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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.1 Satz 1 EMRK (Verfahrensdauer)

Nr.91/1

[a] Es bleibt dahingestellt, ob Art.6 Abs.1 EMRK auf einen finanzgerichtlichen Prozeß Anwendung findet.

[b] Selbst wenn ein finanzgerichtliches Verfahren übermäßig lange gedauert haben sollte, kommt der Erlaß von Aussetzungszinsen als Sanktion nicht in Betracht.

[a] The question whether Art.6 (1) of the European Convention on Human Rights applies to proceedings in the tax courts is left unanswered.

[b] Even if tax court proceedings have been unreasonably delayed, the disallowance of interest which accrued to the tax authority during the proceedings because the authority temporarily suspended the execution of the tax assessment cannot be considered an appropriate sanction.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 21.2.1991 (V R 105/84), BFHE 163, 313 (ZaöRV 53 [1993], 414)

Einleitung:

      Die Klägerinnen hatten erfolglos gegen einen Steuerbescheid geklagt. Seine Vollziehung war während der fast zwölfjährigen Dauer des Verfahrens ausgesetzt worden. Nach dessen Abschluß setzte das Finanzamt Zinsen für die Dauer der Aussetzung der Vollziehung des Steuerbescheides fest (sog. Aussetzungszinsen). Diese wurden zunächst entrichtet. Nachträglich beantragten die Klägerinnen einen Erlaß der Aussetzungszinsen aus Billigkeitsgründen (§277 AO) und begründeten ihren Antrag u.a. mit der überlangen Dauer des Verfahrens.

Entscheidungsauszüge:

      3. ... c) ... bb) ... Nach Art.6 Nr.1 Satz 1 der Menschenrechtskonvention, soweit die Bestimmung hier von Interesse ist, hat jedermann Anspruch darauf, daß seine Sache innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das u.a. über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen zu entscheiden hat. Hieraus ergibt sich, daß das den Verfahrensabschluß betreffende Beschleunigungsgebot ("...innerhalb einer angemessenen Frist...") für zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen gilt. Ob auch ein finanzgerichtlicher Prozeß wegen der Rechtmäßigkeit einer Umsatzsteuerfestsetzung als Streitsache über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen angesehen werden kann ..., bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung. Denn selbst bei Verletzung der Bestimmung des Art.6 Nr.1 Satz 1 der Menschenrechtskonvention wäre der beantragte Erlaß der Aussetzungszinsen, wie sich aus den nachstehenden Ausführungen zu Art.19 Abs.4 Satz 1 GG ergibt, nicht geboten.
      Nach der vorbezeichneten Grundrechtsvorschrift steht einem durch die öffentliche Gewalt Verletzten der Rechtsweg offen. Hierdurch wird verfassungsrechtlich ein wirksamer Rechtsschutz gegenüber der öffentlichen Gewalt gewährt, und zwar auch demjenigen, der bloß glaubt, durch die öffentliche Gewalt verletzt zu sein. Die Einbeziehung der Wirksamkeit des Rechtsschutzes in die Garantie gebietet, daß der Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit zu gewähren ist ...
      Selbst wenn, wie die Klägerinnen geltend machen, ihr Anspruch auf Rechtsschutzgewährung innerhalb angemessener Zeit verletzt worden wäre, konnte die Oberfinanzdirektion ermessensfehlerfrei den Standpunkt einnehmen, mit Rücksicht auf Sinn und Zweck der Aussetzungszinsen sei deren Erlaß nicht geboten. Dementsprechend durfte die OFD von der Ermittlung absehen ..., ob und inwieweit die angemessene Frist überschritten worden ist, sowie ob und inwieweit die lange Verfahrensdauer ganz oder teilweise auf das Verhalten der Klägerinnen zurückzuführen ist....
      Sofern nicht im Einzelfall ein konkreter Schaden geltend gemacht wird, kommt bei nicht rechtzeitiger Rechtsschutzgewährung als Sanktion in Betracht, daß die sofortige Vollziehbarkeit des angefochtenen Steuerbescheids (vgl. §361 Abs.1 AO 1977 und §69 Abs.1 FGO) aufgehalten wird ... Der hierin liegende Vorteil ist den Klägerinnen für die gesamte Verfahrensdauer durch Gewährung der Aussetzung der Vollziehung zuteil geworden.
      Eine weitere Sanktion durch teilweisen Erlaß der Aussetzungszinsen ist aus dem Blickwinkel der Rechtsschutzgarantie nicht geboten, ebenfalls nicht vom Sinn und Zweck der Aussetzungszinsen her. Die Erhebung von Aussetzungszinsen soll zum einen verhindern, daß durch Anfechtungsklagen "ohne ernsthafte Erfolgsaussichten", verbunden mit einer gleichwohl erlangten Aussetzung der Vollziehung, die Abgabenentrichtung zinslos hinausgeschoben wird. Zum anderen sollen der Zinsnachteil des Steuergläubigers, der den Abgabenbetrag nicht schon bei Fälligkeit, sondern erst nach Beendigung der Aussetzung der Vollziehung erhält, und der Zinsvorteil des Steuerpflichtigen ausgeglichen werden ... Beide vom Gesetzgeber verfolgten Zwecke behalten auch in denjenigen Fällen ihre Berechtigung, in denen ohne Hinzutun des Steuerpflichtigen die angemessene Verfahrensdauer überschritten wird, und zwar auch für die Zeitspanne zwischen dem zeitlich angemessenen und dem tatsächlichen, späteren Prozeßende ...
      Soweit es um den Zweck des Ausgleichs geht, ist folgendes zu berücksichtigen: Zinsvorteil und -nachteil werden nicht im Einzelfall genau errechnet, sondern pauschal ermittelt; dies kommt im festen Zinssatz für die Berechnung der Aussetzungszinsen zum Ausdruck. Aufgrund der Höhe des Zinssatzes läßt sich nicht ausschließen, daß es für den Steuerpflichtigen auch in Prozessen mit überlanger Verfahrensdauer trotz der Aussetzungszinsen sogar vorteilhaft sein kann, von dem ihm eingeräumten Zahlungsaufschub Gebrauch zu machen, und daß er - im Unterschied zum Steuergläubiger, dem entsprechende Einflußmöglichkeiten auf den Zahlungseingang und damit auf den Zinslauf fehlen - anderenfalls die Steuer vor Beendigung der Aussetzung der Vollziehung entrichten könnte.