Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law Logo Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law

You are here: Publications Archive Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993

Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


Home | Inhalt | Zurück | Vor

Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1112. EINZELNORMEN DER EMRK

Art.10 EMRK

Nr.92/1

[a] Wie den Grundrechten des Grundgesetzes kommt auch den in der Europäischen Menschenrechtskonvention verbürgten Rechten über die Generalklauseln des Privatrechts eine Ausstrahlungswirkung auf private Rechtsverhältnisse zu.

[b] Kraft der in Art.10 Abs.1 EMRK garantierten grenzüberschreitenden Informationsfreiheit in Verbindung mit §242 BGB kann ein ausländischer Mieter vom Vermieter die Duldung einer eigenen Parabolantenne verlangen, wenn anders dem Mieter der Empfang von Fernsehprogrammen aus seinem Heimatstaat nicht möglich ist.

[a] Like the fundamental rights guaranteed by the Basic Law, the rights embodied in the European Convention on Human Rights affect private law relations by virtue of the general clauses of the German private law.

[b] By virtue of the freedom of the trans-boundary flow of information under Art.10 (1) of the European Convention on Human Rights in conjunction with sec.242 of the Civil Code, a foreign tenant has the right to demand that the landlord tolerate the tenant's installation of a satellite dish, if the tenant would otherwise have no possibility of receiving television programs from his or her home state.

Amtsgericht Tauberbischofsheim, Urteil vom 8.5.1992 (C 1/92), NJW-RR 1992, 1098 (ZaöRV 54 [1994], 530) (rechtskräftig)

Einleitung:

      Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, hatte von der Beklagten eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus gemietet. Diese verweigerte ihm die Erlaubnis, an dem Haus eine eigene Parabolantenne anbringen zu dürfen, mit der der Kläger Sendungen aus seinem Heimatstaat empfangen wollte. Die Klage auf Duldung einer solchen Antenne hatte Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      Der Kläger hat gegen die Beklagte gem. §§535 Satz 1 und 242 BGB in Verbindung mit Art.10 Abs.1 EMRK einen Anspruch auf Duldung der Anbringung einer eigenen Parabol-Antenne zum Empfang von Fernsehsendungen aus seinem Heimatland Türkei. ...
      1. ... a) Art.10 Abs.1 EMRK gewährt jedermann ein Recht auf Freiheit zum Empfang von Nachrichten ohne Rücksicht auf Landesgrenzen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat der Formulierung von Art.10 EMRK nicht nur ein Recht des Publikums entnommen, die von den Medien verbreiteten Informationen zu erhalten, sondern darüber hinaus von einem Recht gesprochen, angemessen informiert zu werden (EGMR, EuGRZ 1979, 386 - Sunday Times). Die Frage, was eine solche angemessene Information ist, kann nach Auffassung des Gerichtes nicht mit allgemein gültigen Maßstäben generell definiert werden. Entscheidend sind hierbei vielmehr auch individuelle Bedürfnisse des jeweiligen Grundrechtsträgers mit zu berücksichtigen. Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, hat im vorliegenden Verfahren unwidersprochen vorgetragen, daß mit der bereits vorhandenen Antennenanlage ... aus technischen Gründen ein Empfang von Sendungen aus der Türkei nicht möglich ist ... Hinzu kommt, daß dem Kläger ein legitimes Informationsbedürfnis über die Vorgänge in seinem Heimatland nicht abgestritten werden kann. ... Das Gericht erachtet den bloßen Verweis auf die Möglichkeit der Information aus Tageszeitungen ... nicht für geeignet, dem Kläger eine angemessene Information im Sinne des Art.10 EMRK zu gewährleisten. ... Der zeitliche Verzögerungseffekt, der den gedruckten Medien allgemein eigen ist, verstärkt sich im Fall des Klägers noch dadurch, daß türkische Tageszeitungen gerade im ländlichen Raum noch keineswegs flächendeckend und auch nicht stets am Erscheinungstag erhältlich sind. ...
      b) Dem Recht des Klägers, ausnahmsweise Duldung einer eigenen Parabol-Antenne verlangen zu können, steht auch nicht entgegen, daß Art.10 EMRK ähnlich wie Art.5 Abs.1 GG von seiner Konstruktion her grundsätzlich als Abwehrrecht gegenüber staatlichen Eingriffen ausgestaltet ist. Der Beklagten ist insoweit zwar zuzugeben, daß Grundrechte von ihrem Ansatzpunkt her nicht dazu geschaffen sind, privatrechtliche Beziehungen zu regeln. Andererseits ist jedoch durchaus anerkannt, daß die Grundrechte über die Generalklauseln der §§242, 138 und 826 BGB mittelbar in das Privatrecht einwirken. Was Treu und Glauben entspricht, wird entscheidend durch das in den Grundrechten verkörperte Wertsystem mitbestimmt ... Nichts anderes gilt auch für Grundrechte, die nicht im Grundgesetz enthalten sind, jedoch aus entsprechenden internationalen Vereinbarungen und Konventionen herrühren. Dazu gehört auch die EMRK, die vom Bundesverfassungsgericht mehrfach ausdrücklich als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte des Grundgesetzes herangezogen worden ist (BVerfGE 74, 358 [370] ...). Die EMRK ist somit nicht nur Bestandteil der innerstaatlichen deutschen Rechtsordnung, sondern auch konstitutiver Teil des geltenden Wertsystems. Als solchem kommt ihr auch im Bereich des Privatrechtes durchaus mittelbare Wirkung über die zivilrechtlichen Generalklauseln zu. Das Gericht ist deshalb gehalten, bei der Bestimmung der mietrechtlichen Nebenpflichten im Rahmen des §242 BGB gerade auch die Ausstrahlungswirkung von Art.10 EMRK zu berücksichtigen. Art.10 EMRK kommt dadurch als der für den Empfang grenzüberschreitender Nachrichten spezielleren Regelung dieselbe Bedeutung zu, die Art.5 GG gewöhnlich im vorliegenden Zusammenhang beigemessen wird. Insofern ist es nicht ohne Bedeutung, daß das Bundesverfassungsgericht erst jüngst die Ansicht des Kammergerichts (NJW 1985, 2031) gebilligt hat, nach der das, was Treu und Glauben im Rahmen der §§535, 536 und 242 BGB entspricht, maßgeblich durch das Grundrecht auf Informationsfreiheit mitbestimmt wird (BVerfG, NJW 1992, 493 [494]).
      c) Die Bundesrepublik Deutschland ist wie die Türkei völkerrechtlich an die EMRK gebunden. In der Bundesrepublik ist die Konvention durch das innerstaatliche Zustimmungsgesetz Bestandteil der deutschen Rechtsordnung geworden (BGBl.1952 II S.685, 953). Sie ist nach allgemeiner Ansicht vor deutschen Gerichten unmittelbar anwendbares Recht. Die Freiheit zum Empfang von Nachrichten ohne Rücksicht auf Landesgrenzen, wie sie in Art.10 Abs.1 EMRK verbürgt ist, beinhaltet dabei auch Ansätze einer positiven Seite der Informationsfreiheit, nämlich eines Rechts auf Information ... Dabei besteht anders als in Art.5 GG keine Einschränkung auf allgemein zugängliche Quellen. Auf diesen tendenziell weiteren Schutzaspekt kommt es vorliegend jedoch auch insoweit gar nicht an, als die Beklagte einwendet, daß der Empfang des türkischen Fernsehens in Deutschland nicht unbedingt als ortsüblich betrachtet werden könne. Auch ein Fernsehprogramm verliert nämlich nicht deshalb den Charakter einer allgemein zugänglichen Informationsquelle, weil es an einem bestimmten Ort nicht in dem Sinne ortsüblich ist, daß es dort nur mit überdurchschnittlichem Aufwand empfangen werden kann ...

Hinweis:

      Zu einem ähnlichen Ergebnis auf der Grundlage des deutschen Verfassungsrechts ohne Rückgriff auf Art.10 EMRK kommt das Bundesverfassungsgericht im Beschluß vom 9.2.1994 (BVerfGE 90, 27 [36]): "Das von Art.5 Abs.1 Satz 1 Halbsatz 2 GG geschützte Interesse ausländischer Mieter am Empfang von Rundfunkprogrammen ihres Heimatlandes ist bei der Abwägung mit den Eigentumsinteressen des Vermieters zu berücksichtigen."