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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1130. SONSTIGE INTERNATIONALE MENSCHENRECHTSNORMEN

Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 (BGBl.1992 II S.122)

Nr.93/2

Ungeachtet der von der Bundesrepublik Deutschland bei der Ratifikation des Übereinkommens über die Rechte des Kindes abgegebenen Erklärungen kann ausländischen Kindern aus dem Übereinkommen ein Rechtsanspruch auf Verbleib im Bundesgebiet erwachsen.

Notwithstanding the declarations made by the Federal Republic of Germany when ratifying the Convention on the Rights of the Child, a right to remain in the federal territory can accrue to foreign children under the Convention.

Verwaltungsgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 24.11.1993 (5 E 11833/93.A [2]), NVwZ 1994, 1137 (ZaöRV 55 [1995], 868) (rechtskräftig)

Einleitung:

      Der 1979 in Afghanistan geborene und 1985 in die Bundesrepublik Deutschland eingereiste Kläger, der zu seinen als Flüchtlinge im Iran lebenden Eltern keinen Kontakt hat, wohnt seit 1992 wochentags bei einer Pflegefamilie, an Wochenenden bei seinem zum Vormund bestellten Onkel, einem anerkannten Asylberechtigten. Nachdem die Aufenthaltsbefugnis des Klägers abgelaufen war, beantragte er Asyl. Der Antrag wurde abgelehnt; zugleich stellte das zuständige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge fest, daß Abschiebungshindernisse nach §53 AuslG nicht bestünden. Die Klage auf Verpflichtung des Bundesamtes zur Feststellung, daß in der Person des Klägers Abschiebungshindernisse vorliegen, hatte Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      Die einzelnen in [§53 AuslG] aufgeführten Abschiebungshindernisse stellen ... einfach-gesetzliche Konkretisierungen geltenden Verfassungsrechts, insbesondere der Art.1 Abs.1, 2 Abs.2 GG, und zumindest partiell die Umsetzung ohnehin verbindlichen Völkervertragsrechts dar. Soweit enge familiäre Bindungen im Bundesgebiet einer Abschiebung entgegenstehen, entfaltet Art.6 Abs.1 GG ein unmittelbares Abschiebungshindernis. Dies ergibt sich im Wege eines Erst-Recht-Schlusses auch aus Art.53 Abs.4 AuslG, der eine Abschiebung für unzulässig erklärt, wenn diese gegen Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt. Ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention kann aber unter anderem dann gegeben sein, wenn mit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme in rechtswidriger Weise in das Recht auf Familienleben des Art.8 Abs.1 EMRK eingegriffen wird (vgl. nur EGMR, EuGRZ 1993, 552 - Moustaquim; EuGRZ 1993, 556 - Beldjoudi).
      Hinsichtlich des Klägers besteht ein Abschiebungshindernis im Sinne des Art.6 Abs.1 GG, da im Falle der Durchsetzung der ihm aufgegebenen Ausreisepflicht in verfassungswidriger Weise in sein Grundrecht auf Schutz der Familie eingegriffen würde. ...
      Verstärkt wird diese dem Kläger zustehende Rechtsposition durch weitere völkerrechtliche Verpflichtungen, die die Bundesrepublik eingegangen ist. Die Bundesrepublik Deutschland ist mit Ratifikationsgesetz vom 17.2.1992 (BGBl.II S.121) dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20.11.1989 beigetreten. Das UN-Abkommen trat für Deutschland am 5.4.1992 in Kraft (BGBl.II S.990), Art.16 Abs.1 der UN-Kinder-Konvention verbietet willkürliche oder rechtswidrige Eingriffe unter anderem in das Privatleben und die Familie eines Kindes. Da dem Kläger im Falle der ... Abschiebung nach Afghanistan die familiäre und soziale Existenz in der Bundesrepublik Deutschland genommen würde und eine die Schutzfunktionen der familiären Bande übernehmende und zumutbare Alternative in Afghanistan nicht zur Verfügung stünde, stellt sich insoweit die Abschiebungsandrohung als rechtswidrig im Sinne des Art.16 Abs.1 UN-Kinder-Konvention dar.
      Art.20 Abs.1 der UN-Kinder-Konvention betont zudem den Anspruch eines Kindes auf den besonderen Schutz und Beistand des Staates, sofern ein Kind vorübergehend oder dauernd aus seiner familiären Umgebung herausgelöst wird. Eine systematische Auslegung dieser Vorschrift ergibt, daß sie das Herauslösen aus der leiblichen Familie meint. Ist dies eingetreten, haben die Vertragsstaaten nach Maßgabe ihres innerstaatlichen Rechts andere Formen der Betreuung eines solchen Kindes sicherzustellen (Art.20 Abs.2 UN-Kinder-Konvention). Als solche andere Form der Betreuung gilt unter anderem die Aufnahme in eine Pflegefamilie, wobei unter anderem "die erwünschte Kontinuität in der Erziehung des Kindes" zu berücksichtigen ist. Um eine Betreuung im so geforderten Maße, wie sie auch im Falle des Klägers eingerichtet worden ist, konventionsgemäß durchzuführen, die Kontinuität der Erziehung bewahren und die erworbene soziale Existenz im Bundesgebiet sicherstellen zu können, impliziert dies zwangsläufig die Notwendigkeit, den weiteren Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland zu genehmigen.
      Entsprechende Verpflichtungen lassen sich schließlich auch aus Sinn und Zweck des Art.22 UN-Kinder-Konvention (Status von Flüchtlingskindern) entnehmen. Zwar enthält die UN-Kinder-Konvention im wesentlichen lediglich völkerrechtliche Staatenverpflichtungen, nicht aber unmittelbar einklagbare individuelle Rechtsansprüche. Die persönlichen Umstände des Klägers sind jedoch dermaßen gewichtig, daß sich die der Bundesrepublik Deutschland ihm gegenüber obliegenden Staatenverpflichtungen zu einem Rechtsanspruch auf weiteren Verbleib im Bundesgebiet verdichten.
      Dem steht auch nicht die von der Bundesregierung im Rahmen der Niederlegung der Ratifikationsurkunde abgegebene Erklärung entgegen, wonach aus Sicht der Bundesrepublik die Kinder-Konvention ausschließlich Staatenverpflichtungen begründet und keine Bestimmung dahin ausgelegt werden könne, "daß sie das Recht der Bundesrepublik Deutschland beschränkt, Gesetze und Verordnungen über die Einreise von Ausländern und die Bedingungen ihres Aufenthalts zu erlassen oder Unterschiede zwischen Inländern und Ausländern zu machen" (BGBl.1992 II S.990). Da die Bundesregierung jedoch die Kinder-Konvention ohne einen entsprechenden förmlichen Vorbehalt ratifiziert hat, kommt jener Erklärung keine rechtlich relevante Bedeutung zu.
      Schließlich ergeben sich Abschiebungshindernisse auch aus Art.1 und 2 des von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierten Übereinkommens über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen (Haager Minderjährigenschutzabkommen) vom 5.10.1961 (BGBl.1971 II S.217). Nach Art.1 MSA sind die Behörden des Aufenthaltsstaates verpflichtet, Maßnahmen zum Schutze der Person und des Vermögens des Minderjährigen zu treffen. Schutzmaßnahmen in diesem Sinne sind nicht nur solche, die den eigentlichen Bereich der elterlichen Sorge und der Vormundschaft betreffen. Vielmehr läßt sich aus Art.1 MSA auch die Verpflichtung und das Recht herleiten, gegebenenfalls ausländerrechtliche Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um den weiteren Verbleib eines ausländischen Kindes im Bundesgebiet zu sichern.