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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1000. AUSLIEFERUNG UND SONSTIGE INTERNATIONALE RECHTSHILFE

Nr.86/1

Die Auslieferung zur Strafvollstreckung aufgrund eines Abwesenheitsurteils ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn der Betroffene von dem gegen ihn anhängigen Verfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, sich ihm durch Flucht entzogen hat und im Verfahren von einem ordnungsgemäß bestellten Pflichtverteidiger unter Beachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen verteidigt werden konnte.

There will be no objection from a constitutional perspective to a fugitive offender's extradition for the purpose of execution of a sentence imposed in this person's absence, if the person concerned, having been informed about the criminal proceedings pending against him or her, fled from justice and could be defended at the proceedings in absentia by a defense counsel duly appointed by a court in accordance with minimum due process standards.

Bundesverfassungsgericht (1. Kammer des Zweiten Senats), Beschluß vom 17.11.1986 (2 BvR 1255/86), NJW 1987, 830 (ZaöRV 48 [1988], 71)

Einleitung:

      Die nicht zur Entscheidung angenommene Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen eine oberlandesgerichtliche Entscheidung, welche die Auslieferung des Beschwerdeführers an Italien zur Vollstreckung einer im Abwesenheitsverfahren verhängten Freiheitsstrafe für zulässig erklärt hat.

Entscheidungsauszüge:

      1. In der Rechtsprechung des BVerfG ist geklärt, daß die Gerichte der Bundesrepublik Deutschland bei der Entscheidung über die Zulässigkeit einer Auslieferung grundsätzlich von der Wirksamkeit der einem Auslieferungsersuchen zugrundeliegenden Akte auszugehen und deren Rechtmäßigkeit nicht nach Maßgabe des innerstaatlichen Rechts des ersuchenden Staates zu prüfen haben; sie sind jedoch nicht gehindert und gegebenenfalls auch verpflichtet zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte gegen den völkerrechtlich verbindlichen, von den Gerichten der Bundesrepublik Deutschland kraft Art.25 GG zu beachtenden Mindeststandard oder gegen unabdingbare verfassungsrechtliche Grundsätze ihrer öffentlichen Ordnung verstoßen (BVerfGE 59, 280 [282 ff.] ...; BVerfGE 63, 197 [206 ff.] ...). Das OLG hat eine derartige Prüfung vorgenommen; dabei ist es zu dem Ergebnis gekommen, daß weder die Verurteilung des Bf. in Abwesenheit noch die Fassung des Art.416 Codice Penale eine Auslieferung hindern. Hiergegen ist von Verfassungs wegen nicht zu erinnern:
      a) Zwar zählt das grundsätzliche Recht eines Angeklagten auf persönliche Anwesenheit in der Hauptverhandlung zum völkerrechtlich gesicherten, von Art.25 GG umfaßten menschenrechtlichen Mindeststandard (vgl. Art.14 Abs.3 lit.d des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte; Art.6 Abs.3 EMRK; Art.8 lit.d Amerikan. Menschenrechtskonvention; EGMR, EuGRZ 1985, 631). Der einschlägigen völkerrechtlichen Praxis ist indessen nicht zu entnehmen, daß die Durchführung strafrechtlicher Abwesenheitsverfahren schlechthin unzulässig wäre, mithin auch in Fällen gegen den völkerrechtlichen Mindeststandard verstieße, in denen der Betroffene von dem gegen ihn anhängigen Verfahren in Kenntnis gesetzt worden ist, sich ihm durch Flucht entzogen hat und im Verfahren von einem ordnungsgemäß bestellten Pflichtverteidiger unter Beachtung rechtsstaatlicher Mindestanforderungen verteidigt werden konnte (vgl. UN-AMR, EuGRZ 1983, 406 f.; ferner EGMR, EuGRZ 1985, 631; ...). Daß vorliegend ein solcher Fall gegeben war, hat das OLG ... in sachlich nachvollziehbarer, willkürfreier Weise dargetan. Eine Verletzung unabdingbarer Grundsätze des deutschen Verfassungsrechts kann nach alledem ebenfalls nicht festgestellt werden.
      b) Nach den verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Feststellungen des OLG genügt Art.416 ItalStGB rechtsstaatlichen Anforderungen an die Bestimmtheit strafrechtlicher Normen.
      2. Soweit sich der Bf. unmittelbar auf Art.6 Abs.3 EMRK beruft, greifen seine Rügen ebenfalls nicht durch. Angesichts der Rechtsprechung der Konventionsorgane ... ist die Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift durch das OLG verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.