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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


800. FREMDENRECHT DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND

Nr.86/1

[a] Die Rechtsmittelfrist beginnt auch für Ausländer mit einer in deutscher Sprache erteilten Rechtsmittelbelehrung.

[b] Ein in einer fremden Sprache abgefaßter Schriftsatz hat keine fristwahrende Wirkung.

[c] Das Verhalten eines deutschen Botschaftsangehörigen, das zum verspäteten Eingang einer Rechtsmittelschrift bei einem deutschen Gericht führt, ist dem ausländischen Rechtssuchenden nicht als Verschulden anzurechnen. Dieser kann deshalb Wiedereinsetzung in den vorigen Stand verlangen.

[a] The issuance of a court's instruction, given in the German language, concerning the time and manner of appealing the decision will start the period for filing an appeal, even if the appellant is an alien.

[b] The appellant cannot observe the time limit for filing an appeal by submitting a brief drawn up in a foreign language.

[c] An alien appellant cannot be held responsible for the conduct of a German embassy employee which causes delay in the conveyance to the German court of a notice of appeal beyond the time limit. The appellant can therefore claim reinstatement in the status quo ante with regard to this time limit.

Bundessozialgericht, Urteil vom 22.10.1986 (9 a RV 43/85), DVBl. 1987, 848 (ZaöRV 48 [1988], 51)

Einleitung:

      Der Kläger, ein italienischer Staatsangehöriger, begehrte Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz. Den von seinem damaligen Wohnort in Caracas (Venezuela) aus gestellten Antrag lehnte das Versorgungsamt ab. Widerspruch und Klage blieben erfolglos. Das mit einer Rechtsmittelbelehrung versehene Urteil des Sozialgerichts ist dem Kläger in Caracas über die Deutsche Botschaft zugestellt worden. Der Kläger reichte die in spanischer Sprache verfaßte Berufungsschrift am 14.12.1981 bei der deutschen Botschaft in Caracas ein. Diese veranlaßte eine Übersetzung in die deutsche Sprache. Mit Begleitschreiben vom 5.1.1982 leitete sie die Originalberufungsschrift mit Übersetzung dem zuständigen Sozialgericht zu, wo die Schriftstücke verspätet eingingen. Das Landessozialgericht verwarf die Berufung als unzulässig, weil der Kläger die bis zum 7.1.1982 laufende Berufungsfrist versäumt habe und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gewährt werden könne. Das Bundessozialgericht gab der Revision des Klägers statt.

Entscheidungsauszüge:

      Auf den Eingang der Berufungsschrift am 14.12.1981 bei der Deutschen Botschaft kommt es entgegen der Revision nicht an. Zwar gestattet §91 Abs.1 SGG zur Fristwahrung, die Klage u.a. bei einer deutschen Konsularbehörde zu erheben. Indessen ist die entsprechende Anwendung dieser Vorschrift auf das Berufungsverfahren kraft ausdrücklicher Regelung in §153 Abs.1 SGG ausgenommen. Danach gelten für das Verfahren vor dem Landessozialgericht die Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug "mit Ausnahme des §91 SGG" entsprechend. §151 Abs.1 SGG schreibt zwingend die Einlegung der Berufung bei dem Landessozialgericht oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle vor. Nach Abs.2 Satz 1 ist die Berufungsfrist auch gewahrt, wenn die Berufung innerhalb der Frist bei dem Sozialgericht schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle eingelegt wird. §151 SGG enthält eine für das Berufungsverfahren abschließende Regelung ...
      Die Einlegung des Rechtsmittels innerhalb eines Jahres seit der Zustellung ist nicht etwa deswegen ausnahmsweise zulässig, weil die Rechtsmittelbelehrung des Sozialgerichts unrichtig war (§66 Abs.2 Satz 1 SGG). Das Gegenteil ist ... der Fall. Die allein in deutscher Sprache ordnungsgemäß erteilte Rechtsmittelbelehrung setzt die Rechtsmittelfrist auch gegenüber Ausländern in Lauf (§66 Abs.1 SGG). Dies gilt selbst dann, wenn sie der deutschen Sprache unkundig sind ... Denn die Gerichtssprache ist deutsch: §61 Abs.1 SGG i.V. mit §184 GVG. Dem Ausländer steht kein Anspruch auf die Belehrung in seiner Heimatsprache zu (BVerfGE 42, 120 [125] unter Bezugnahme und Klarstellung zu BVerfGE 40, 95 [99]).
      Gleichwohl dürfen die mangelhaften Kenntnisse der deutschen Sprache nicht zu einer Verkürzung der verfassungsrechtlichen Rechtsschutzgarantien des Art.19 Abs.4 und Art.103 Abs.2 GG führen (BVerfGE 40, 95 [98 f.]). Für den der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtigen Kl. ... ist nach dem Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand die Möglichkeit eröffnet, die Fristversäumnis nachträglich zu beseitigen ... Das ist nach §67 Abs.1 SGG davon abhängig, daß der Kl. ohne Verschulden verhindert war, eine Verfahrensfrist einzuhalten. Diese Vorschrift ist auch und gerade auf Ausländer anwendbar. Bestehende Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten erfordern eine angemessene Berücksichtigung ... Allerdings entheben unzureichende Sprachkenntnisse den Ausländer nicht jeglicher Sorgfaltspflicht in der Wahrung seiner Rechte ...
      Eine ... fristwahrende Wirkung kommt ... der Originalberufungsschrift des Klägers nicht zu. Der in fremder Sprache abgefaßte Schriftsatz erzeugt keine Rechtswirkungen. Diese Rechtsfolge ergibt sich aus §61 Abs.1 Satz 1 SGG, der u.a. auf §184 GVG verweist. Danach ist die Gerichtssprache deutsch. Diese Vorschrift ist zwingender Natur und von Amts wegen zu beachten. ...
      Aufgrund dessen hat der Kl., der mit der Übersetzung und anschließenden Übersendung durch die Botschaft einverstanden war, der geltenden Rechtslage Rechnung getragen. Daß der Kl. überdies auf die Zusicherung eines Beamten der Deutschen Botschaft, die übersetzte Berufungsschrift werden rechtzeitig dem zuständigen Gericht zugeleitet, vertrauen durfte, wie die Revision anführt, versteht sich von selbst. Diese ... behördliche Zusage hat Gewicht. ... Jedenfalls hat die Deutsche Botschaft als Repräsentant der Bundesrepublik Deutschland im Ausland einem Rechtsuchenden gegenüber, der sein Recht im Inland geltend machen will, besondere Fürsorgepflichten, insbesondere bei ... Zusicherungen. Dann ist der Bedienstete der Botschaft verpflichtet, deren Einhaltung zu gewährleisten. Tut er dies nicht, liegt dies allein im Verantwortungsbereich der Deutschen Botschaft. Auf welche Umstände die Verzögerung mit der Folge der Fristversäumnis zurückzuführen ist, ... kann offenbleiben. Jedenfalls ist dieses Geschehen nicht dem Kl. i.S. eines Schuldvorwurfes anzulasten. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, daß die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht überspannt werden dürfen ...
      Das zurechenbare Fehlverhalten der Deutschen Botschaft ist nicht etwa durch einen Schadensersatz nach Art.34 GG i.V. mit §839 BGB wiedergutzumachen, sondern unmittelbar durch die systemgerechte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.