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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.6 Abs.3 lit.e EMRK

Nr.90/1

[a] Im Anschluß an das Luedicke-Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat der sprachunkundige Angeklagte einen Anspruch darauf, daß ihm für notwendige Gespräche mit seinem Wahlverteidiger ein Dolmetscher unentgeltlich beigeordnet wird.

[b] Hat der Wahlverteidiger die Dolmetscherkosten verauslagt, weil über den Antrag auf Beiordnung eines Dolmetschers nicht rechtzeitig entschieden worden ist, kann er von der Staatskasse Erstattung verlangen.

[a] It follows from the decision of the European Court of Human Rights in the Luedicke case that a defendant who does not understand or speak the language used in court has the right to have the free assistance of an interpreter assigned to him or her for necessary conversations with the defense counsel of his or her choice.

[b] If the defense counsel has disbursed the costs for the interpreter because the court has not decided in a timely fashion on the application to assign an interpreter to the defendant, the counsel can claim reimbursement from the government.

Kammergericht, Beschluß vom 12.1.1990 (4 Ws 122/89), NStZ 1990, 402 mit Anmerkung von H. Hilger (ZaöRV 52 [1992], 423)

Einleitung:

      Der beschwerdeführende Anwalt hatte sich als Wahlverteidiger des später Verurteilten gemeldet und zugleich darum gebeten, diesem für die Verteidigergespräche einen Dolmetscher beizuordnen, da er der deutschen Sprache nicht mächtig sei. Dieser Antrag wurde nicht beschieden. Daraufhin führte der Anwalt nach der Eröffnung des Hauptverfahrens das Gespräch unter Hinzuziehung eines Dolmetschers, den er selbst bezahlte. Nachdem der Anwalt später dem Angeklagten als Pflichtverteidiger beigeordnet worden war, beantragte er beim Landgericht erfolglos die Erstattung seiner Dolmetscherauslagen. Seine Beschwerde hatte Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      1. Dem Landgericht ist allerdings einzuräumen, daß der Beschwerdeführer die Erstattung der Dolmetscherkosten nicht nach §97 Abs.2 Satz 1 in Verbindung mit §126 Abs.1 BRAGO oder nach §97 Abs.3 BRAGO verlangen kann. §97 Abs.2 Satz 1 BRAGO bezieht sich nur auf solche Auslagen, die dem Pflichtverteidiger nach seiner Beiordnung zum Pflichtverteidiger entstanden sind. Die vom Beschwerdeführer beanspruchten Auslagen sind ihm aber als Wahlverteidiger entstanden.
      Nach §97 Abs.3 BRAGO erhält der Pflichtverteidiger "für seine Tätigkeit als Verteidiger vor Eröffnung des Hauptverfahrens" die Vergütung, zu der nach §1 Abs.1 BRAGO auch die Auslagen gehören, unabhängig vom Zeitpunkt seiner Bestellung. Die geltend gemachten Dolmetscherkosten sind jedoch erst nach der Eröffnung des Hauptverfahrens entstanden. ...
      2. Dem Beschwerdeführer steht jedoch aus Art.6 Abs.3 Buchst. e EMRK i.V. mit §2 Abs.4 Satz 2 GKG ein Anspruch auf Erstattung der verauslagten Dolmetscherkosten gegen die Landeskasse zu ...
      Nach dem grundlegenden Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 23.10.1978 (NJW 1979, 1091 [Luedicke u.a.]) ist entgegen der früher anderslautenden deutschen Rechtsprechung heute anerkannt, daß jedenfalls die von der Staatskasse für den von dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft hinzugezogenen Dolmetscher aufgebrachten Kosten von dem sprachunkundigen Angeklagten auch dann nicht zurückverlangt werden können, wenn dieser schließlich zur Tragung der Verfahrenskosten verurteilt wird. Diesem Grundsatz hat der Gesetzgeber durch das 5. Änderungsgesetz zur BRAGO vom 18.8.1980 (BGBl. I S.1503) mit einem Zusatz zu Nr.1904 des Kostenverzeichnisses zum GKG Rechnung getragen, wonach Auslagen für Dolmetscher und Übersetzer, welche im Strafverfahren herangezogen werden, um die für die Verteidigung des sprachunkundigen Beschuldigten erheblichen Erklärungen oder Schriftstücke zu übertragen, von dem zur Tragung der Kosten Verurteilten grundsätzlich nicht zu erstatten sind.
      Dementsprechend hat nach der heute wohl herrschenden Meinung der Gerichtsvorsitzende dem sprachunkundigen Beschuldigten auf seinen Antrag für die notwendigen Gespräche mit seinem Wahlverteidiger einen Dolmetscher beizuordnen, der dann ohne Rücksicht auf den Ausgang des Strafverfahrens aus der Staatskasse zu entschädigen ist ...
      Hat dagegen der Wahlverteidiger zu dem Mandantengespräch selbst einen Dolmetscher zugezogen, der nicht vorher amtlich beigeordnet worden ist, so soll ihm nach der herrschenden Meinung ... gegen die Staatskasse kein Anspruch auf Erstattung der Dolmetscherkosten zustehen. Anders verhält es sich beim Pflichtverteidiger. Er kann nach allgemeiner Ansicht gemäß §§97 Abs.2 Satz 1, 126 BRAGO aus der Staatskasse den Ersatz der erforderlichen Kosten für den von ihm selbst beauftragten Dolmetscher verlangen ...
      Auch das Kammergericht hat bisher die Auffassung vertreten, weder der zur Tragung der Verfahrenskosten verurteilte Angeklagte noch sein Wahlverteidiger hätten gegen die Staatskasse einen Anspruch auf Erstattung der Kosten für den von ihnen selbst für die Verteidigergespräche herangezogenen Dolmetscher. Es hat darüber hinaus ausgeführt, das gelte auch für den Fall, daß das Gericht der Heranziehung des Dolmetschers durch den Wahlverteidiger auf Kosten der Staatskasse vorher zugestimmt habe, denn die unentgeltliche "Beiordnung" eines Dolmetschers für die Gespräche mit dem Wahlverteidiger komme nicht in Betracht, zumal sich auch Art.6 Abs.3 Buchst. e EMRK nur auf das Verhältnis des Angeklagten zum Gericht beziehe; der sprachunkundige Angeklagte, der nicht die Mittel habe, um die Gebühren und Auslagen eines Wahlverteidigers zu tragen, müsse daher bei dem Gericht die Bestellung eines Pflichtverteidigers beantragen, wenn die Voraussetzungen dafür vorlägen (vgl. KG, GA 1977, 278 ...).
      An dieser Auffassung hält der Senat nicht fest. Sie ist durch die Rechtsprechung des EGMR zu Art.6 Abs.3 Buchst. e EMRK überholt. Dieser hat in seinem Urteil vom 23.10.1978 ausgeführt, daß sich diese Bestimmung nicht nur auf die Hauptverhandlung bezieht, sondern daß dem sprachunkundigen Angeklagten der Anspruch auf den unentgeltlichen Beistand eines Dolmetschers zusteht, damit ihm sämtliche Schriftstücke und mündlichen Erklärungen in dem gegen ihn durchgeführten Verfahren übersetzt werden, auf deren Verständnis er angewiesen ist, um ein faires Verfahren zu haben; Sinn der Bestimmung sei es, jede Ungleichheit zwischen einem Angeklagten, der der Gerichtssprache nicht mächtig ist, und einem solchen, der sie beherrscht, zu verhindern. Für einen Angeklagten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, wird ein faires Verfahren in aller Regel nur gewährleistet sein, wenn er die Möglichkeit erhält, mit Hilfe eines Dolmetschers die notwendigen vorbereitenden Gespräche mit seinem Verteidiger zu führen ... Der Umweg über die Bestellung des Wahlverteidigers zum Pflichtverteidiger ist schon deshalb wenig sinnvoll, weil dadurch die Staatskasse unnötigerweise zusätzlich zu den Dolmetscherkosten auch noch die Pflichtverteidigergebühren zu tragen hat ... Im übrigen hat der Angeklagte keinen Rechtsanspruch darauf, daß ihm sein Wahlverteidiger auch als Pflichtverteidiger beigeordnet wird ... Darin liegt die Gefahr einer weiteren unnötigen Schlechterstellung des sprachunkundigen Angeklagten ...
      Der Senat hält daher mit der herrschenden Meinung in Fällen der vorliegenden Art die unentgeltliche Beiordnung eines Dolmetschers in entsprechender Anwendung von Art.6 Abs.3 Buchst. e EMRK, §185 Abs.1 Satz 1 GVG und §§140 ff. StPO für zulässig und geboten.
      Hat das Gericht den Dolmetscher nicht vorher beigeordnet, obwohl die Voraussetzungen des Art.6 Abs.3 Buchst. e EMRK vorliegen, so steht dem Wahlverteidiger, der den Dolmetscher mit der Übersetzung der notwendigen Verteidigergespräche selbst beauftragt hat, insoweit entgegen der herrschenden Meinung, ohne Rücksicht auf den Ausgang des Verfahrens ein Erstattungsanspruch gegen die Staatskasse in entsprechender Anwendung des §2 Abs.4 Satz 2 GKG jedenfalls dann zu, wenn - wie hier - über seinen rechtzeitig gestellten Beiordnungsantrag nicht entschieden worden ist.
      In §2 Abs.4 Satz 1 GKG wird geregelt, daß jemandem, der von Kosten befreit ist, bereits erhobene Kosten zurückzuzahlen sind. §2 Abs.4 Satz 2 GKG bestimmt, daß einem von Kosten Befreiten, der Kosten des Verfahrens übernommen hat, diese zurückzuzahlen sind. Ein Fall der Kostenbefreiung nach §2 Abs.1 GKG liegt nicht vor. In §2 Abs.2 GKG heißt es jedoch, daß sonstige bundesrechtliche Vorschriften, durch die für Verfahren vor den ordentlichen Gerichten eine sachliche oder persönliche Befreiung von Kosten gewährt ist, in Kraft bleiben. Nach allgemeiner Meinung ist die [Europäische] Menschenrechtskonvention unmittelbar geltendes innerstaatliches Recht im Rang eines Bundesgesetzes ... Die erwähnte Entscheidung des EGMR hat zwar weder die Nichtigkeit deutscher Kostennormen zur Folge, noch bindet sie die deutschen Gerichte ... Bei der Gesetzesauslegung sind jedoch die Wertentscheidungen der Menschenrechtskonvention stets zu berücksichtigen ... Der Gesetzgeber hat zwar bei der Schaffung des §2 GKG nur an einen von vornherein generell bestimmten Personenkreis gedacht, dem er Kostenfreiheit aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung gewähren wollte, und nicht an die in Art.6 Abs.3 Buchst. e EMRK geregelte Kostenbefreiung des sprachunkundigen Angeklagten. Dennoch läßt sich auf §2 Abs.4 Satz 2 GKG nach Wortlaut und Sinn der Bestimmung zumindest in entsprechender Anwendung der Anspruch des Beschwerdeführers auf Erstattung der von ihm für den Angeklagten verauslagten Dolmetscherkosten stützen (a.A. ... KG , Rpfleger 1988, 330, 332).
      Der von den Vertretern der herrschenden Meinung (vgl. OLG Stuttgart [StV 1986, 491] und Zweibrücken [NJW 1980, 2143] ...) gegen eine Erstattung ohne vorherige Beiordnung erhobene Einwand, die erforderliche Prüfung des Gerichts zur Frage der Notwendigkeit und des Umfangs der Tätigkeit des Dolmetschers könne unterlaufen werden, wenn man die Auswahl und Beauftragung dem Ausländer oder dem Wahlverteidiger ohne jedes Kostenrisiko überließe, ist nicht stichhaltig. In allen Verfahrensordnungen gilt der Grundsatz, daß nur solche Auslagen zu erstatten sind, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendig waren ... Der Kostenbeamte muß auch die Erforderlichkeit der von dem Pflichtverteidiger ohne vorherige gerichtliche Feststellung der Erforderlichkeit nach §126 Abs.2 BRAGO in Rechnung gestellten Dolmetscherkosten prüfen ... Der Wahlverteidiger und sein Mandant, die einen Dolmetscher ohne dessen vorherige gerichtliche Beiordnung zum Verteidigergespräch hinzuziehen, handeln somit also gerade nicht ohne, sondern mit vollem Kostenrisiko ...
      Ob der sprachunkundige Angeklagte nur beim Vorliegen der Voraussetzungen einer notwendigen Verteidigung die unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers verlangen kann, weil dieses Recht nicht weitergehen soll als der Anspruch auf unentgeltliche Verteidigung nach Art.6 Abs.3 Buchst. c EMRK ..., kann offenbleiben, weil hier ein Fall der notwendigen Verteidigung nach §140 Abs.1 Nr.1 StPO gegeben war.
      Der Erstattungsanspruch setzt nicht die Mittellosigkeit des Angeklagten voraus ... Diese wird zwar in Art.6 Abs.3 Buchst. c EMRK für die unentgeltliche Beiordnung eines Verteidigers verlangt. Art.6 Abs.3 EMRK beschreibt aber nur die Mindestrechte eines Angeklagten. Da das deutsche Recht die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ebensowenig von den wirtschaftlichen Verhältnissen des Angeklagten abhängig macht wie Art.6 Abs.3 Buchst. e EMRK die unentgeltliche Beiziehung eines Dolmetschers für den sprachunkundigen Angeklagten, kann es im vorliegenden Zusammenhang auf die Mittellosigkeit des Angeklagten nicht ankommen.