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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.2 EMRK

Nr.92/2

Vor der rechtskräftigen Aburteilung der Anlaßtat ist ein Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nach §56f Abs.1 Satz 1 Nr.1 StGB in der Regel nur zulässig, wenn der Verurteilte im Beisein seines Verteidigers vor einem Richter ein Geständnis abgelegt hat, das für den Widerrufsrichter glaubhaft und bis zur Widerrufsentscheidung nicht seinerseits begründet widerrufen worden ist.

In general, the revocation of the suspension of a sentence on probation pursuant to sec.56f (1) (1) (1) of the Criminal Code for a new criminal offense for which the probationer has not yet been finally sentenced, will be admissible only if the probationer has confessed to a judge in the presence of his or her defense counsel, if the confession seems credible to the judge deciding on the revocation, and if the confession has not itself been revoked in a well-founded manner before the decision on the revocation is taken.

Oberlandesgericht Schleswig, Beschluß vom 31.3.1992 (1 Ws 509/91), NJW 1992, 646 (ZaöRV 54 [1994], 528)

Einleitung:

      Sachverhalt wie bei 1112-Art.6 Abs.2-[92/1]

Entscheidungsauszüge:

      Die sofortige Beschwerde des Verurteilten hat keinen Erfolg ... Auch nach Auffassung des Senats war die dem Verurteilten gewährte Strafaussetzung zur Bewährung zu widerrufen, weil sich durch die neuen Straftaten des Verurteilten gezeigt hat, daß die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, sich nicht erfüllt hat (§56f Abs.1 Nr.1 StGB).
      Daß die neuen Straftaten noch nicht rechtskräftig abgeurteilt worden sind, ändert hieran nichts. In seinem Beschluß vom 22.1.1991 (StrVert 1991, 173) hat der Senat zwar entschieden, der Widerruf einer Strafaussetzung nach §56f Abs.1 Nr.1 StGB setze zwingend voraus, daß eine rechtskräftige Verurteilung der Nachtat bereits vorliegt. Er hatte diese Auffassung aus dem im Art.6 Abs.2 EMRK niedergelegten Prinzip der Unschuldsvermutung abgeleitet, die für den gesetzlichen Nachweis einer schuldhaft begangenen Straftat ein prozeßordnungsgemäßes Verfahren gebietet.
      Eine erneute Überprüfung dieser Rechtsansicht hat den Senat aber veranlaßt, seine Auffassung dahingehend zu modifizieren, daß die Unschuldsvermutung für den gesetzlichen Nachweis einer schuldhaft begangenen Straftat zwar ein prozeßordnungsgemäßes Verfahren, aber nicht zwingend gebietet, daß dieses Verfahren rechtskräftig abgeschlossen worden ist.
      Der Senat ist nach wie vor der Ansicht, daß die Unschuldsvermutung, der als besonderer Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips Verfassungsrang zukommt und die über Art.6 Abs.2 EMRK zugleich Bestandteil des positiven Rechts der Bundesrepublik Deutschland im Range eines Bundesgesetzes geworden ist, auch den Verurteilten vor Nachteilen schützt, "die Schuldspruch oder Strafe gleichkommen, denen aber kein rechtsstaatliches prozeßordnungsgemäßes Verfahren zur Schuldfeststellung und Strafbemessung vorausgegangen ist" (BVerfGE 74, 358 [371] ...). Dieser Grundsatz kann auch nicht durch Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte relativiert werden, wie sie zur Begründung des angefochtenen Widerrufsbeschlusses angeführt worden sind, insbesondere nicht damit, daß durch schnelles Eingreifen auf dem Widerrufswege ein weiteres Abgleiten des Delinquenten verhütet werden könne oder daß von der (Rest-)Vollstreckung der verhängten Strafe positive Signale für die neue, die Anlaßtat betreffende Strafe ausgehen können (im Sinne von Strafhöhensenkung oder Vollstreckungsaussetzung).
      Nach der erneuten Überprüfung seiner bisherigen Rechtsansicht vertritt der Senat jedoch nunmehr die Auffassung, daß das Prinzip der Unschuldsvermutung im Widerrufsverfahren nach §56f Abs.1 Nr.1 StGB eine rechtskräftige Schuldfeststellung hinsichtlich der den Widerruf auslösenden Anlaßtat jedenfalls dann nicht erzwingt, wenn von der Strafjustiz für die Widerrufsentscheidung lediglich die vom Verurteilten selbst eingeräumte Schuld zugrundegelegt, also keine Schuldfeststellung im eigentlichen Sinne ausgesprochen wird. Allerdings ist dabei sicherzustellen, daß der Verurteilte die Bedeutung und die Folgen seines Schuldeingeständnisses erkennt. Bei einem solchen Vorgehen sind auch die vom Bundesverfassungsgericht verlangten Erfordernisse eines rechtsstaatlichen prozeßordnungsgemäßen Verfahrens gewahrt.
      Deshalb ist ein Widerruf nach §56f Abs.1 Nr.1 StGB oder ein Absehen davon nach §56f Abs.2 StGB mit den entsprechenden Zusatzentscheidungen, bevor die jeweilige Anlaßtat rechtskräftig abgeurteilt worden ist, zulässig in der Regel nur unter folgenden Voraussetzungen: Das Schuldeingeständnis ist für den Widerrufsrichter glaubhaft, es ist im Beisein des Verteidigers und vor einem Richter abgegeben und es ist (bis zur gerichtlichen Widerrufsentscheidung) nicht begründet widerrufen worden ...