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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1051. EUROPÄISCHES ÜBEREINKOMMEN ÜBER DIE RECHTSHILFE IN STRAFSACHEN VOM 20.4.1959 (BGBl. 1964 II S.1369;1976 II S.1799)

Nr.89/1

Das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen geht §73 des Gesetzes über die Internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) vom 23.12.1982 (BGBl.I S.2071) vor. Rechtshilfe ist daher nicht schon dann unzulässig, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widerspricht, sondern erst bei Verstößen gegen unabdingbare Grundsätze des allgemeinen humanitären Völkerrechts.

The European Convention on Mutual Assistance in Criminal Matters prevails over Sec.73 of the Act on International Assistance in Criminal Matters of December 23, 1982. Assistance in criminal matters will therefore be inadmissible only in cases of a violation of mandatory principles of general humanitarian public international law, and not if it merely violates basic principles of the German legal order.

Oberlandesgericht Schleswig, Beschluß vom 21.2.1989 (1 Ausl.1/89), NStZ 1989, 537 (ZaöRV 51 [1991], 216)

Einleitung:

      Nachdem ein türkisches Schwurgericht gegen den Beschuldigten Anklage wegen Notzucht erhoben hatte, ersuchte das türkische Generalkonsulat um seine Vernehmung. Das zuständige Amtsgericht hielt die beantragte Rechtshilfe als Verstoß gegen den deutschen ordre public für unzulässig, weil der Beschuldigte zur angeblichen Tatzeit erst elf Jahre alt gewesen sei. Nach §61 IRG holte es deshalb die Entscheidung des Oberlandesgerichts ein.

Entscheidungsauszüge:

      Für den Rechtshilfeverkehr der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei gilt das Europäische Übereinkommen über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20.4.1959 - EuRHÜbk (BGBl.1964 II, 1364ff.; 1976 II, 1799) ... Nach Art.2 lit.b EuRHÜbk kann die Rechtshilfe verweigert werden, wenn der ersuchte Staat der Ansicht ist, daß die Erledigung des Ersuchens geeignet ist, u.a. die öffentliche Ordnung (ordre public) seines Landes zu beeinträchtigen ...
      Die Leistung der Rechtshilfe ist in der Sache zulässig. Das Ersuchen, nämlich einen zur Tatzeit elfjährigen Beschuldigten richterlich zu vernehmen, verstößt ... nicht gegen die öffentliche Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
      Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sind die Gerichte gehalten zu prüfen, ob die Rechtshilfe gegen unabdingbare Grundsätze der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland verstoßen würde (BVerfGE59, 280, 282ff.). Das besagt allerdings nicht, daß die Rechtshilfe stets schon unzulässig ist, wenn sie wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung widersprechen würde, wie es in §73 IRG heißt. Denn dieser Vorschrift gehen die Regelungen in völkerrechtlichen Vereinbarungen und damit die des Europäischen Rechtshilfeübereinkommens vor (§1 Abs.3 IRG), das eine solche Einschränkung nicht enthält. Darunter sind vielmehr nur unabdingbare Grundsätze des allgemeinen humanitären Völkerrechts zu verstehen, die dem Vertragsvölkerrecht vorgehen und damit auch das Europäische Rechtshilfeübereinkommen beherrschen und begrenzen ... Im Lichte dieser Auslegung widerspricht es nicht dem ordre public, einen Elfjährigen dem Strafrecht zu unterstellen und ihn als Beschuldigten zu vernehmen.
      Die Altersgrenze für den Beginn der Schuldfähigkeit und damit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist international und auch innerhalb der europäischen Rechtsordnungen recht unterschiedlich festgelegt worden. Neben einer Anzahl von Staaten mit der gleichen Altersgrenze von 14 Jahren wie Deutschland haben viele Staaten diese Grenze bei anderen Altersstufen gezogen oder besitzen sie in ihrer Rechtsordnung gar nicht. Die Niederlande verzichten auf eine untere Grenze der Strafmündigkeit, ebenso einige Staaten der USA, z.B. Florida. In Spanien wird das Kind ab 6 Jahren strafmündig, in der Schweiz ab 7 Jahren, in Israel ab 9 Jahren, in England ab 10 Jahren, in Frankreich ab 13 Jahren und in Schweden ab 15 Jahren ... Eine wissenschaftliche Klärung, warum die Schuldfähigkeit erst mit Vollendung des 14. Lebensjahres beginnt, fehlt bislang ... Zudem sind vormundschaftsgerichtliche Maßnahmen, etwa der Freiheitsentzug in einem geschlossenen Heim (§§64ff. JWG), die auch nach §12 JGG im Jugendstrafverfahren möglich sind, ohne untere Altersbeschränkung zulässig. Daraus ergibt sich, daß auch nach deutschem Recht schwerwiegende Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte von Kindern in Betracht kommen. Bei dem dargelegten breiten Spektrum des angenommenen Beginns der Schuldfähigkeit von Kindern läßt sich nach Auffassung des Senats nicht feststellen, daß die von der Türkei in Art.54 türk. StGB festgesetzte untere Altersgrenze von 11 Jahren für den möglichen Beginn der Schuldfähigkeit gegen unabdingbare Grundsätze des allgemeinen humanitären Völkerrechts verstößt.