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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


221. VERHÄLTNIS VON VÖLKERVERTRAGSRECHT UND INNERSTAATLICHEM RECHT

Nr.87/2 Art.6 Abs.1 GG kann bewirken, daß vorkonstitutionelle Normen des Völkervertragsrechts unanwendbar werden.
Art.6 (1) of the Basic Law may render preconstitutional norms of international treaty law inapplicable.

Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil vom 6.3.1987 (7 UE 575/86), InfAuslR 1987, 295 (ZaöRV 48 [1988], 728 f.) (s. 231.1.ÜStAng verheirateter Frauen [87/1]) (rechtskräftig)

Einleitung:

      Der Kläger, ein Arzt iranischer Staatsangehörigkeit, lebt seit 1972 in der Bundesrepublik. Er ist mit einer Deutschen verheiratet und hat drei Kinder deutscher Staatsangehörigkeit. Seinem Einbürgerungsantrag wurde nicht stattgegeben, weil Iran sich weigerte, den Kläger aus der iranischen Staatsangehörigkeit zu entlassen (vgl. §9 I Abs.1 Nr.1 RuStAG). Dies entsprach der iranischen Politik, Ärzten generell die Ausbürgerung zu verweigern, weil in Iran ein Ärztemangel herrscht. Im fortgeltenden Schlußprotokoll (Abschn.II) zum Niederlassungsabkommen (NAK) zwischen dem Deutschen Reich und dem Kaiserreich Persien vom 17.2.1929 (RGBl.II S.1006) ist festgelegt, daß kein Vertragsstaat Staatsangehörige des anderen Staates ohne deren Zustimmung einbürgern darf. Die Verpflichtungsklage auf Einbürgerung hatte in 2. Instanz Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      Der Senat kann die Frage des teilweisen Außerkrafttretens der Nr.II des Schlußprotokolls zum NAK im Hinblick auf Art.3, 117 GG aber letztlich offen lassen, denn der Anwendung dieser Vorschrift steht vorliegend jedenfalls Art.6 Abs.1 GG entgegen. Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Beschluß vom 19.04.1974 - BVerwG I B 42.73 -, in dem es die Weitergeltung des deutsch-persischen Niederlassungsabkommens bejaht hat, ausdrücklich ausgeführt, daß die Einbürgerung auch ohne die Beachtung der Nr.II des Schlußprotokolls in Betracht kommt, wenn anderenfalls vorrangiges Recht der Bundesrepublik Deutschland verletzt würde. Es kommt danach auf die Besonderheiten des Einzelfalles an. Art.6 Abs.1 GG, durch den Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung gestellt werden, hat auch Einfluß auf das Staatsangehörigkeitsrecht (BVerfGE 37 S.217 ff.). Auch bei der Frage der Einbürgerung müssen die Grundentscheidungen der Verfassung, die vor allem in den Grundrechten zum Ausdruck kommen, beachtet werden. Es entspricht nicht dem Verständnis des demokratischen, sozialen und dem Schutz der Menschenwürde verpflichteten Rechtsstaates, wenn bei der Zuerkennung der Staatsangehörigkeit so vorgegangen wird, als handele es sich nur um eine Abgrenzung des Staatsvolkes unter ordnungspolitischen Gesichtspunkten. Die Vorenthaltung der deutschen Staatsangehörigkeit für ein Familienmitglied führt zu einer erheblichen Differenzierung in der Rechtsstellung der einzelnen Familienangehörigen ...
      Art.6 GG gebietet nach alledem, nach Möglichkeit den Angehörigen einer Familie die gleiche Staatsangehörigkeit zu gewähren. Dabei muß auch die freie Entscheidung der Familie berücksichtigt werden, in welchem Staatsverband sie gemeinsam leben will. Dem hat der deutsche Gesetzgeber mit der Regelung in §9 RuStAG bereits Rechnung getragen. Der Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit darf aber nicht daran scheitern, daß ein ausländischer Staat durch ständige Nichtausübung oder negative Ausübung einer ihm eingeräumten Mitwirkungsbefugnis auf die Dauer diesen Erwerb auch da verhindert, wo aufgrund der Umstände des Einzelfalles (hier: Kläger hat nie im Iran gelebt und will sich dort auch nicht mehr niederlassen, Alter 48 Jahre, 6 Jahre Aufenthalt in der DDR, 19 Jahre Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland, 8 Jahre Ehe mit einer Deutschen, 3 Kinder deutscher Staatsangehörigkeit) die Voraussetzungen für eine Einbürgerung nach der allgemeinen Staatenpraxis eindeutig erfüllt sind ... Angesichts dieser tatsächlichen Entwicklung steht Art.6 Abs.1 GG als (höherrangige) Verfassungsnorm hier der Anwendung der Nr.II des Schlußprotokolls zum Niederlassungsabkommen als (vorkonstitutioneller) einfachgesetzlicher Rechtsnorm entgegen ...
      Im Gegensatz zum OVG Nordrhein-Westfalen [InfAuslR 1984, 144] ist der Senat damit der Auffassung, daß in einem Fall wie dem vorliegenden Art.6 Abs.1 GG nicht etwa nur der Verwaltung die Möglichkeit eröffnet, nach ihrem Ermessen darüber zu befinden, ob sie die Regelung des Niederlassungsabkommens beachten will oder nicht. Es gibt zwar (insbesondere auch im Ausländerrecht) Regelungsbereiche, in denen das Grundrecht des Art.6 GG lediglich in Ermessenserwägungen miteinzubeziehen ist. Im vorliegenden Fall sieht der Senat aber die Schwelle, die sich aus einem bindenden Verfassungsgebot ergibt, überschritten, so daß in bezug auf die Berücksichtigung der staatsvertraglichen Regelung eine Ermessensbetätigung nicht mehr in Betracht kommt. Einer Ermessensbetätigung der Behörde steht im übrigen auch der Wortlaut der Nr.II des Schlußprotokolls entgegen. Entscheidend kann also nur sein, ob - höherrangiges - Verfassungsrecht ihre Anwendung verbietet. Dies ist hier, wie dargelegt, der Fall.