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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


950. ASYLRECHT UND ASYLGRUNDRECHT

Nr.86/1

[a] Angehörige einer religiösen Minderheit sind einer Gruppenverfolgung nur ausgesetzt, wenn sich die Verfolgung ohne Rücksicht auf die Umstände ihrer Religionsausübung im Einzelfall gegen alle Religionszugehörigen richtet.

[b] Asylrelevant sind Beeinträchtigungen der Religionsfreiheit nur, wenn sie zugleich die Menschenwürde verletzen, weil sie Gläubige in ähnlich schwerer Weise in Mitleidenschaft ziehen wie Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit oder Fortbewegungsfreiheit.

[a] Members of a religious minority are subject to a "group persecution" only if the persecution extends to all members of the group without regard to the particular circumstances of their religious practices.

[b] Restrictions on the freedom of religion are an infringement of human dignity, giving rise to a right of asylum, if they affect the believer in his or her religious personality as seriously as he or she would be affected by an encroachment upon his or her physical integrity or a deprivation of liberty.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.2.1986 (9 C 16.85), BVerwGE 74, 31 (ZaöRV 48 [1988], 64)

Einleitung:

      Der Kläger, ein pakistanischer Staatsangehöriger, begehrte vergeblich die Gewährung politischen Asyls mit der Begründung, er habe als Angehöriger der Ahmadiyya-Bewegung in seiner Heimat unter erheblichen Repressalien zu leiden gehabt.

Entscheidungsauszüge:

      Der Asylanspruch ist ein individueller Anspruch. Er setzt voraus, daß dem Asylsuchenden gerade für seine Person die Gefahr politischer Verfolgung droht ... Dieses Erfordernis der Selbstbetroffenheit gilt auch unter den Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung. Für sie ist kennzeichnend, daß eine durch gemeinsame Merkmale verbundene Gruppe als solche Ziel einer politischen Verfolgung ist und daraus die Regelvermutung hergeleitet wird, daß jedes einzelne Gruppenmitglied von dem künftig zu befürchtenden Gruppenschicksal mitbetroffen ist (... BVerwGE 67, 314 [315] ...; BVerwGE 70, 232 [234]) ... Zwar richten sich die Strafvorschriften von 1984 [Anti-Islamic Activities of the Qadiani Group, Lahori-Group and Ahmadis (Prohibition and Punishment) Ordinance] - ausschließlich - gegen Angehörige der Ahmadiyya-Glaubensgemeinschaft. Daraus ergibt sich jedoch nicht, daß ... jeder einzelne Ahmadi ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalles bei einer Rückkehr nach Pakistan von den Verboten in eigener Person betroffen wäre oder aus anderen Gründen einer Verfolgung wegen seines Glaubens unterliegen würde. Davon könnte ohne weiteres nur dann ausgegangen werden, wenn bereits die jedem Gruppenmitglied eigene Religionszugehörigkeit ohne Rücksicht darauf zum Anlaß für Übergriffe genommen würde, ob der einzelne Gläubige überzeugter Glaubensanhänger ist, ob er seinen Glauben praktiziert oder ob er gar die aus der Sicht des pakistanischen Staates provokatorischen und von ihm daher unter Strafe gestellten religiösen Verhaltensweisen an den Tag legt.
      So liegt es im vorliegenden Fall jedoch nicht . ... Erst wenn die religiöse Betätigung der Ahmadis aus dem Binnenraum der Religionsgemeinschaft heraustritt und in bestimmter Weise in die Öffentlichkeit wirkt oder jedenfalls bestimmte Glaubensinhalte öffentlich wahrnehmbar werden, wird sie von staatlichen Verboten oder Geboten erfaßt, die nur eine bestimmte Form der nach außen sichtbaren Religionsausübung oder des Bekenntnisses zur Ahmadiyya zulassen. Derartige gesetzgeberische Maßnahmen gegen eine Religionsgemeinschaft berühren nicht notwendig jedes einzelne Mitglied der Gemeinschaft als solches in seiner Religionsfreiheit, sondern nur dann, wenn der einzelne seinen Glauben überhaupt praktiziert und wenn er dies in einem Umfang tut, der ihn mit den gegen die Gemeinschaft gerichteten Maßnahmen persönlich in Konflikt bringt. ...
      Zwar ist der Begriff der Verfolgung nicht auf Eingriffe in Leib, Leben und die physische Freiheit beschränkt. Auch Eingriffe in andere Freiheitsrechte können je nach den Umständen des Falles den Tatbestand einer Verfolgung erfüllen ... Dazu gehört insbesondere die Religionsfreiheit (BVerfGE 54, 341 [357, 358] ...). Andererseits ist es aber nicht Aufgabe des Asylrechts, die Grundrechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland in anderen Staaten durchzusetzen; nicht weil dort Grundrechte verletzt werden, sondern weil die Person des Asylsuchenden gefährdet ist, wird Asyl gewährt. ... Nicht jede Beeinträchtigung von durch das Grundgesetz der Bundesrepublik gewährleisteten Grundrechten in anderen Staaten stellt schon eine asylerhebliche politische Verfolgung dar. Verfolgungsmaßnahmen, die nicht mit einer Gefahr unmittelbar für Leib und Leben oder Beschränkungen der persönlichen Freiheit verbunden sind, bilden vielmehr nur dann einen Verfolgungstatbestand, wenn sie nach Intensität und Schwere die Menschenwürde verletzen und über das hinausgehen, was die Bewohner des Verfolgerstaats aufgrund des dort herrschenden Systems allgemein hinzunehmen haben ...
      Wann eine asylrechtlich erhebliche Verletzung der Menschenwürde durch Einschränkungen der Religionsfreiheit vorliegt, läßt sich nicht generell, sondern nur in Ansehung der konkreten Umstände des einzelnen Falles beurteilen ... Maßstab für die Beurteilung muß dabei sein, ob der Gläubige durch die ihm auferlegten Einschränkungen als religiös geprägte Persönlichkeit in ähnlich schwerer Weise wie bei Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit oder die physische Freiheit in Mitleidenschaft gezogen wird, so daß er in eine Notsituation gerät, in der ein religiös ausgerichtetes Leben und damit ein vom Glauben geprägtes "Personsein" nicht einmal mehr im Sinne eines "religiösen Existenzminimums" möglich ist. Dazu gehört als unverzichtbarer Kern nicht nur das forum internum häuslicher Andacht, sondern auch die Möglichkeit des gemeinsamen Gebets und des Gottesdienstes in Gemeinschaft mit anderen Gläubigen nach dem überlieferten Brauchtum.
      Bei Anlegung dieses Maßstabes werden jedenfalls einfache Mitglieder der Ahmadiyya-Gemeinschaft in Pakistan durch die Verbote in der Verordnung vom 26. April 1984 nicht in ihrer Menschenwürde verletzt. ...
      Daraus, daß nach dem Grundgesetz ein Verbot werbender Tätigkeit für eine (in ihren Zielen nicht gegen die Rechtsordnung verstoßende) Religionsgemeinschaft verfassungswidrig wäre, läßt sich ... nicht schließen, daß derartige Missionierungsverbote in anderen Ländern, noch dazu solchen mit einer Staatsreligion, automatisch eine asylrelevante Verletzung der Menschenwürde darstellten.