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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1550. WIEDERVEREINIGUNG DEUTSCHLANDS

Nr.91/3

Nach der Suspendierung der Vorbehaltsrechte der Vier Mächte in bezug auf Berlin steht der Gerichtsbarkeit des Bundesverfassungsgerichts in Berliner Sachen auch insoweit nichts mehr im Wege, als eine mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Entscheidung eines Berliner Gerichts bereits vor dieser Suspendierung ergangen ist.

After the suspension of the rights relating to Berlin retained by the Four Powers, the Federal Constitutional Court may exercise jurisdiction with regard to cases decided by the Berlin courts. Its jurisdiction extends even to a constitutional complaint against the decision of a Berlin court rendered before the suspension of the Four Powers rights.

Bundesverfassungsgericht (2.Kammer des Zweiten Senats), Beschluß vom 12.7.1991 (2 BvR 1463/90), DVBl.1991, 1139 (ZaöRV 53 [1993], 439 f.)

Einleitung:

      Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein Urteil des Landgerichts Berlin, das zu einer Zeit ergangen war, als die alliierten Vorbehaltsrechte in bezug auf Berlin noch bestanden.

Entscheidungsauszüge:

      III. ... 1. Die angefochtene Entscheidung des LG Berlin unterliegt der Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht.
      a) Die Vier Mächte haben durch Art.7 des Vertrages vom 12.9.1990 über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland (BGBl.II S.1317) ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes beendet. Als Ergebnis des Vertrages wurden die entsprechenden damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst. Das vereinte Deutschland hat demgemäß die volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten erlangt. Der Vertrag ist nach seinem Art.9 nach Hinterlegung der Ratifikationsurkunden durch die Vier Mächte und das vereinte Deutschland am 15.3.1991 in Kraft getreten (Bekanntmachung vom 15.3.1991, BGBl.II S.587). Schon zuvor hatten die Vier Mächte durch ihre "Erklärung zur Aussetzung der Wirksamkeit der Vier-Mächte-Rechte und -Verantwortlichkeiten" vom 1.10.1990 die Wirksamkeit ihrer Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes mit Wirkung vom Zeitpunkt der Vereinigung Deutschlands bis zum Inkrafttreten des Vertrages ausgesetzt. Mithin steht seit dem 3.10.1990 der in Nr.4 des Genehmigungsschreibens der Militärgouverneure zum Grundgesetz (VOBl. BZ S.416) enthaltene Berlin-Vorbehalt der Ausübung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in "Berliner Sachen" nicht mehr entgegen. Dementsprechend bestimmt §1 des 6.Überleitungsgesetzes vom 25.9.1990 (BGBl.I S.2106), daß Bundesrecht, das in Berlin (West) aufgrund alliierter Vorbehaltsrechte bisher nicht oder nicht in vollem Umfang gilt, vom Inkrafttreten dieses Gesetzes an uneingeschränkt in Berlin (West) gilt, soweit sich aus den §§2 und 3 nicht etwas anderes ergibt. Nach seinem §5 Abs.1 ist dieses Gesetz mit der zum 3.10.1990 wirksamen Suspendierung der alliierten Vorbehaltsrechte in bezug auf Berlin (West) in Kraft getreten. Im Hinblick auf das Bundesverfassungsgerichtsgesetz sehen §§2 und 3 des 6.Überleitungsgesetzes keine Sonderregelungen und Ausnahmen vor.
      b) Die Verfassungsbeschwerde richtet sich zwar gegen eine vor der Suspendierung und späteren Aufhebung des Berlin-Vorbehalts ergangene Entscheidung des LG Berlin. Dies steht jedoch, nachdem die Bundesrepublik Deutschland die volle Souveränität erlangt hat, der Ausübung der Gerichtsbarkeit des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr entgegen. Das Bundesverfassungsgericht hat stets betont, daß seine Gerichtsbarkeit in "Berliner Sachen" durch den im Genehmigungsschreiben der Militärgouverneure zum Grundgesetz enthaltenen Berlin-Vorbehalt nur vorläufig beschränkt ist (vgl. BVerfGE 7, 1, 7; 19, 377, 384 f.). Der in dem Vorbehalt zum Ausdruck gekommene prinzipielle Ausschluß politisch bedeutsamer Einwirkung der Bundesrepublik auf die Berliner Landesgewalt ... ist mit der deutschen Vereinigung entfallen. Das Bundesverfassungsgericht kann nunmehr über eine Verfassungsbeschwerde, die sich gegen eine vor dem 3.10.1990 ergangene Entscheidung eines Berliner Gerichts wendet und den allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen ... genügt, in der Sache befinden. Für die Ausübung der Gerichtsbarkeit des Bundesverfassungsgerichts ist der Zeitpunkt maßgeblich, in dem die Entscheidung ergeht. Einer stattgebenden Entscheidung, die erst einen Eingriff in die Berliner Landeshoheit begründet, stehen Rechte der Alliierten nicht mehr entgegen.
      c) Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde steht auch der allgemeine, auf Verfassungsbeschwerden anwendbare ... prozeßrechtliche Grundsatz nicht entgegen, daß Verfahren, die beim Inkrafttreten neuer Verfahrensvorschriften bereits rechtskräftig abgeschlossen waren, von den neuen Vorschriften nicht mehr berührt werden ... Das innerstaatliche Recht schrieb die Geltung der Vorschriften des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes über die Verfassungsbeschwerde auch schon zu dem Zeitpunkt für das Land Berlin vor, als die angegriffene Entscheidung des Landgerichts erging. §106 BVerfGG erstreckte von Anfang an den Geltungsbereich des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes auch unabhängig von einer Übernahme durch den Berliner Gesetzgeber auf Berlin, soweit das Grundgesetz für das Land Berlin galt; inhaltsgleiche Vorschriften enthielten sämtliche Änderungsgesetze zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz ... Da die Grundrechtsnormen des Grundgesetzes, deren Verletzung nach §90 BVerfGG jedermann mit der Verfassungsbeschwerde rügen kann, stets auch im Land Berlin anwendbar waren ..., war auch vor dem 3.10.1990 die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für Verfassungsbeschwerden in Berliner Sachen an sich gegeben. Lediglich ihre Ausübung wurde durch den innerstaatlichem Recht vorgehenden alliierten Berlin-Vorbehalt bis zum 2.10.1990 beschränkt ... Demgemäß war aus dem Berlin-Vorbehalt kein generelles Verbot jeder Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts in allen Berlin unmittelbar oder mittelbar berührenden Sachen herzuleiten ...