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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.3 lit.e EMRK

Nr.88/1

[a] Art.6 Abs.3 lit.e EMRK begründet für das gerichtliche Ordnungswidrigkeitenverfahren keinen Anspruch auf Freistellung von den durch die Heranziehung eines Dolmetschers entstandenen Kosten, da dem die Vorschrift des §11 Gerichtskostengesetz (GKG) i.V.m. Nr.1904 des Kostenverzeichnisses entgegensteht.

[b] Die in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerten Wertentscheidungen können im Rahmen der vertragskonformen Auslegung deutschen Rechts nur innerhalb Schranken berücksichtigt werden, die einer Auslegung gezogen sind.

[c] Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben Feststellungscharakter; sie überlassen dem Staat die Wahl der Mittel seiner innerstaatlichen Rechtsordnung, um die ihm nach Art.53 EMRK obliegende Verpflichtung zu erfüllen.

[a] With regard to judicial procedure concerning administrative offenses, Art.6 (3) (e) of the European Convention on Human Rights does not give rise to the right to an exemption from the costs of using an interpreter, in view of the contrary provision of §11 of the Law on Court Costs in conjunction with No.1904 of the Cost Sched-ule.

[b] The value judgments embodied in the European Convention on Human Rights can be taken into consideration when interpreting German law but only within the limits established by the general rules of interpretation.

[c] Decisions of the European Court of Human Rights are declaratory. They leave to the state the choice of of how it will adapt its municipal legal order to fulfil its obligation under Art.53 of the European Convention on Human Rights.

Landgericht Heilbronn, Beschluß vom 2.3.1988 (3 Qs 680/87), EuGRZ 1991, 185 (ZaöRV 52 [1992], 421) (s.1112 - Art.53 EMRK [88/1])

Einleitung:

      In einem Ordnungswidrigkeitsverfahren gegen den ausländischen Betroffenen, der der deutschen Sprache nicht mächtig war, hatte das Amtsgericht einen Dolmetscher hinzugezogen. Die dadurch entstandenen Auslagen wurden dem Betroffenen nach seiner Verurteilung im Jahre 1987 gemäß §11 GKG i.V.m. Nr.1904 des Kostenverzeichnisses zum GKG in seiner damals geltenden Fassung auferlegt. Die Erinnerung des Betroffenen gegen den Kostenansatz wies das Amtsgericht durch Beschluß vom 26.8.1987 zurück. Die hiergegen erhobene Beschwerde wurde vom Landgericht als unbegründet verworfen.

Entscheidungsauszüge:

      Zwar hat nach Art.6 Abs.3 lit.e Menschenrechtskonvention (MRK) jeder Angeklagte einen Anspruch auf kostenlose Beiziehung eines Dolmetschers, falls er ... der Gerichtssprache nicht mächtig ist. Aus Art.6 Abs.3 lit.e MRK läßt sich aber für das gerichtliche Bußgeldverfahren ein Anspruch des Betroffenen auf Freistellung von den durch die Heranziehung eines Dolmetschers entstandenen Kosten ... nicht herleiten, da dem die Vorschrift des §11 Gerichtskostengesetz (GKG) in Verbindung mit Nr.1904 des Kostenverzeichnisses (KV) zum GKG entgegensteht. Nach Nr.1904 Satz 2 KV zum GKG dürfen nur die Beträge für die Dolmetscher und Übersetzer, die im Strafverfahren herangezogen wurde, nicht in den Kostenansatz aufgenommen werden. Für eine erweiternde Auslegung der Nr.1904 Satz 2 KV zum GKG dahin, daß auch die im gerichtlichen Bußgeldverfahren angefallenen Dolmetscherkosten vom Kostenansatz auszunehmen sind, ist kein Raum. Eine solche erweiternde Auslegung scheitert schon am eindeutigen Wortlaut der Nr.1904 KV, der ausdrücklich nur vom Strafverfahren spricht. Auch nach dem Willen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drucksache 8/3691, S.22) soll Nr.1904 Satz 2 des KV zum GKG Geltung nur für das Strafverfahren haben. Ein Redaktionsversehen des Gesetzgebers insoweit scheidet aus; dem Gesetzgeber war nämlich bei der Neufassung der Nr.1904 KV zum GKG der Unterschied zwischen Strafverfahren einerseits und Bußgeldverfahren andererseits bewußt, wie sich aus dem Wortlaut der Nr.1914 KV zum GKG ergibt. Der Gesetzgeber hat demnach in Nr.1904 Satz 2 KV zum GKG bewußt das Bußgeldverfahren ausgenommen; es muß deshalb von einer vom Gesetzgeber absichtlich so geschaffenen Regelung ausgegangen werden, so daß - weil keine Gesetzeslücke vorliegt - für eine Analogie kein Raum bleibt. Dies gilt umso mehr deshalb, als auch schon die Entstehungsgeschichte der Nr.1904 Satz 2 KV zum GKG eine enge Auslegung dieser Bestimmung gebietet. Sie wurde durch Gesetz vom 18.August 1980 in das Kostenverzeichnis eingefügt, also zu einem Zeitpunkt, als der Europäische Gerichtshof für ... Menschenrechte (EGMR) bereits entschieden hatte, daß einem Angeklagten in Strafverfahren ein endgültiger Anspruch auf kostenlose Beiziehung eines Dolmetschers auch im Falle einer Verurteilung zusteht (EGMR in EuGRZ 1979, 24 ...). Der Gesetzgeber war demnach offensichtlich bei Verabschiedung des Gesetzes vom 18.8.1980 ... der Auffassung, daß Art.6 Abs.3 lit.e MRK für das Bußgeldverfahren nicht gilt; dies ergibt sich im übrigen auch aus der Stellungnahme der Bundesregierung im Fall Öztürk (vgl. EGMR, EuGRZ 1985, 62 ...). Daher wurden bei der Neufassung der Nr.1904 KV zum GKG konsequenterweise allein die im Strafverfahren anfallenden Dolmetscher- und Übersetzerkosten vom Kostenansatz ausgenommen. Trotz der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für ... Menschenrechte ..., der im erwähnten Fall Öztürk Art.6 Abs.3 lit.e MRK auch im Bußgeldverfahren für anwendbar gehalten hat, hat der deutsche Gesetzgeber seine Haltung bis heute beibehalten und trotz mehrfacher Änderungen des Kostenverzeichnisses ... eine Anpassung der Nr.1904 KV an die neuere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für ... Menschenrechte unterlassen. Wie eine Anfrage der Kammer ... beim Bundesminister der Justiz ergeben hat, sind zwar derzeit erste Überlegungen im Gange, ob und ggfs. wie der Rechtsauffasung des EGMR Rechnung zu tragen ist; konkrete Vorstellungen über eine derartige Gesetzesänderung sind jedoch noch nicht vorhanden. Die Gerichte können aber Entschließungen des Gesetzgebers nicht vorwegnehmen und sind an die bestehenden Gesetze gebunden.
      ... An einer Analogiegrundlage für die Anwendung der Nr.1904 Satz 2 KV zum GKG auf das Bußgeldverfahren fehlt es auch deswegen, weil die Vorschriften der Menschenrechtskonvention zwar unmittelbar als innerstaatliches Recht gelten, jedoch gegenüber dem sonstigen innerstaatlichen Recht keinen Vorrang genießen. Sie haben nicht etwa Verfassungsrang, sondern nur den Rang eines einfachen Bundesgesetzes (vgl. BVerfGE 10, 271 [274]...) ...
      Die in der Menschenrechtskonvention - einem durch Bundesgesetz vom 7. August 1952 (BGBl.II, S.685) in innerstaatliches Recht transformierten völkerrechtlichen Vertrag - festgelegten Rechte stellen auch keine allgemeinen Regeln des Völkerrechts dar, die nach Art.25 GG den einfachen Gesetzen vorgehen würden. Die MRK als Normensystem erfüllt nicht das Erfordernis der allgemeinen Anerkennung, da die in ihr niedergelegten Grundsätze in ihrer Gesamtheit nicht bei der Mehrzahl der Mitglieder der Völkerrechtsgemeinschaft Geltung beanspruchen können und in deren Rechtsüberzeugung eingegangen sind. Es handelt sich allenfalls um partikuläres Völkerrecht, das nicht unter die allgemeine Transformationsnorm des Art.25 GG fällt ...
      Die entgegenstehende Ansicht, daß die Normierungen der Menschenrechtskonvention als partikuläres Völkerrecht gemäß Art.25 GG den Bundesgesetzen im Range vorgehen ..., steht im Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der allgemeine Regeln des Völkerrechts im Sinne des genannten Artikels nur solche sind, die von der überwiegenden Mehrheit der Staaten als verbindlich anerkannt werden (vgl. BVerfGE 16, 27; 15, 25); regionales und partikuläres Völkerrecht sowie Völkervertragsrecht (Art.59 GG) fallen nicht darunter ...
      Nr.1904 KV zum GKG ist deshalb trotz der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für ... Menschenrechte vom 21.2.1984 [EuGRZ 1985, 62] in seiner derzeitigen Fassung von den deutschen Gerichten und Behörden weiter anzuwenden. Es ist in Rechtsprechung und Literatur absolut herrschende Meinung, daß die Urteile dieses Gerichtshofs im wesentlichen Feststellungscharakter haben und dem Staat die Wahl der Mittel seiner innerstaatlichen Rechtsordnung überlassen, um die ihm aus Art.53 MRK obliegende Verpflichtung zu erfüllen (EGMR, EuGRZ 1979, 454 ...). Art.53 MRK verpflichtet die Regierungen der Vertragsstaaten, sich nach der Entscheidung des Gerichtshofs zu richten. Dies bedeutet aber nur, daß die Bundesregierung gehalten ist, für eine gesetzliche Regelung im Sinne der Urteile des EGMR zu sorgen. Der ist bislang ... hinsichtlich der vorliegend in Frage stehenden Erhebung der Dolmetscherkosten im Bußgeldverfahren nicht geschehen ...
      Das Urteil des EGMR vom 21.2.1984 ... hat deshalb weder die Nichtigkeit der deutschen Kostennormen zur Folge, noch bindet es über den entschiedenen Fall hinaus unmittelbar die deutschen Gerichte ..., weil der Bundesgesetzgeber im Hinblick auf seine in Art.59 GG zum Ausdruck kommende Souveränität jederzeit die Möglichkeit hat, konventionswidriges, innerstaatlich jedoch wirksames Recht zu setzen ...
      Dies enthebt allerdings die deutschen Gerichte nicht der Verpflichtung, in eigener Entscheidung zu prüfen, ob einem Ausländer ein Anspruch auf Freistellung von den Dolmetscherkosten unmittelbar aus Art.6 Abs.3 lit.e MRK erwächst. Denn die Menschenrechtskonvention gilt als innerstaatliches Recht im Range eines einfachen Bundesgesetzes und ist vor deutschen Gerichten und Verwaltungsbehörden unmittelbar anwendbar ... Dies hat jedoch noch keinen Anspruch des Betroffenen auf Freistellung von den Dolmetscherkosten im Bußgeldverfahren zur Folge. Die in Befolgung des (die unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers in Strafverfahren betreffenden) Urteils des EGMR vom 28.11.1978 (EuGRZ 1979, 24 ...) durch das Gesetz vom 18. August 1980 (BGBl.I S.1503) eingefügte Vorschrift der Nr.1904 Satz 2 KV stellt im Regelungszusammenhang mit Satz 1, von dem sie eine Ausnahme bildet, gegenüber Art.6 Abs.3 lit.e MRK das sowohl jüngere als auch speziellere Gesetz dar, das nach den Grundsätzen "lex posterior derogat legi priori" und "lex specialis derogat legi generali" die ältere und allgemeinere Regelung verdrängt ...
      Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 74, 358 [370] ...) sind die Gesetze im Einklang mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland auszulegen und anzuwenden, selbst wenn sie zeitlich später erlassen worden sind als ein geltender völkerrechtlicher Vertrag; denn es ist nicht anzunehmen, daß der Gesetzgeber, sofern er dies nicht klar bekundet hat, von völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland abweichen oder die Verletzung solcher Verpflichtungen ermöglichen will. Allerdings können bei einer solchen "vertragskonformen Auslegung" die in der Menschenrechtskonvention verankerten Wertentscheidungen nur innerhalb der Auslegungsschranken berücksichtigt werden ... Der in Nr.1904 Satz 2 KV verwendete Begriff "Strafverfahren" ist aber klar und eindeutig und läßt für eine Auslegung dahingehend, daß er auch das Bußgeldverfahren umfaßt, keinen Raum. Darüber hinaus hat der Gesetzgeber nicht nur durch diese Wortwahl, sondern ... auch in der amtlichen Begründung (BT-Drucksache 8/3691, S.22) klar bekundet, daß die Vorschrift nicht für Bußgeldverfahren gelten soll. Solange der Gesetzgeber an dieser Haltung nichts ändert, sind die Gerichte an die bestehenden Gesetze gebunden.
      Hinweis:
      Die nach Art.25 EMRK erhobene Individualbeschwerde des Betroffenen wurde durch einen Vergleich beigelegt (EKMR, Entscheidung vom 13.7.1990 - Beschwerde Nr.14261/88 - Shanmukanathan./.Bundesrepublik Deutschland, EuGRZ 1991, 160). Die Rechtslage ist inzwischen der Straßburger Rechtsprechung angepaßt worden (vgl. Art.2 Abs.1 des Gesetzes zur Änderung des Gerichtskostengesetzes und der Strafprozeßordnung vom 15.6.1989, BGBl.1989 I S.1083).