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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.3 lit.d EMRK

Nr.93/1

Art.6 Abs.3 lit.d EMRK gibt dem Angeklagten das Recht, anonymen polizeilichen Vertrauenspersonen, deren Aussage durch eine Verhörsperson als Zeuge vom Hörensagen in die Hauptverhandlung eingeführt wird, einen vorbereiteten Fragenkatalog zur Beantwortung vorlegen zu lassen.

Under Art.6 (3) (d) of the European Convention on Human Rights the accused has the right to have a prepared questionnaire submitted to and answered by an anonymous police informant whose testimony has been introduced in the trial by the informant's interrogator as a hearsay witness.

Bundesgerichtshof, Beschluß vom 5.2.1993 (2 StR 525/92), NStZ 1993, 292ff. (ZaöRV 55 [1995], 867)

Einleitung:

      Der Angeklagte wurde wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Er begründet seine Revision mit der Verfahrensrüge, das Landgericht habe zu Unrecht seinen Antrag zurückgewiesen, den beiden anonymen polizeilichen Vertrauenspersonen, deren Wahrnehmungen durch polizeiliche Verhörspersonen als Zeugen vom Hörensagen in die Hauptverhandlung eingeführt worden waren, einen vorbereiteten Fragenkatalog zur Beantwortung vorzulegen.

Entscheidungsauszüge:

      II.1. In der Verfahrensweise des LG liegt ein Verstoß gegen Art.6 Abs.3 lit.d EMRK, weil dem Angeklagten das dort garantierte Recht, Fragen an Belastungszeugen zu stellen oder stellen zu lassen, verweigert wurde.
      a) Die polizeilichen Vertrauenspersonen waren Zeugen im Sinne von Art.6 Abs.3 lit.d EMRK, auch wenn sie ihre Angabe nicht in der Hauptverhandlung machten (EGMR, StV 1992, 499f.; vgl. auch EGMR, StV 1990, 481ff.; 1991, 193).
      b) Wenn das LG ihr Wissen in die Hauptverhandlung einführen und bei seiner Überzeugungsbildung verwerten wollte, dann mußte es bei der Beweiserhebung die Vorschriften der Strafprozeßordnung und der EMRK beachten. Sowohl die Strafprozeßordnung als auch die EMRK gewährt dem Angeklagten das Recht, die Zeugen zu befragen. Durch die Entscheidung des Hessischen Ministers des Innern, die Anonymität der Vertrauenspersonen zu wahren, war zwar eine unmittelbare Vernehmung in öffentlicher Verhandlung mit der Möglichkeit, die Zeugen gemäß §§239 ff. StPO direkt zu befragen, ausgeschlossen. Die genannte Entscheidung hatte aber nur den Zweck, persönliche Eigenarten, Merkmale und Daten der Vertrauenspersonen, die zu ihrer Enttarnung führen könnten, gegenüber den Verfahrensbeteiligten geheim zu halten. Deshalb war das Gericht verpflichtet, die Beweisaufnahme unter Beachtung der Belange der Vertrauenspersonen in einer Form durchzuführen, die dem im Gesetz grundsätzlich vorgesehenen Verfahren am nächsten kam ... Wie sich aus Art.6 Abs.3 lit.d EMRK herleiten läßt, ist in den Fällen der Sperrung eines Zeugen die Vorlegung von Fragen, welche dieser in geeigneter Form zu beantworten hat, ein zulässiges Mittel der Wahrheitsfindung. Es ist der unmittelbaren Vernehmung der Beweisperson in der Hauptverhandlung zwar weder in förmlicher Hinsicht noch nach seinem Beweiswert gleichzuachten. Unter den gegebenen Umständen ist es aber ein Verfahren, welches einer solchen Vernehmung am nächsten kommt. Soweit eine Beantwortung vorgelegter Fragen nicht zur Enttarnung führen konnte, war das Gericht deshalb nicht befugt, dem Angeklagten oder seinem Verteidiger diese Befragung generell zu untersagen. Eine Ablehnung des Beweisbegehrens setzte vielmehr einen rechtfertigenden Grund voraus.