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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1550. WIEDERVEREINIGUNG DEUTSCHLANDS

Nr.92/1

[a] Ein zur Tatzeit anerkannter Rechtfertigungsgrund kann bei der späteren strafrechtlichen Beurteilung außer Betracht bleiben, wenn er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzt. Die Art.6 und 12 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte sind Ausdruck solcher Rechtsüberzeugungen.

[b] Das strafrechtliche Rückwirkungsverbot (Art.103 Abs.2 GG, Art.7 EMRK, Art.15 IPBPR) schützt den Täter nicht davor, daß ihm ein zur Tatzeit zwar von der damaligen Staatspraxis anerkannter, aber menschenrechtswidriger Rechtfertigungsgrund nicht zugute gehalten wird.

[a] A ground of justification, legally recognized at the time a criminal offense was committed, need not be considered in a later criminal judgment if that justification violates the legal convictions common to all peoples relating to the value and dignity of the human person. Art.6 and 12 of the International Covenant on Civil and Political Rights are based on legal convictions of this kind.

[b] The prohibition on ex post facto criminal laws (Art.103 (2) of the Basic Law, Art.7 of the European Convention on Human Rights, Art.15 of the International Covenant on Civil and Political Rights) does not protect the perpetrator from being denied the benefit of a ground of justification which, even though it was recognized by state practice at the time when the offense was committed, nevertheless violated human rights.

Bundesgerichtshof, Urteil vom 3.11.1992 (5 StR 370/92), BGHSt 39, 1 (ZaöRV 54 [1994], 489 und 531)

Einleitung:

      Die angeklagten ehemaligen DDR-Grenzsoldaten sind vom Landgericht (Jugendkammer) wegen Totschlags zu Freiheitsstrafen von 18 bzw. 21 Monaten verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Sie hatten 1984 an der Berliner Mauer einen flüchtenden DDR-Bürger mit Feuerstößen aus ihren automatischen Infanteriegewehren beschossen, um seine Flucht zu verhindern, und dabei den Tod des Flüchtlings in Kauf genommen (bedingter Vorsatz). Der durch ein Projektil schwer verletzte Flüchtling, der bei unverzüglicher ärztlicher Hilfe gerettet worden wäre, starb, weil er wegen der strengen Geheimhaltungsvorschriften erst mit zweistündiger Verspätung in ein Krankenhaus eingeliefert wurde. Das Landgericht hatte die Verurteilungen auf §§212, 213 des StGB der Bundesrepublik Deutschland gestützt, weil es diese für milder hielt als die entsprechenden Bestimmungen des StGB der DDR. Die Revisionen der Angeklagten blieben ohne Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      B. Die Revision des Angeklagten W. beanstandet, das Landgericht habe gegen ein "Bestrafungsverbot" verstoßen, das aus der "act of state doctrine" herzuleiten sei; der Angeklagte habe nämlich als Funktionsträger, im Auftrag und im Interesse eines anderen Staates, der DDR, gehandelt und dürfe deswegen nicht zur Verantwortung gezogen werden. Damit soll ersichtlich ein Verfahrenshindernis geltend gemacht werden. Es besteht nicht.
      I. Die in Staaten des angelsächsischen Rechtskreises in unterschiedlicher Weise formulierte "act of state doctrine" ist keine allgemeine Regel des Völkerrechts im Sinne des Art.25 GG. Sie betrifft vielmehr die Auslegung innerstaatlichen Rechts, nämlich die Frage, ob und in welchem Maße von der Wirksamkeit der Akte fremder Staaten auszugehen ist ... Die kontinentaleuropäische, auch die deutsche, Rechtspraxis greift auf diese Doktrin nicht zurück ... Hier gibt es keine verbindliche Regel, daß die Wirksamkeit ausländischer Hoheitsakte bei der Anwendung innerstaatlichen Rechtes der gerichtlichen Nachprüfung entzogen sei ... Im Einigungsvertrag ist nicht vereinbart worden, daß Akte, die der Staatstätigkeit der DDR zuzuordnen sind, der Nachprüfung durch Gerichte der Bundesrepublik Deutschland entzogen sein sollen. Das Gegenteil trifft zu: In den Art.18 und 19 des Einigungsvertrags ist bestimmt, daß Entscheidungen der Gerichte und der Verwaltung der DDR zwar grundsätzlich wirksam bleiben, jedoch aufgehoben werden können, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren sind (vgl. auch die Anlage I zum Einigungsvertrag Kapitel III Sachgebiet A Abschnitt III Nr.14 d).
      II. Möglicherweise meint die Revision mit ihrem Einwand, Gerichte der Bundesrepublik Deutschland dürften mit Rücksicht auf die Immunität fremder Staaten und ihrer Repräsentanten keine Gerichtsbarkeit ausüben ... Die Angeklagten sind schon deswegen nicht als Repräsentanten eines fremden Staates zu behandeln, weil die Deutsche Demokratische Republik nicht mehr besteht.
      C. Die sachlichrechtliche Nachprüfung ergibt, daß die Revisionen der Angeklagten im Ergebnis unbegründet sind.
      I. Die Angeklagten und das Tatopfer hatten zur Tatzeit ihre Lebensgrundlage in der DDR; dort ist das Opfer von den Schüssen der Angeklagten getroffen worden und gestorben. Das Landgericht hat Artikel 315 Abs.1 EGStGB (idF des Einigungsvertrags Anl.I Kap.III Sachgebiet C Abschn.II Nr.1 b) angewandt und ermittelt, ob das Recht der Bundesrepublik Deutschland oder das Recht der DDR milder im Sinne des §2 Abs.3 StGB sei. ...
      II. Das Recht der ehemaligen DDR wäre ... im Vergleich mit dem Recht der Bundesrepublik Deutschland das mildere Recht, wenn der abgeurteilte tödliche Schußwaffengebrauch nach dem Recht der DDR (§27 Abs.2 des Grenzgesetzes i.V.m. §213 Abs.3 StGB-DDR) gerechtfertigt gewesen wäre und dieser Rechtfertigungsgrund auch heute zugunsten der Angeklagten beachtet werden müßte. Die Nachprüfung ergibt, daß die Angeklagten zwar - nach der zur Tatzeit in der DDR praktizierten Auslegung - den in §27 Abs.2 des Grenzgesetzes bezeichneten Anforderungen entsprochen haben, daß sich daraus jedoch kein wirksamer Rechtfertigungsgrund ergibt.
      2. ... a) ... dd) Hiernach entsprach das Verhalten der Angeklagten der rechtfertigenden Vorschrift des §27 Abs.2 des Grenzgesetzes, so wie sie in der Staatspraxis angewandt wurde. Diese Staatspraxis ist durch den Vorrang der Fluchtverhinderung vor dem Lebensschutz gekennzeichnet; die zur Rechtskontrolle berufenen Gerichte und Behörden der DDR haben dieser Staatspraxis nicht widersprochen. Sofern man das darin zum Ausdruck gekommene Verständnis des §27 Abs.2 des Grenzgesetzes zugrunde legt, waren die mit bedingtem Vorsatz und Dauerfeuer abgegebenen Schüsse der Angeklagten gerechtfertigt. ...
      b) Von der Frage, ob das Verhalten der Angeklagten nach dem Recht der DDR, wie es in der Staatspraxis angewandt wurde, gerechtfertigt war, ist die andere Frage zu unterscheiden, ob ein so verstandener Rechtfertigungsgrund (§27 Abs.2 des Grenzgesetzes) wegen Verletzung vorgeordneter, auch von der DDR zu beachtender allgemeiner Rechtsprinzipien und wegen eines extremen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip bei der Rechtsfindung außer Betracht bleiben muß ... Der Senat bejaht diese Frage.
      Der in §27 Abs.2 des Grenzgesetzes genannte Rechtfertigungsgrund, wie ihn die damalige Staatspraxis, vermittelt durch die Befehlslage, handhabte, hat, sofern der Grenzübertritt auf andere Weise nicht verhindert werden konnte, das (bedingt oder unbedingt) vorsätzliche Töten von Personen gedeckt, die nichts weiter wollten, als unbewaffnet und ohne Gefährdung allgemein anerkannter Rechtsgüter die Grenze zu überschreiten. Die Durchsetzung des Verbots, die Grenze ohne besondere Erlaubnis zu überschreiten, hatte hiernach Vorrang vor dem Lebensrecht von Menschen. Unter diesen besonderen Umständen ist der Rechtfertigungsgrund, wie er sich in der Staatspraxis darstellte, bei der Rechtsanwendung nicht zu beachten.
      aa) Allerdings müssen Fälle, in denen ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund als unbeachtlich angesehen wird, auf extreme Ausnahmen beschränkt bleiben. ...
      bb) Ein zur Tatzeit angenommener Rechtfertigungsgrund kann ... nur dann wegen Verstoßes gegen höherrangiges Recht unbeachtet bleiben, wenn in ihm ein offensichtlich grober Verstoß gegen Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit zum Ausdruck kommt; der Verstoß muß so schwer wiegen, daß er die allen Völkern gemeinsamen, auf Wert und Würde des Menschen bezogenen Rechtsüberzeugungen verletzt (BGHSt 2, 234, 239). Der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit muß so unerträglich sein, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Gerechtigkeit zu weichen hat (Radbruch SJZ 1946, 105, 107). Mit diesen Formulierungen (vgl. auch BVerfGE 3, 225, 232; 6, 132, 198 f.) ist nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft versucht worden, schwerste Rechtsverletzungen zu kennzeichnen. Die Übertragung dieser Gesichtspunkte auf den vorliegenden Fall ist nicht einfach, weil die Tötung von Menschen an der innerdeutschen Grenze nicht mit dem nationalsozialistischen Massenmord gleichgesetzt werden kann. Gleichwohl bleibt die damals gewonnene Einsicht gültig, daß bei der Beurteilung von Taten, die in staatlichem Auftrag begangen worden sind, darauf zu achten ist, ob der Staat die äußerste Grenze überschritten hat, die ihm nach allgemeiner Überzeugung in jedem Land gesetzt ist.
      cc) Heute sind konkretere Prüfungsmaßstäbe hinzugekommen: Die internationalen Menschenrechtspakte bieten Anhaltspunkte dafür, wann der Staat nach der Überzeugung der weltweiten Rechtsgemeinschaft Menschenrechte verletzt. Hierbei ist der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1966 (BGBl.1973 II 1534 - IPbürgR -) von besonderer Bedeutung. Die DDR ist ihm im Jahre 1974 beigetreten (GBl. DDR II 57); sie hat die Ratifizierungsurkunde am 8. November 1974 hinterlegt (GBl. aaO). Der Internationale Pakt ... ist für beide deutsche Staaten am 23. März 1976 in Kraft getreten (BGBl.II 1068; GBl. DDR II 108). Allerdings hat die DDR es unterlassen, den Pakt gem. Art.51 der DDR-Verfassung zum Anlaß für innerstaatliche Gesetzesänderungen zu nehmen und bei dieser Gelegenheit nach der genannten Verfassungsvorschrift von der Volkskammer "bestätigen" zu lassen. An der völkerrechtlichen Bindung der DDR ändert dieser Sachverhalt nichts. Ein Staat kann sich "nicht durch eine Berufung auf seine innerstaatliche Rechtsordnung der Erfüllung von ihm eingegangener Verpflichtungen entziehen" (Völkerrecht, Lehrbuch Berlin-Ost 1981 I S.59); er ist "kraft Völkerrechts verpflichtet, im Bereich seiner innerstaatlichen Gesetzgebung entsprechend diesen Verpflichtungen zu handeln und sie zu erfüllen" (aaO). Ergeben sich bei der Bewertung des Rechts der DDR Widersprüche zwischen den von ihr völkerrechtlich anerkannten Menschenrechten und der tatsächlichen Anwendung der Grenz- und Waffengebrauchsvorschriften, so kann dieser Widerspruch auch bei der Beurteilung der Frage berücksichtigt werden, ob derjenige rechtswidrig handelt, der auf staatlichen Befehl Menschenrechte verletzt, die durch den völkerrechtlichen Vertrag geschützt sind. Deswegen kann die Frage offenbleiben, ob entgegen der in der DDR vertretenen Auffassung ... aus dem besonderen Inhalt des IPbürgR abzuleiten ist, daß schon die Ratifikation den Menschen in den Vertragsstaaten eine Rechtsposition gegenüber ihrem Staat verschafft hat ...
      (1) Art.12 Abs.2 IPbürgR lautet: "Jedermann steht es frei, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen" ... Nach Art.12 Abs.3 IPbürgR darf dieses Recht nur durch Gesetz und nur zu bestimmten Zwecken, darunter zum Schutz der nationalen Sicherheit und der öffentlichen Ordnung, eingeschränkt werden.
      Das Erfordernis, daß die Einschränkung durch Gesetz erfolgen muß, hat das Paßgesetz der DDR vom 28. Juni 1979 (GBl DDR I 148) erfüllt. Darauf, daß die im Paßgesetz und in den zugehörigen Anordnungen enthaltenen Beschränkungen dem Schutz der öffentlichen Ordnung dienten, hat sich die DDR stets berufen. Doch ergibt sich aus dem verbindlichen englischen Wortlaut des Art.12 Abs.3 IPbürgR ("The ... rights shall not be subject to any restrictions except ...") und der Entstehungsgeschichte sowie der internationalen Auslegung der Vorschrift, daß mit dem Gesichtspunkt der öffentlichen Ordnung (ordre public) nicht etwa ein umfassender Gesetzesvorbehalt gemeint war; vielmehr sollten die Einschränkungen auf Ausnahmefälle beschränkt bleiben und keinesfalls die Substanz der Freizügigkeit und des Ausreiserechts zerstören ... Gesichtspunkte des wirtschaftlichen oder sozialen Wohls sollten, wie die Materialien ergeben, kein zulässiges Motiv für die Einschränkung der Freizügigkeit sein ...
      Die DDR ist in den Jahren 1977 und 1984 vom Menschenrechtsausschuß der Vereinten Nationen zu den Verhältnissen an der innerdeutschen Grenze gehört worden. Sie hat 1977 erklärt, die Einschränkung der Freizügigkeit entspreche dem IPbürgR ... In ihrem Bericht für die Vereinten Nationen von 1984 hat sich die DDR auf die große Zahl erlaubter Ausreisen berufen und betont, die Beschränkungen dienten dem Schutz der nationalen Sicherheit und öffentlichen Ordnung ... In der mündlichen Befragung hat damals der Vertreter der DDR behauptet, das Grenzgesetz von 1982 sei mit dem IPbürgR, auch mit dessen Art.6 (Recht auf Leben), vereinbar; Grenzsoldaten schössen nur im äußersten Notfall, wenn andere Mittel nicht ausreichten, um ein Verbrechen - erwähnt wurde der Fall der Gewalttat (violence) - zu verhindern ...
      Es ist zwar nicht anzunehmen, daß der Inhalt des Art.12 IPbürgR zu den "allgemein anerkannten, dem friedlichen Zusammenleben und der Zusammenarbeit der Völker dienenden Regeln des Völkerrechts" im Sinne des Art.8 der DDR-Verfassung gezählt wurde; Art.8 dieser Verfassung bezog sich ersichtlich auf einen engeren Ausschnitt aus dem Völkerrecht, der die Zusammenarbeit und Koexistenz verschiedener Staaten betraf ... Die dem Art.12 IPbürgR entsprechenden Regeln gehören aber zu den Werten, die das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern bestimmen und deswegen bei der Auslegung von Gesetzen berücksichtigt werden müssen.
      (2) Das in Art.12 IPbürgR bezeichnete Menschenrecht auf Ausreisefreiheit wurde durch das Grenzregime der DDR verletzt, weil den Bewohnern der DDR das Recht auf freie Ausreise nicht nur in Ausnahmefällen, sondern in aller Regel vorenthalten wurde.
      Nach den Vorschriften des DDR-Rechts über die Ausgabe von Pässen als Voraussetzung für das legale Überschreiten der deutsch-deutschen Grenze (Paßgesetz und Paß- und Visaanordnung vom 28. Juni 1979 - GBl. DDR I 148, 151 -, ergänzt durch die Anordnung vom 15. Februar 1982 - GBl. DDR I 187 -) gab es, jedenfalls bis zum 1. Januar 1989 (Inkrafttreten der VO vom 30. November 1988, GBl. DDR I 271), für nicht politisch privilegierte Bürger unterhalb des Rentenalters, abgesehen von einzelnen dringenden Familienangelgenheiten, keine Möglichkeit der legalen Ausreise; Entscheidungen über Anträge auf Ausreise bedurften bis zum 1. Januar 1989 nach §17 der Anordnung vom 28. Juni 1979 (GBl. DDR I 151) keiner Begründung und konnten bis zu diesem Zeitpunkt (§ 23 der VO vom 30. November 1988) nicht mit der Beschwerde angefochten werden.
      Diese Regelung verstieß gegen die Einschränkungskriterien des Art.12 Abs.3 IPbürgR, gegen den Grundsatz, daß Einschränkungen die Ausnahme bleiben sollten, und gegen das allenthalben aufgestellte Prinzip, daß die Versagung der Ausreise mit Rechtsbehelfen anfechtbar sein müsse ... Der Senat übersieht nicht, daß auch andere Länder die Ausreise ihrer eigenen Bürger beschränken, daß die Ausreisefreiheit bei der Schaffung des Grundgesetzes nicht zu einem selbständigen Grundrecht gemacht worden ist ... und dies damals auch mit der Besorgnis begründet wurde, die arbeitsfähigen Jahrgänge würden in unerwünschtem Maße auswandern ... Ihm ist auch bewußt, daß es in den Vereinten Nationen Meinungsunterschiede zwischen Entwicklungsländern, die das Abwandern der Intelligenz verhüten wollen, und den westeuropäischen Mitgliedsstaaten gibt, die auf eine möglichst unbeschränkte Ausreisefreiheit dringen ..., und daß zur Tatzeit in den unter sowjetischem Einfluß stehenden Staaten durchweg Ausreisebeschränkungen bestanden ...
      Das Grenzregime der DDR empfing jedoch seine besondere Härte dadurch, daß Deutsche aus der DDR ein besonderes Motiv für den Wunsch, die Grenze nach West-Berlin und Westdeutschland zu überqueren, hatten: Sie gehörten mit den Menschen auf der anderen Seite der Grenze zu einer Nation und waren mit ihnen durch vielfältige verwandtschaftliche und sonstige persönliche Beziehungen verbunden.
      (3) Insbesondere kann die durch die restriktiven Paß- und Ausreisevorschriften begründete Lage unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte nicht ohne Beachtung der tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze gewürdigt werden, die durch "Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen und Schießbefehl" (BVerfGE 36, 1, 35) gekennzeichnet waren und damit gegen Art.6 IPbürgR verstießen. Nach dieser Vorschrift hat "jeder Mensch ein angeborenes Recht auf Leben"; niemand darf willkürlich seines Lebens beraubt werden" (Art.6 Abs.1 Satz 1 und 3). Auch wenn die Auslegung des Merkmals "willkürlich" insgesamt bisher nicht sehr ergiebig gewesen ist ..., so zeichnet sich doch, auch in der Rechtsprechung anderer Staaten (vgl. insbes. US Supreme Court 471 US 1 in der Sache Tennessee v. Garner, 1985), die Tendenz ab, den mit der Möglichkeit tödlicher Wirkung verbundenen Schußwaffengebrauch von Staatsorganen unter starker Betonung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf Fälle einzugrenzen, in denen eine Gefährdung von Leib und Leben anderer zu befürchten ist ... In der "Allgemeinen Bemerkung" des Menschenrechtsausschusses der Vereinten Nationen zum Recht auf Leben aus dem Jahre 1982 (General Comment 6/16 - A/37/40 S.93 ff. ...) heißt es, der Schutz des Lebens vor willkürlicher Tötung sei von überragender Bedeutung; das Gesetz müsse die Umstände, unter denen staatliche Organe jemanden seines Lebens berauben dürfen, "strikt kontrollieren und begrenzen" (aaO Abschnitt 3).
      Die Grenze zur Willkür ist nach der Auffassung des Senats insbesondere überschritten, wenn der Schußwaffengebrauch an der Grenze dem Zweck dient, Dritte vom unerlaubten Grenzübertritt abzuschrecken. Daß die "Befehlslage", die die vorsätzliche Tötung von "Grenzverletzern" einschloß, auch dieses Ziel hatte, liegt auf der Hand.
      Im vorliegenden Fall ergibt sich bei gleichzeitiger Verletzung der Artikel 6 und 12 IPbürgR eine Menschenrechtsverletzung ferner daraus, daß das Grenzregime in seiner beispiellosen Perfektion und dem durch §27 des Grenzgesetzes i.V.m. §213 Abs.3 StGB-DDR bestimmten, in der Praxis rücksichtslos angewandten Schußwaffengebrauch Menschen betraf, denen aufgrund einer die Ausreise regelmäßig und ohne Begründung versagenden Verwaltungspraxis verwehrt wurde, aus der DDR in den westlichen Teil Deutschlands und insbesondere Berlins zu reisen.
      (4) Der Senat nimmt, was das Recht auf Leben angeht, die von der Revision ... gemachten kritischen Hinweise auf die Auslegung des §11 UZwG sowie der §§15, 16 UZwGBw ... ernst. Er findet es befremdlich, daß im Schrifttum bei der Auslegung des §16 UZwGBw ein bedingter Tötungsvorsatz als von der Vorschrift gedeckt bezeichnet worden ist ..., und pflichtet Frowein (in: Kritik und Vertrauen, FS für Peter Schneider S.112 ff.) darin bei, daß in der Bundesrepublik Deutschland der Schußwaffengebrauch gegen Menschen angesichts seiner unkontrollierbaren Gefährlichkeit ... auch im Grenzgebiet (§11 UZwG) auf die Verteidigung von Menschen beschränkt werden sollte ..., also auf Fälle, in denen von demjenigen, auf den geschossen wird, eine Gefährdung von Leib oder Leben anderer zu befürchten ist. Der Umstand, daß die derzeitige Auslegung der Schußwaffenvorschriften des geltenden Rechts im Lichte des Verhältnismäßigkeitsprinzips nicht in jeder Weise befriedigend ist ..., rechtfertigt indessen kein Verständnis für den Schußwaffengebrauch durch die Grenztruppen der DDR; dieser war durch eine Konstellation gekennzeichnet, die in der Bundesrepublik Deutschland angesichts ihrer offenen Grenzen keine Parallele hat.
      dd) Die Verletzung der in den Artikeln 6 und 12 des Internationalen Pakts garantierten Menschenrechte in ihrem spezifischen, durch die Verhältnisse an der innerdeutschen Grenze gekennzeichneten Zusammenhang macht es dem Senat unmöglich, bei der Rechtsanwendung die Vorschriften des §27 des Grenzgesetzes sowie des §213 Abs.3 StGB-DDR in dem Umfang, wie sie in der Staatspraxis der DDR verstanden worden sind, als Rechtfertigungsgrund zugrundezulegen. Die Verhältnisse an der Grenze waren auch unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Nachteile, die für den betroffenen Staat mit einer starken Abwanderung arbeitsfähiger Menschen verbunden sein können, Ausdruck einer Einstellung, die das Lebensrecht der Menschen niedriger einschätzt als das Interesse, sie am Verlassen des Staates zu hindern. Der im DDR-Recht vorgesehene, in §27 des Grenzgesetzes bezeichnete Rechtfertigungsgrund hat deswegen von Anfang an in der Auslegung, die durch die tatsächlichen Verhältnisse an der Grenze gekennzeichnet war, keine Wirksamkeit gehabt. Er hat bei der Suche nach dem milderen Recht (§2 Abs.3 StGB i.V.m. Art.315 Abs.1 EGStGB) außer Betracht zu bleiben, weil bereits die DDR bei Zugrundelegung der von ihr anerkannten Prinzipien den Rechtfertigungsgrund hätte einschränkend auslegen müssen.
      3. Der Senat hatte sodann der Frage nachzugehen, ob §27 des Grenzgesetzes mit Auslegungsmethoden, die dem Recht der DDR eigentümlich waren, so hätte ausgelegt werden können, daß die genannten Menschenrechtsverletzungen vermieden wurden; ein so eingegrenzter Rechtfertigungsgrund wäre mit Rücksicht auf Art.103 Abs.2 GG zu beachten. Die Prüfung ergibt, daß eine solche Auslegung möglich gewesen wäre, daß der so bestimmte Rechtfertigungsgrund jedoch das Verhalten der Angeklagten (Dauerfeuer mit bedingtem Tötungsvorsatz) nicht gedeckt hätte.
      a) Der Senat legt bei dieser Auslegung nicht die Wertordnung des Grundgesetzes oder der Menschenrechtskonvention zugrunde; er beschränkt sich darauf, die Vorgaben zu berücksichtigen, die im Recht der DDR für eine menschenrechtsfreundliche Gesetzesauslegung angelegt waren. ...
      Anders als im nationalsozialistischen Führerstaat gab es in der DDR keine Doktrin, nach der der bloße Wille der Inhaber tatsächlicher Macht Recht zu schaffen vermochte. ... Wer heute den Inhalt der Gesetze der DDR unter Berücksichtigung der DDR-Verfassung und der Bindung der DDR an die internationalen Menschenrechtspakte zu ermitteln sucht, unterschiebt demnach nicht dem Recht der DDR Inhalte, die mit dem eigenen Anspruch dieses Rechtes unvereinbar wären. ...
      b) Eine an den Artikeln 6, 12 IPbürgR orientierte Auslegung des §27 des Grenzgesetzes kann sich auf den ... in Art.30 Abs.2 Satz 2 der DDR-Verfassung enthaltenen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz stützen ... Hiernach war die bedingt vorsätzliche Tötung, wie sie unter den gegebenen Umständen in der Anwendung von Dauerfeuer zum Ausdruck kam, von dem in menschenrechtsfreundlicher Weise ausgelegten §27 Abs.2 des Grenzgesetzes nicht gedeckt; das würde auch dann gelten, wenn der Sachverhalt unter §27 Abs.2 Satz 2 des Grenzgesetzes (Ergreifung von Personen, die eines Verbrechens nach §213 Abs.3 StGB-DDR dringend verdächtig sind) subsumiert würde. In diesen Fällen hat der Schutz des Lebens Vorrang; dies kann auch auf den Rechtsgedanken des §27 Abs.5 Satz 1 des Grenzgesetzes - bei menschenrechtsfreundlicher Auslegung - gestützt werden.
      c) Bei dieser Auslegung ist das Verhalten der Angeklagten nicht von dem Rechtfertigungsgrund des §27 Abs.2 des Grenzgesetzes gedeckt gewesen; sie haben danach auch nach dem Recht der DDR einen rechtswidrigen Totschlag begangen.
      4. Nach Art.103 Abs.2 GG kann eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit zur Tatzeit gesetzlich bestimmt war (Rückwirkungsverbot). Diese Verfassungsbestimmung verbietet die Bestrafung der Beschwerdeführer nicht.
      a) Unter den vorstehend (zu 2, 3) dargelegten Umständen gibt es Gründe für die Auffassung, daß Art.103 Abs.2 GG die Bestrafung der Angeklagten von vornherein nicht hindert, weil die Tat nach dem richtig ausgelegten Recht der DDR zur Tatzeit strafbar war. Ob die Angeklagten dies erkannt haben, ist eine Frage, die lediglich Entschuldigungsgründe betrifft.
      b) Der Senat hat jedoch nicht übersehen, daß im Hinblick auf Art.103 Abs.2 GG die Frage aufgeworfen werden kann, welches Verständnis vom Recht der Tatzeit zugrunde zu legen ist. Wird an das Tatzeitrecht ein Beurteilungsmaßstab angelegt, der die Handlung, obwohl sie vom Staat befohlen worden war, als rechtswidrig erscheinen läßt (vorstehend zu 2, 3), so ergibt sich, daß das Rückwirkungsverbot der Bestrafung nicht entgegensteht. Wird dagegen bei der Würdigung der Rechtslage, die zur Tatzeit bestanden hat, hauptsächlich auf die tatsächlichen Machtverhältnisse im Staat abgestellt, so kann die Anwendung des Art.103 Abs.2 GG zu einem anderen Ergebnis führen. Das gilt vor allem, wenn dem Angeklagten von einer staatlichen Stelle befohlen worden ist, ein allgemein anerkanntes Recht, zumal das Recht auf Leben, zu verletzen. Hier kann sich die Frage stellen, ob und unter welchen Umständen aus einem solchen Befehl zugunsten des Angeklagten die Annahme hergeleitet werden muß, die Strafbarkeit sei zur Tatzeit nicht gesetzlich bestimmt gewesen.
      aa) Die Frage, welche Bedeutung Art.103 Abs.2 GG für die Beurteilung von Handlungen hat, die unter einem früheren Regime im staatlichen Auftrag vorgenommen worden sind und Menschenrechte wie das Recht auf Leben verletzen, ist noch nicht vollständig geklärt ...
      Die in der Rechtsprechung des Internationalen Militärtribunals von Nürnberg sowie insbesondere in der Entscheidung im sogenannten Juristenprozeß (III.US-Militärgerichtshof, Urteil vom 4.12.1947 S.29 ff. des offiziellen Textes) unter wesentlichem Einfluß angelsächsischer Rechtsüberzeugungen entwickelten Gesichtspunkte sind von der späteren deutschen Rechtsprechung nicht übernommen worden. Das Verbot der Verurteilung von Taten, die zur Zeit ihrer Begehung nicht strafbar waren, findet sich auch in Art.15 des Internationalen Pakts sowie in Art.7 MRK. Doch ist beiden Vorschriften ein zweiter Absatz angefügt, in dem es heißt, das grundsätzliche Rückwirkungsverbot schließe nicht die Verurteilung von Personen aus, deren Tat zur Zeit ihrer Begehung nach den von der Völkergemeinschaft anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen strafbar war. Die Bundesrepublik Deutschland hat jedoch gegenüber Art.7 Abs.2 MRK den Vorbehalt (Art.64 MRK) gemacht, daß die Vorschrift nur in den Grenzen des Art.103 Abs.2 GG angewandt werden würde (BGBl.1954 II 14). Gegen Art.15 Abs.2 des Internationalen Pakts hat die Bundesrepublik Deutschland keinen Vorbehalt erklärt; das ändert nichts daran, daß auch insoweit Art.103 Abs.2 GG als Verfassungsrecht vorgeht ... Rechtfertigungsgründe sind nicht generell von dem Schutzbereich des Art.103 Abs.2 GG ausgeschlossen ...
      bb) ... (2) Der Senat ist aus folgendem Grunde der Ansicht, daß Art.103 Abs.2 GG hier nicht der Annahme entgegensteht, die Tat sei rechtswidrig: Entscheidend ist, ... ob die Strafbarkeit "gesetzlich bestimmt war", bevor die Tat begangen wurde. Bei der Prüfung, ob es sich so verhalten hat, ist der Richter nicht im Sinne reiner Faktizität an diejenige Interpretation gebunden, die zur Tatzeit in der Staatspraxis Ausdruck gefunden hat. Konnte das Tatzeitrecht bei Beachtung der vom Wortsinn des Gesetzes gegebenen Grenzen im Lichte der Verfassung der DDR so ausgelegt werden, daß den völkerrechtlichen Bindungen der DDR im Hinblick auf Menschenrechte entsprochen wurde, so ist das Tatzeitrecht in dieser menschenrechtsfreundlichen Auslegung als das Recht zu verstehen, daß die Strafbarkeit zur Zeit der Tat im Sinne des Art.103 Abs.2 GG "gesetzlich bestimmt" hat ... Ein Rechtfertigungsgrund, der das Verhalten der Angeklagten gerechtfertigt hätte, wurde zwar in der Staatspraxis, wie sie sich in der Befehlslage ausdrückte, angenommen; er durfte aber dem richtig interpretierten Gesetz schon damals nicht entnommen werden. Das Rückwirkungsverbot soll den Angeklagten vor Willkür schützen und die Strafgewalt auf den Vollzug der allgemeinen Gesetze beschränken ...; es schützt das Vertrauen, das der Angeklagte zur Tatzeit in den Fortbestand des damals geltenden Rechts gesetzt hat ... Diese verfassungsrechtlichen Schutzrichtungen werden hier nicht verfehlt: Die Erwartung, das Recht werde, wie in der Staatspraxis zur Tatzeit, auch in Zukunft so angewandt werden, daß ein menschenrechtswidriger Rechtfertigungsgrund anerkannt wird, ist nicht schutzwürdig. Es ist keine Willkür, wenn der Angeklagte, was die Rechtswidrigkeit seines Tuns angeht, so beurteilt wird, wie er bei richtiger Auslegung des DDR-Rechts schon zur Tatzeit hätte behandelt werden müssen. ...
      c) Steht hiernach den Angeklagten kein Rechtfertigungsgrund zur Seite, so haben sie rechtswidrig den Tatbestand des §212 StGB erfüllt. Deswegen trifft im Ergebnis die Auffassung der Jugendkammer zu, daß das Recht der Bundesrepublik Deutschland anwendbar ist, weil es im Sinne des §2 Abs.3 StGB milder ist als die entsprechenden Tatbestände ... des Strafgesetzbuchs der DDR; dies ergibt sich daraus, daß in §213 StGB für minder schwere Fälle ein niedrigerer Strafrahmen vorgesehen ist.
      III. ... 2. Die Angeklagten haben ... Totschlag auf Befehl begangen. Die Feststellungen ergeben, daß sie bei ihrer Tat nicht erkannt haben, daß die Ausführung des Befehls gegen Strafgesetze verstieß. Dies steht indessen ihrer Schuld nicht entgegen. ...
      b) Nach §5 Abs.1 WStG trifft den Untergebenen eine Schuld nur, wenn er erkennt, daß es sich um eine rechtswidrige Tat handelt oder dies nach den ihm bekannten Umständen offensichtlich ist. ... Die Jugendkammer nimmt an, es sei für die Angeklagten nach den ihn bekannten Umständen offensichtlich gewesen, daß sie mit dem ihnen befohlenen Schießen ein Tötungsdelikt im Sinne des Strafgesetzbuches begingen. Diese Bewertung hält im Ergebnis der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand.
      Die Jugendkammer hat nicht übersehen, daß die Angeklagten als Grenzsoldaten der DDR einer besonders intensiven politischen Indoktrination ausgesetzt waren und daß sie zuvor "im Geiste des Sozialismus mit entsprechenden Feindbildern von der Bundesrepublik Deutschland und von Personen, die unter Überwindung der Sperranlagen die DDR verlassen wollen, aufgewachsen" sind. Sie hat auch unter diesen Umständen nicht die hohen Anforderungen verfehlt, die an die Offensichtlichkeit im Sinne des §5 Abs.1 WStG zu stellen sind. ...
      Die Jugendkammer hebt zutreffend auf das "Gebot der Menschlichkeit" ab, zu dem u.a. gehöre, daß auch der Straftäter ein Recht auf Leben hat. Damit will sie sagen, es sei ohne weiteres ersichtlich gewesen, daß der Staat nicht das Recht habe, einen Menschen, der, ohne andere zu bedrohen, unter Überwindung der Mauer von einem Teil Berlins in einen anderen hinüberwechseln wollte, zur Verhinderung dieses unerlaubten Grenzübertritts töten zu lassen. Den Revisionen ist zuzugeben, daß die Anwendung des Merkmals "offensichtlich" hier sehr schwierig ist. Immerhin ist während der langen Jahre, in denen an der Mauer und an den sonstigen innerdeutschen Grenzen geschossen wurde, nicht bekannt geworden, daß Menschen, die in der DDR in Politik, Truppenführung, Justiz und Wissenschaft Verantwortung trugen, gegen das Töten an der Grenze öffentlich Stellung genommen hätten. Angesichts des Lebensweges und der Umwelt der Angeklagten erscheint es auch nicht angemessen, ihnen "Bequemlichkeit", "Rechtsblindheit" und Verzicht auf eigenes Denken zum Vorwurf zu machen. ...
      Gleichwohl ist der Jugendkammer letztlich darin zuzustimmen, daß die Tötung eines unbewaffneten Flüchtlings durch Dauerfeuer unter den gegebenen Umständen ein derart schreckliches und jeder vernünftigen Rechtfertigung entzogenes Tun war, daß der Verstoß gegen das elementare Tötungsverbot auch für einen indoktrinierten Menschen ohne weiteres einsichtig, also offensichtlich war. Dem entspricht es, daß die große Mehrheit der Bevölkerung in der DDR die Anwendung von Schußwaffen an der Grenze mißbilligte. Daß es sich so verhielt, ist allgemeinkundig. Auch der Umstand, daß die Befehlslage der Geheimhaltung des Vorganges Vorrang vor einer schnellen Lebensrettung des Opfers gab, zeigt, in welchem Maße die Verantwortlichen eine Mißbilligung der Todesschüsse durch die Bevölkerung voraussetzten. ...
      4. Die Strafzumessung hält der sachlichrechtlichen Nachprüfung stand. Der Tatrichter hat ... nicht übersehen, daß die Angeklagten erst nach dem Bau der Berliner Mauer aufgewachsen sind und nach Herkunft und Lebensweg keine Möglichkeit hatten, der Indoktrination eine kritische Einschätzung entgegenzustellen. ... Die Angeklagten standen in der militärischen Hierarchie ganz unten. Sie sind in gewisser Weise auch Opfer der mit dieser Grenze verbundenen Verhältnisse. Wie die Verteidigung zutreffend ausgeführt hat, haben Umstände, die die Angeklagten nicht zu vertreten haben, dazu geführt, daß sie vor Funktionsträgern, die über einen größeren Überblick und eine differenziertere Ausbildung verfügten, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sind. Dies alles drängte zu milden Strafen.

Hinweis:

      Vgl. auch die weiteren Urteile des Bundesgerichtshofs vom 25.3.1993 (5 StR 418/92), BGHSt 39, 168 (ZaöRV 55 [1995], 826); vom 26.7.1994 (5 StR 167/94), BGHSt 40, 241; vom 26.7.1994 (5 StR 98/94), BGHSt 40, 218. BVerfG, Beschluß vom 24.10.1996 (2 BvR 1851/94 u.a.), NJW 1997, 929.