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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


810. EINREISE UND AUFENTHALT

Nr.86/1

Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ist nach §2 Abs.1 Satz 2 AuslG 1965 nicht ausgeschlossen, wenn ein visumspflichtiger Ausländer sich erst nach seiner Einreise entschließt, seinen Aufenthalt zu einem Zweck fortzusetzen, für den ihm das Visum nicht erteilt worden ist.

If an alien who requires and has been granted an entry visa decides after his or her entry into Germany to continue his or her residence for a purpose not covered by the visa, a residence permit may be granted to the alien, the restrictive provision of Sec.2 (1), clause 2 of the Aliens Act of 1965 notwithstanding.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 4.9.1986 (1 C 19.86), BVerwGE 75, 20 (ZaöRV 48 [1988], 52)

Einleitung:

      Die Klägerin ist türkische Staatsangehörige und mit einem türkischen Staatsangehörigen verheiratet, der zuvor im Wege des Familiennachzugs in die Bundesrepublik Deutschland gekommen war. Auf ihren Antrag erteilte ihr die Deutsche Botschaft eine befristete Aufenthaltsgenehmigung in der Form des Sichtvermerks zum Besuch ihres im Inland wohnenden Ehemannes. Nach ihrer Einreise beantragte sie erfolglos beim Ausländeramt der Beklagten eine Aufenthaltserlaubnis zur Familienzusammenführung.

Entscheidungsauszüge:

      Gemäß §2 Abs.1 Satz 2 des Ausländergesetzes vom 28. April 1965 (BGBl. I S. 353), zuletzt geändert durch Gesetz vom 16. Juli 1982 (BGBl. I S. 946) - AuslG - darf die Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn die Anwesenheit des Ausländers Belange der Bundesrepublik Deutschland nicht beeinträchtigt. Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis ist demnach rechtlich ausgeschlossen, wenn durch die (weitere) Anwesenheit des Ausländers Belange der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtigt werden (sogenannte Negativschranke). Das Berufungsgericht hat zu Unrecht angenommen, das Begehren der Klägerin scheitere an der Negativschranke in Verbindung mit der Sichtvermerksvorschrift des §5 Abs.1 Nr.2 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 29. Juni 1976 (BGBl. I S. 1717), zuletzt geändert durch Verordnung vom 13. Dezember 1982 (BGBl. I S. 1681) - DVAuslG -, wonach u.a. türkische Staatsangehörige die Aufenthaltserlaubnis vor der Einreise in der Form des Sichtvermerks einholen müssen.
      1. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats zählt zu den Belangen im Sinne der Negativschranke auch das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Aufenthaltsrechts einschließlich der Einreisevorschriften. Aus dem Zusammenhang dieser Regelung mit §5 Abs.2 AuslG ergibt sich, daß die Anwesenheit eines ohne erforderlichen Sichtvermerk eingereisten Ausländers regelmäßig Belange der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des §2 Abs.1 Satz 2 AuslG beeinträchtigt mit der Folge, daß die Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis nicht erteilen darf und der Ausländer auf das Sichtvermerksverfahren verwiesen ist. Das öffentliche Interesse, die Einreise auf dem gesetzlich vorgesehenen Weg zu steuern und zu kontrollieren, macht es erforderlich, grundsätzlich den ohne notwendigen Sichtvermerk der Auslandsvertretung begründeten Aufenthalt nicht nachträglich im Wege der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis durch die örtliche Ausländerbehörde zu legalisieren; andernfalls wäre die Wirksamkeit des Sichtvermerksverfahrens nicht gewährleistet ...
      Dieselben Grundsätze gelten, wenn der Ausländer, der nach §5 Abs.1 Nr.2 DVAuslG für eine Einreise - gleich zu welchem Zweck und für welche Dauer - eine Aufenthaltserlaubnis in der Form des Sichtvermerks benötigt, zwar für einen bestimmten Zweck (antragsgemäß) die Erlaubnis erhalten hat, tatsächlich aber mit seiner Aufenthaltsnahme von vornherein einen anderen (weitergehenden) Zweck verfolgt, insbesondere statt des ihm erlaubten vorübergehenden Aufenthalts einen Daueraufenthalt anstrebt. Daran ändert nichts, daß für die Sichtvermerkspflicht nach §5 Abs.1 Nr.2 DVAuslG der Zweck der Einreise und des Aufenthalts unerheblich ist. Für die Entscheidung über die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis, auf die es hier ankommt, sind nämlich Zweck und Dauer des beabsichtigten Aufenthalts von wesentlicher Bedeutung, wie der Senat wiederholt betont hat. Könnten Ausländer, deren Einreisesichtvermerk auf falschen Angaben über den Aufenthaltszweck beruht, erhoffen, nach der Einreise von der (inländischen) Ausländerbehörde eine Aufenthaltserlaubnis zu dem von vornherein verfolgten, im Sichtvermerksverfahren aber gerade nicht erlaubten Zweck zu erhalten, so ließe sich auch in diesem Zusammenhang die mit dem Sichtvermerkszwang beabsichtigte (wirksame) vorherige Steuerung und Kontrolle von Einreise und Aufenthalt nicht hinreichend verwirklichen. Deswegen muß nach dem sich aus §2 Abs.1 Satz 2 AuslG in Verbindung mit §5 Abs.2 AuslG sowie §5 DVAuslG ergebenden Zusammenhang auch hier grundsätzlich die Negativschranke eingreifen mit der Folge, daß die Aufenthaltserlaubnis nicht nach der Einreise erteilt werden darf, der Ausländer vielmehr ebenfalls auf das Sichtvermerksverfahren verwiesen bleibt (BVerwGE 70, 54 [57 f.]).
      Dagegen greift die Negativschranke nach der Rechtsprechung des Senats nicht ein, wenn ein Ausländer bei seiner Einreise einen Aufenthalt anstrebt, dessen Zweck entweder sichtvermerksfrei oder durch den eingeholten Sichtvermerk gedeckt war, aber nach seiner Einreise den Entschluß faßt, den Aufenthalt zu einem anderen - an sich sichtvermerkspflichtigen - Zweck fortzusetzen (... NJW 1984, 2775; ... NJW 1985, 2097).
      Die Besonderheit dieser letzteren Fälle, die eine Gleichbehandlung mit den zuvor erwähnten verbietet, liegt darin, daß der Ausländer hier ohne Verstoß gegen Sichtvermerksvorschriften eingereist ist; er hat sich den Aufenthalt nicht durch Täuschung über seine Absichten "erschlichen", sondern hat sich bei der Einreise korrekt verhalten. Der illegal eingereiste Ausländer muß in aller Regel aus generalpräventiven Gründen möglichst schnell zur Ausreise veranlaßt und auf die Durchführung des Sichtvermerksverfahrens in seinem Heimatland verwiesen werden, denn nur auf diese Weise läßt sich sichern, daß der Sichtvermerkszwang ernstgenommen wird. Hat der Ausländer dagegen die Sichtvermerksvorschriften bei der Einreise eingehalten, so ist ein generalpräventives Einschreiten gegenstandslos: Von einer legalen Einreise und von einer nachträglichen Änderung des Aufenthaltswunsches kann und soll niemand abgehalten werden. In diesen Fällen ist es daher nicht ohne weiteres geboten, den Ausländer zur Rückkehr ins Heimatland und zur Beantragung eines Sichtvermerks zu nötigen ... Sollte ohne weiteres feststehen, daß der gewünschte weitere Aufenthalt des legal eingereisten Ausländers unbedenklich erlaubt werden kann, so wäre die Verweisung auf das Sichtvermerksverfahren sogar unsinnig.
      Nach diesen Grundsätzen steht im vorliegenden Fall die Negativschranke der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nicht entgegen, denn das Berufungsgericht hat - für den erkennenden Senat bindend (§137 Abs.2 VwGO) - festgestellt, es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, daß die Klägerin schon bei ihrer Einreise einen Daueraufenthalt im Bundesgebiet beabsichtigt habe; das Berufungsgericht hält es ersichtlich für glaubhaft, daß die Klägerin erst durch während ihres hiesigen Besuchsaufenthalts eingetretene besondere Umstände veranlaßt wurde, einen Daueraufenthalt anzustreben.
      2. Gegen die dargestellte rechtliche Differenzierung nach dem Zeitpunkt, von dem an der Ausländer einen über den Besuchszweck hinausgehenden Aufenthalt geplant hat, wendet das Berufungsgericht ein, den Sichtvermerksvorschriften zufolge sei über eine Erlaubnis für einen längerfristigen Aufenthalt in einem Verfahren zu entscheiden, das nur über die zuständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in der Heimat des Ausländers betrieben werden könne ...
      Tatsächlich aber räumen die Sichtvermerksvorschriften der Auslandsvertretung ein solches Entscheidungsmonopol nicht ein. Die Aufenthaltserlaubnis in der Form des Sichtvermerks soll dem Ausländer außer dem Aufenthalt die ihm sonst verschlossene Einreise gestatten und ist deswegen eine Erlaubnis, die vor der Einreise erteilt wird (§§5 Abs.2, 20 Abs.4 AuslG, §5 Abs.1, 5 DVAuslG). Sie entspricht nicht dem Aufenthaltsbegehren von Ausländern, die sich bereits im Bundesgebiet befinden und ihren Aufenthalt über den bisher erlaubten Zeitraum und Zweck hinaus fortsetzen möchten. Dafür ist vielmehr die inländische Ausländerbehörde zuständig (§20 Abs.1 AuslG ...).
      Das Berufungsgericht lehnt die rechtliche Differenzierung danach, ob der mit Besuchsvisum eingereiste Ausländer schon bei der Einreise einen über Besuchszwecke hinausgehenden Aufenthalt beabsichtigt oder erst nach der Einreise diese Absicht gefaßt hat, auch deshalb ab, weil es befürchtet, durch diese Differenzierung werde die Wirksamkeit des Sichtvermerksverfahrens beeinträchtigt ... Die aus den oben dargelegten Gründen rechtlich gebotene Differenzierung führt nicht zu untragbaren Schwierigkeiten. Dem Umstand, daß in der Frage, wann ein Ausländer einen bestimmten Entschluß gefaßt hat, kein voller Beweis möglich ist, müssen die Beweisanforderungen Rechnung tragen. Für die Beweiswürdigung bietet sich folgende Regel an: Reist ein Ausländer als Tourist ein und gibt er nach der Einreise zu erkennen, daß er hier einen Weitergehenden Aufenthaltszweck verfolgen will (z.B. einer Erwerbstätigkeit nachgehen, ein Studium betreiben oder aus Gründen des Familiennachzugs im Bundesgebiet bleiben möchte), so ist ein entsprechender, erst nach der Einreise eingetretener Sinneswandel nur glaubhaft, wenn er durch besondere Umstände plausibel gemacht wird. Fehlt es daran, so ist nach der Lebenserfahrung regelmäßig der Schluß gerechtfertigt, daß der Ausländer von vornherein einen über den - allein erlaubten - Besuchszweck hinausgehenden Aufenthalt angestrebt hat und somit bei weiterem Aufenthalt grundsätzlich Belange im Sinne des §2 Abs.1 Satz 2 AuslG beeinträchtigen würde. Mit dieser Regel werden sich Fälle der vorliegenden Art im allgemeinen befriedigend lösen lassen.