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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1130. SONSTIGE INTERNATIONALE MENSCHENRECHTSNORMEN

Europäische Sozialcharta vom 18.10.1961 (BGBl.1964 II S.1261)

Nr.92/1

[a] Die Europäische Sozialcharta begründet unmittelbar keine in nationalen Gerichtsverfahren einklagbaren Individualrechte.

[b] Da die Vertragsparteien sich die innerstaatliche Umsetzung der rechtspolitischen Zielsetzungen der Europäischen Sozialcharta ausdrücklich vorbehalten haben, bewirkt die Charta unmittelbar auch keine Bindung des Verwaltungsermessens.

[a] The European Social Charter does not create individual rights directly enforceable in national court proceedings.

[b] As the contracting parties have expressly reserved to themselves the domestic implementation of the legal policy objectives of the European Social Charter, the Charter does not directly bind national administrative authorities when exercising their discretion.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.12.1992 (7 C 12.92), BVerwGE 91, 327 (ZaöRV 54 [1994], 475) (s.1842.60 [92/2])

Einleitung:

      Die türkische Klägerin, die mit ihrem Ehemann, einem türkischen Arbeitnehmer, in Baden-Württemberg lebt, beantragte die Zahlung von Landeserziehungsgeld. Dieses soll das auf das erste Lebensjahr beschränkte Bundeserziehungsgeld so ergänzen, daß sich ein Elternteil auch während des zweiten Lebenjahres voll der Kinderbetreuung widmen kann, ohne aus wirtschaftlichen Gründen erwerbstätig sein zu müssen. Da das baden-württembergische Landeserziehungsgeld nach ministeriellen Vergaberichtlinien als freiwillige Leistung nur Staatsangehörigen eines EG-Mitgliedstaats gewährt wird, wurde der Antrag abgelehnt. Während ihre dagegen gerichtete Klage in der Berufungsinstanz noch Erfolg gehabt hatte (VGH Baden-Württemberg, InfAuslR 1992, 200), wies das Bundesverwaltungsgericht sie ab.

Entscheidungsauszüge:

      1. Dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art.3 Abs.1 GG, auf den sich auch Ausländer berufen können ..., läßt sich die vom Berufungsgericht bejahte Gleichstellung nicht entnehmen. Art.3 Abs.1 GG gebietet, wesentlich Gleiches nicht willkürlich ungleich zu behandeln. ... Von einer willkürlichen Ungleichbehandlung der Klägerin als türkische Staatsangehörige kann keine Rede sein. ... Bei dem Landeserziehungsgeld handelt es sich ... um eine familienpolitische Sozialleistung. Die Entscheidung des Landes ..., diese Sozialleistung ... nur deutschen und sonstigen EG-Staatsangehörigen zu gewähren, ist sachlich vertretbar; sie ist Ausfluß der haushaltsrechtlichen Gestaltungsfreiheit des Landes und kann deshalb durch die Gerichte nicht zugunsten der Klägerin korrigiert werden ...
      2. Ein Anspruch der Klägerin auf Gleichstellung mit den nach den Vergaberichtlinien begünstigten EG-Staatsangehörigen ergibt sich auch nicht aus Art. 16 der Europäischen Sozialcharta vom 18. Oktober 1961 - ESC (BGBl.II 1964 S.1261). Es ist bereits zweifelhaft, ob sich der Sozialcharta überhaupt ein die Klägerin begünstigendes Gleichbehandlungsgebot entnehmen läßt. Die Klägerin ist die Ehefrau eines türkischen Wanderarbeitnehmers. Die speziell zum Schutz der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien in Art.19 ESC vorgesehene Inländergleichbehandlung ist hier nicht einschlägig; insbesondere wird das streitige Landeserziehungsgeld nicht von Art.19 Nr.4 Buchstabe a) ESC ("das Arbeitsentgelt und andere Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen") erfaßt. Die Frage, ob Art.19 ESC die Gleichbehandlung türkischer Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien abschließend regelt, bedarf indes keiner Entscheidung. Ebenso kann offenbleiben, welche Bedeutung der im Anhang zur Europäischen Sozialcharta getroffenen, deren persönlichen Geltungsbereich regelnden Anordnung zukommt, die Art. 1 bis 17 ESC "im Sinne der Art. 18 und 19 auszulegen". Denn das Begehren der Klägerin hat auch dann keinen Erfolg, wenn man zu ihren Gunsten davon ausgeht, daß sich mit Blick auf das hier in Rede stehende Landeserziehungsgeld aus Art.16, gegebenenfalls in Verbindung mit der erwähnten Vorschrift des Anhangs, ein spezielles Gleichbehandlungsgebot entnehmen läßt. Bei der Europäischen Sozialcharta handelt es sich nämlich um einen völkerrechtlichen Vertrag, der - von etwaigen hier nicht einschlägigen Ausnahmen abgesehen (vgl. BAGE 48, 160 [170]; 58, 343 [350]) - keine unmittelbaren Rechte einzelner Bürger begründet, sondern lediglich rechtspolitische Zielsetzungen beinhaltet, deren Umsetzung in einklagbares nationales Recht sich die Vertragsparteien ausdrücklich vorbehalten haben (vgl. ... BVerwGE 66, 268 [274] ... BVerwGE 65, 188 [196]). Dies folgt aus Teil III des Anhangs zur Sozialcharta, der gemäß Art.38 ESC Bestandteil der Charta ist. Dort heißt es: "Es besteht Einverständnis darüber, daß die Charta rechtliche Verpflichtungen internationalen Charakters enthält, deren Durchführung ausschließlich der in ihrem Teil IV vorgesehenen Überwachung unterliegt". Die in Art.21 bis 29 ESC geregelte "Überwachung" sieht weder behördliche noch gerichtliche Kontrollen innerhalb der einzelnen Vertragsstaaten, sondern lediglich Berichte der Vertragsparteien über die Anwendung der von ihnen angenommenen Verpflichtungen (Art.21 ESC), eine Prüfung der Berichte durch einen Sachverständigenausschuß (Art.24 ESC) und einen (Unter-)Ausschuß des Europarats (Art.27 ESC) sowie Empfehlungen des Ministerkomitees an die Vertragsparteien (Art.29 ESC) vor. Demgemäß handelt es sich bei den Regelungen der Charta grundsätzlich nicht um Rechtssätze, die einer unmittelbaren, gerichtlich überprüfbaren Anwendung im innerstaatlichen Recht zugänglich sind ... Dies macht auch die Entstehungsgeschichte der in Teil III des Anhangs getroffenen Bestimmung deutlich. Diese wurde auf Vorschlag der Bundesregierung eingefügt, um zu verhindern, daß irgendeine Bestimmung des Abkommens durch "Transformation" oder "Adoption" innerstaatlich in der Weise beachtlich wird, daß sich der einzelne vor den staatlichen Gerichten auf die Sozialcharta berufen könnte ...; hierauf hat die Bundesregierung in ihrer Denkschrift vom 25. März 1964 zum Entwurf eines Gesetzes zur Europäischen Sozialcharta ... (BT-Drucks. IV/2117, S. 1 [28]) verwiesen.
      An einer das Begehren der Klägerin stützenden Umsetzung der Europäischen Sozialcharta in die innerstaatliche Rechtsordnung fehlt es. Insbesondere stellt nach dem zuvor Gesagten das Gesetz zur Europäischen Sozialcharta vom 19. September 1964 (BGBl.II 1964 S.1261) keine solche Umsetzung dar. Dieses Gesetz dokumentiert vielmehr lediglich, daß die Europäische Sozialcharta als völkerrechtlicher Vertrag die nach Art.59 Abs.2 GG gebotene Zustimmung der innerstaatlich zuständigen Gesetzgebungsorgane gefunden hat. Auch der Entschluß des Landes Baden-Württemberg, auf freiwilliger Grundlage ein Landeserziehungsgeld zu gewähren, hat über Art.16 ESC ein einklagbares nationales Recht zugunsten der Klägerin nicht entstehen lassen. Die ausdrückliche Beschränkung des Kreises der Antragsberechtigten auf EG-Staatsangehörige in Nr.3.1.1 der Vergaberichtlinien macht im Gegenteil deutlich, daß das Land als der innerstaatlich zuständige Leistungsträger eine die Angehörigen der ESC-Signatarstaaten umfassende Umsetzung gerade nicht vornehmen wollte.
      Da der zwischen den Vertragsparteien vereinbarte Umsetzungsvorbehalt nicht umgangen werden darf, läßt sich die Charta auch nicht, wie das Berufungsgericht meint, "bei der innerstaatlichen Ermessensausübung" über die Vergabe von Landeserziehungsgeld zugunsten der Klägerin fruchtbar machen. Zu Unrecht beruft sich der Verwaltungsgerichtshof insoweit auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. November 1982 (BVerwGE 66, 268 [274]). Dieser Entscheidung ist lediglich zu entnehmen, daß die Ausländerbehörde die in Art.19 Nr.6 ESC völkervertraglich vereinbarte Verpflichtung, die Familienzusammenführung von Wanderarbeitnehmern "soweit möglich zu erleichtern", bei ihrer Ermessensentscheidung zu "berücksichtigen", also als entscheidungserheblichen Gesichtspunkt im Rahmen des §2 Abs.1 Satz 2 AuslG in Rechnung zu stellen hat. Um eine solche völkerrechtskonforme Ausfüllung des der Behörde zur zweckentsprechenden Einzelfallregelung gesetzlich eingeräumten Ermessens handelt es sich hier nicht, sondern darum, entgegen dem Umsetzungsvorbehalt in Teil III des Anhangs zur Europäischen Sozialcharta den vom Land Baden-Württemberg im Rahmen seiner haushaltsrechtlichen Gestaltungsfreiheit ohne Willkür festgelegten Kreis von Leistungsempfängern durch Richterspruch zu erweitern. Wegen der eindeutigen anderslautenden Festlegungen des Landes kann die Europäische Sozialcharta selbst dann nicht - etwa im Wege der Auslegung oder Ausfüllung von Regelungslücken ... - zugunsten der Klägerin herangezogen werden, wenn die für die Gewährung des Landeserziehungsgelds maßgeblichen Vergaberichtlinien einer gesetzlichen Regelung gleichgestellt würden.