz der Bundeswehr im Rahmen der NATO sowohl zur kollektiven Verteidigung als auch zur Krisenreaktion von der Zustimmung des Bundestages abhängig, so daß auch im Hinblick darauf die Bundesregierung bei der Fortentwicklung des Einsatzbereichs der NATO und damit der völkervertraglichen Grundlage für Auslandseinsätze der Bundeswehr vorsorglich um die politische Unterstützung des Bundestages nachsuchen werde. Dies sei auch im Falle des neuen strategischen Konzepts 1999 geschehen.

      Die verfassungswidrige Überschreitung des weit bemessenen Gestaltungsspielraums der Bundesregierung, insbesondere die Überschreitung des im Zustimmungsgesetz zum NATO-Vertrag enthaltenen Integrationsprogramms, könne zwar von einer Parlamentsminderheit im Organstreitverfahren vor dem BVerfG gerügt werden, mit der Zustimmung zum neuen strategischen Konzept 1999 habe die Bundesregierung aber nicht die durch das Zustimmungsgesetz zum NATO-Vertrag bestehende Ermächtigung und deren verfassungsrechtlichen Rahmen gemäß Art. 24 Abs. 2 GG überschritten. Mit dem Zustimmungsgesetz zum NATO-Vertrag werde das Integrationsprogramm dieses Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit festgelegt und Bundestag und Bundesrat übernähmen gegenüber dem Bürger dafür die politische Verantwortung nach Art. 20 Abs. 2 GG. Die rechtliche und politische Verantwortung des Parlaments erschöpfe sich nicht in einem einmaligen Zustimmungsakt, sondern erstrecke sich auch auf den weiteren Vertragsvollzug. Innerstaatlich enthalte die Zustimmung zu dem Vertrag die Ermächtigung der Regierung, diesen Vertrag in den Formen des Völkerrechts fortzuentwickeln. Der Bundestag werde aber in seinem Recht auf Teilhabe an der Auswärtigen Gewalt verletzt, wenn die Bundesregierung die Fortentwicklung der NATO jenseits der ihr erteilten Ermächtigung - ultra vires - betreibe. Gerade im Falle von Sicherheitssystemen i.S.d. Art. 24 Abs. 2, wie auch von Integrationssystemen nach Art. 23 und Art. 24 Abs. 1 GG, sei es Aufgabe der institutionell legitimierten Regierung, die Rechte der Bundesrepublik, die sich aus der Mitgliedschaft auf der völkerrechtlichen Ebene ergeben, wahrzunehmen. Dazu gehöre auch die konsensuale Fortentwicklung der vertraglichen Grundlagen selbst nach Maßgabe der jeweiligen vertraglichen Regelungen. Die Bundesregierung handele aber nicht schon dann außerhalb des vom Zustimmungsgesetz zum NATO-Vertrag gezogenen Ermächtigungsrahmens, wenn gegen einzelne Bestimmungen des NATO-Vertrags verstoßen werde. Das BVerfG könne auf Antrag des Bundestages eine Überschreitung des gesetzlichen Ermächtigungsrahmens nur dann feststellen, wenn die konsensuale Fortentwicklung des NATO-Vertrags gegen wesentliche Strukturentscheidungen des Vertragswerkes verstoße. Eine solche Überschreitung des im Zustimmungsgesetz festgestellten Integrationsprogramms des NATO-Vertrags durch das neue strategische Konzept 1999 lasse sich sowohl im Hinblick auf die Entwicklung offen formulierter Bestimmungen des NATO-Vertrags als auch im Hinblick auf die weite Gestaltungsfreiheit der Bundesregierung bei der Ausfüllung des Integrationsrahmens nicht feststellen. Dies betreffe auch die Frage, ob der militärische Einsatz der NATO auch außerhalb der durch Art. 5 NATO-Vertrag erfaßten Fälle erlaubt sei. Der NATO-Vertrag sei in Übereinstimmung mit den Zielen der Vereinten Nationen nach seinem Gesamtkonzept ersichtlich auf umfassende regionale Friedenssicherung im europäischen und nordamerikanischen Raum gerichtet. Wenn sich das Erscheinungsbild möglicher Friedensbedrohungen ändere, lasse der Vertrag Spielraum für anpassende Entwicklungen auch in Bezug auf den konkreten Einsatzbereich und Zweck, soweit und solange der grundlegende Auftrag zur Friedenssicherung in der Region nicht verfehlt werde. Die Krisenreaktionseinsätze stellten insoweit keine grundlegend neue Einsatzart dar. Aus dem Inhalt des neuen strategischen Konzepts 1999 gehe auch nicht hervor, daß das Nordatlantische Bündnis seine Bindung an die Ziele der Vereinten Nationen und die Beachtung ihrer Satzung aufgeben wolle.

      Schließlich verlasse die mit der Zustimmung zum neuen strategischen Konzept 1999 eingeleitete und bekräftigte Fortentwicklung des NATO-Vertrags nicht die durch Art. 24 Abs. 2 GG festgelegte Zweckbestimmung des Bündnisses zur Friedenswahrung. Die im Konzept konkretisierten Einsatzvoraussetzungen der NATO-Streitkräfte sollten ausdrücklich nur in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht erfolgen. Die Konkretisierung sowohl der Art. 5 NATO-Vertrag Einsätze zur Verteidigung des Bündnisgebietes als auch der nicht unter Art. 5 NATO-Vertrag fallenden Einsätze (Krisenreaktionseinsätze) lasse keine machtpolitisch oder gar agressiv motivierte Friedensstörungsabsicht erkennen. In der Gewichtung der verschiedenen Instrumente des Sicherheitsansatzes wie auch in seinem Beitrag zum Prozeß der Völkerrechtsentwicklung sei das Konzept ein entwicklungsoffenes Dokument, das im weiteren von den Mitgliedstaaten zu konkretisieren sei.




      9 The Alliance's Strategic Concept, Approved by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Washington D.C. on 23/24.4.1999, NATO Press Release NAC-S(99)65 vom 24.4.1999, verfügbar unter http://www.nato.int/docu/pr/1999/p99-065e.htm; sowie A. Cragg, A New Strategic Concept for a New Era, 47-2 NATO Review (1999), 19.

      10 Nordatlantikvertrag vom 4.4.1949, i.d.F. vom 17.10.1951, BGBl. 1955 II, 256, 289, 293.

      11 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23.5.1969, BGBl. 1985 II, 926.

      12 Charta der Vereinten Nationen vom 26.6.1945, i.d.F. vom 20.12.1965, BGBl. 1973 II, 430, 505, BGBl. 1974 II, 769, 1397, BGBl. 1980 II, 1252.

      13 Siehe Anm. 9.