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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


910. INTERNATIONALES FLÜCHTLINGSRECHT

Nr.87/1

Flüchtlinge können auch dann gemäß Art.31 Abs.1 der Genfer Flüchtlingskonvention Straffreiheit wegen illegaler Einreise genießen, wenn sie auf dem Weg aus dem Verfolgerstaat in die Bundesrepublik Deutschland ein anderes Territorium berührt haben.

Refugees can claim impunity from conviction for illegal entry according to Art.31 (1) of the Geneva Convention relating to the Status of Refugees, even if they have entered the territory of a third state on their way from the state of persecution to the Federal Republic of Germany.

Oberlandesgericht Celle, Urteil vom 13.1.1987 (1 Ss 545/86), NVwZ 1987, 533 (ZaöRV 48 [1988], 741)

Einleitung:

      Das Amtsgericht hatte den angeklagten türkischen Staatsangehörigen wegen illegaler Einreise nach §47 Abs.1 Nr.1 AuslG zu einer Geldstrafe verurteilt. Dieser war mit Hilfe einer illegalen Organisation von Istanbul nach Brüssel geflogen und von dort mit dem PKW in die Bundesrepublik verbracht worden, ohne im Besitz des erforderlichen Einreisevisums zu sein. In der Bundesrepublik beantragte er Asyl mit der Begründung, er werde in der Türkei wegen seines jezidischen Glaubens verfolgt. Das Oberlandesgericht hob die Verurteilung auf und verwies die Sache an das Amtsgericht zurück.

Entscheidungsauszüge:

      [Art.31 Abs.1 GenfKonv.] sichert demjenigen Ausländer Straffreiheit zu, der unmittelbar aus einem Gebiet kommt, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht waren, und der ohne Erlaubnis in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland einreist oder sich in ihm aufhält, vorausgesetzt, daß er sich unverzüglich bei den Behörden meldet. Der Angekl. hat allerdings den Umweg über Brüssel und die Niederlande genommen, weil er kein Visum für die Bundesrepublik Deutschland besaß und offenbar befürchtete, bei einer direkten Einreise zurückgewiesen zu werden, so daß das Merkmal der Unmittelbarkeit der Einreise aus der Türkei ausscheiden könnte.
      Ob dies der Fall ist, hängt von dem Zweck ab, den die Konvention mit der Straffreierklärung nur für den Fall der unmittelbaren Einreise verfolgt. Läge der Zweck in der Erschwerung der Kontrolle über die (illegal) Einreisenden, da man sich ihrer aus Drittländern nicht ohne weiteres versieht, so wäre im vorliegenden Fall eine Strafbarkeit des Angekl. zu bejahen, sofern man zugleich annimmt, es sei ihm zuzumuten gewesen, den direkten Weg mit einer Fluggesellschaft zu wählen, die eine Luftverbindung zwischen der Türkei und der Bundesrepublik Deutschland herstellt. Indessen ist der Zweck des Art.31 Abs.1 GenfKonv. anders zu sehen. Die Vorschrift sieht eine Strafbefreiung für Asylanten nicht vor, die kein Visum für die Bundesrepublik Deutschland besitzen und über ein sie nicht rechtsstaatswidrig verfolgendes Drittland (illegal) einreisen, weil solchen Asylanten zugemutet werden kann, vom Drittland aus eine legale Einreise zu beantragen; in der Zeit ihres Aufenthaltes dort sind sie keinen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt. Anders ist es bei solchen Flüchtlingen, welche direkt aus einem Staat einreisen, in dem sie bedroht sind. Ihnen soll nach dem Zweck des Gesetzes nicht zugemutet werden, unter der Bedrohung zu warten, bis sie eine Möglichkeit zur legalen Einreise in die Bundesrepublik erhalten; und ihnen sichert Art.31 Abs.1 GenfKonv. folgerichtig Straffreiheit zu, wenn sie sich immerhin nach ihrer (illegalen) Einreise unverzüglich bei den Behörden melden und die Gründe für ihre illegale Einreise mitteilen, nämlich - gegebenenfalls - die Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Freiheit im Herkunftsland. Wendet man diese Zweckerwägungen auf das Merkmal der Unmittelbarkeit an, so ist offenbar, daß dieses Merkmal nicht "territorial" in dem Sinne zu verstehen ist, daß nur solche Ausländer Straffreiheit erhalten, die zwischen dem Herkunftsland und der Bundesrepublik Deutschland kein anderes Territorium berührt haben. Denn das liefe auf eine Verpflichtung hinaus, zunächst in jenem Land Aufenthalt zu nehmen und von dort aus ein Visum für die Bundesrepublik Deutschland zu beantragen. Eine solche Verpflichtung will aber die Genfer Konvention ganz offensichtlich nicht aufstellen.
      Für sie spricht auch nicht die Selbstbindung, die sich die vertragschließenden Staaten in Art.33 GenfKonv. auferlegen. Diese Bestimmung enthält das Verbot der Ausweisung von Flüchtlingen in ein Gebiet, in dem sie bedroht sein würden, so daß in der Tat der Angekl. bei seiner Ankunft in Belgien die Möglichkeit gehabt hätte, von dort aus ohne Bedrohung ein Visum für die Bundesrepublik Deutschland zu beantragen, da Belgien zu den Unterzeichnerstaaten der Konvention gehört. Jedoch kann nicht angenommen werden, daß die rein technischen Umstände einer Flucht in die Bundesrepublik über die Anwendbarkeit des Art.31 GenfKonv. entscheiden sollen. Denn das liefe darauf hinaus, die Straffreiheit nur auf solche Personen zu erstrecken, die keine Möglichkeit der Unterbrechung dieser Flucht in einem freien Drittland haben, sie andererseits solchen Personen nicht zu gewähren, die eine solche Möglichkeit besitzen, sei es auch nur aus Anlaß einer Zwischenlandung des von ihnen benutzten Flugzeugs. Folgerichtig hat das Bayerische Oberste Landesgericht die Unmittelbarkeit der Einreise auch dann bejaht, wenn der Ausländer zwar direkt aus einem freien Drittland einreist, dieses aber nur als Durchgangsland berührt hat und kein schuldhaft verzögerter Aufenthalt vorliegt (BayObLG, NJW 1980, 2030).
      Im vorliegenden Fall hat allerdings der Angekl. arglistig gehandelt insofern, als er bewußt den Zwischenaufenthalt in Brüssel gewählt hat, ohne durch objektive Notwendigkeiten - etwa das Fehlen einer Flugverbindung in die Bundesrepublik Deutschland - dazu veranlaßt zu sein. Er nahm offenbar an, daß die Möglichkeit, hier Asyl zu erhalten, größer sei, wenn er zunächst einmal, wenn auch illegal, im Lande sei. Dieses subjektiv arglistige Verhalten schließt jedoch nach Ansicht des Senats die Unmittelbarkeit der Einreise i.S. des Art.31 Abs.1 GenfKonv. nicht aus. Zwar wird durch ein solches Vorgehen die ausländerpolizeiliche Kontrolle erschwert, und de facto mag auch die Chance auf Gewährung unberechtigten Asyls für solche Personen in unerwünschter Weise erhöht werden, die in ihrem Heimatland tatsächlich nicht verfolgt werden. Das liegt Art.31 GenfKonv. jedoch als Verbotszweck nicht zugrunde, so daß das Merkmal der unmittelbaren Einreise i.S. des Art.31 Abs.1 GenfKonv. gegeben ist.