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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1821. VORRANG DES GEMEINSCHAFTSRECHTS

Nr.92/1

Die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes ist nicht entscheidungserheblich, wie es eine Vorlage nach Art.100 Abs.1 Satz 1 GG voraussetzt, wenn feststeht, daß es aufgrund entgegenstehenden vorrangigen Gemeinschaftsrechts nicht angewandt werden darf.

The constitutionality of a statute will not be material for the decision of a case, as is required for purposes of a reference under Art.100 (1) (1) of the Basic Law, if it has been established that the statute must not be applied because it conflicts with superior Community law.

Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 28.1.1992 (1 BvR 1025/82, 1 BvL 16/83 und 10/91), BVerfGE 85, 191 (ZaöRV 54 [1994], 534)

Einleitung:

      Nach §19 der Arbeitszeitordnung ist die Beschäftigung von Arbeiterinnen zur Nachtzeit untersagt. Dieses Verbot ist gemäß §25 AZO bußgeldbewehrt. Mit Einsprüchen gegen entsprechende Bußgeldbescheide befaßte Amtsgerichte hielten diese Arbeitszeitregelung wegen Verstoßes gegen Art.3 Abs.3 GG (Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts) für nichtig und legten die Angelegenheit daher dem Bundesverfassungsgericht im konkreten Normenkontrollverfahren nach Art.100 Abs.1 Satz 1 GG vor. Während der Anhängigkeit dieser Normenkontrollvorlagen erging das EuGH-Urteil in der Rechtssache Stoeckel. Mit dessen Auswirkungen auf die Zulässigkeit der Vorlagen befaßt sich das Bundesverfassungsgericht in den nachfolgenden Entscheidungsauszügen.

Entscheidungsauszüge:

      B.I. Die Vorlagen sind unzulässig, weil sie die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Norm in einem wesentlichen Punkt ungeklärt lassen.
      Nach Art.100 Abs.1 GG kann ein Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Verfassungsmäßigkeit einer Norm nur einholen, wenn es auf ihre Gültigkeit ankommt. Die Entscheidungserheblichkeit muß im Vorlagebeschluß hinreichend deutlich dargelegt werden und im Zeitpunkt der Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht noch gegeben sein ... Das ist jedenfalls dann nicht (mehr) der Fall, wenn die Unanwendbarkeit der Norm bereits aus anderen Gründen feststeht.
      Die Anwendbarkeit der Norm ist hier aufgrund der zwischenzeitlichen Rechtsanwendung erörterungsbedürftig geworden. Der Europäische Gerichtshof hat durch Urteil vom 25. Juli 1991 (Rechtssache C-345/89 - Stoeckel-, EuGRZ 1991, S.421 ff.) entschieden, daß Art.5 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates der Europäischen Gemeinschaften vom 9. Februar 1976 die Mitgliedsstaaten verpflichtet, für Frauen kein Verbot der Nachtarbeit als gesetzlichen Grundsatz aufzustellen, wenn es kein Verbot der Nachtarbeit von Männern gibt. In den Entscheidungsgründen wird unter Bezugnahme auf das Urteil des Gerichtshofs vom 26. Februar 1986 in der Rechtssache 152/84 (Marshall) ausgeführt, daß die genannte Richtlinie hinreichend bestimmt ist, um vom Einzelnen vor den nationalen Gerichten zu dem Zweck in Anspruch genommen zu werden, die Anwendung jeder nationalen Norm auszuschließen, die Art.5 Abs.1 der Richtlinie nicht entspricht.
      Rechtsakten des Gemeinschaftsrechts kommt für den Fall des Widerspruchs zu innerstaatlichem Gesetzesrecht auch vor deutschen Gerichten der Anwendungsvorrang zu. Dieser Anwendungsvorrang gegenüber späterem wie früherem nationalen Gesetzesrecht beruht auf einer ungeschriebenen Norm des primären Gemeinschaftsrechts, der durch die Zustimmungsgesetze zu den Gemeinschaftsverträgen in Verbindung mit Art.24 Abs.1 GG der innerstaatliche Rechtsanwendungsbefehl erteilt worden ist (BVerfGE 75, 223 [244 f.] m.w.N.).
      Die Auffassung des Europäischen Gerichtshofs zur rechtlichen Qualität der genannten Richtlinie hält sich im Rahmen des durch das Zustimmungsgesetz zum EWG-Vertrag abgesteckten Integrationsprogramms. Dieses wahrt seinerseits die rechtsstaatlichen Grenzen, die einer Übertragung von Hoheitsrechten nach Art.24 Abs.1 GG von Verfassungs wegen gesetzt sind (BVerfGE 75, 223 [240 ff.]). Über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht, das als Grundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte und Behörden in Anspruch genommen wird, übt das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit unter den gegebenen Umständen nicht aus (BVerfGE 73, 339 [387]).
      Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs bezieht sich zwar auf das Nachtarbeitsverbot nach Art.L 213-1 des französischen Code du travail. Diese Bestimmung unterscheidet sich aber in Hinblick auf die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern nicht wesentlich von dem Nachtarbeitsverbot nach deutschem Recht. ... Der Europäische Gerichtshof stellt bei seiner Entscheidung allein darauf ab, daß das Verbot nur für Frauen gilt, und läßt die zahlreichen Ausnahmen mit dem Hinweis außer Betracht, daß die Richtlinie 76/207/EWG es verbiete, den Ausschluß von Frauen von der Nachtarbeit als allgemeinen Grundsatz aufzustellen. Seine Antwort auf die vorgelegte Frage ist so gefaßt, daß sie Beschränkungen der Nachtarbeit betrifft, solange sie nur für Frauen, nicht aber für Männer gelten.
      Damit liegt ein Konflikt zwischen §25 Abs.1 Nr.5 in Verbindung mit §19 Abs.1 und 2 AZO und sekundärem Gemeinschaftsrecht offen zutage. Kollidiert Gemeinschaftsrecht mit nationalem Recht, so muß das Gericht den Normenkonflikt lösen. Dabei ist der Vorrang des Gemeinschaftsrechts zu beachten. Das gilt nicht nur für das primäre, sondern auch für das sekundäre Gemeinschaftsrecht. Richtlinien können unmittelbare Rechtswirkungen für den einzelnen Marktbürger entfalten, wenn der Mitgliedstaat eine darin festgelegte Verpflichtung nicht fristgerecht erfüllt hat. Auf solche Verpflichtungen des Staates kann der Marktbürger sich gegenüber den Gerichten seines Landes berufen, sofern sie klar und unbedingt sind und zu ihrer Anwendung keines Ausführungsaktes mehr bedürfen (vgl. BVerfGE 75, 223 [237 ff.]). Diese Voraussetzungen hat der Europäische Gerichtshof für die Richtlinie 76/207/EWG ausdrücklich bejaht. Unter den gegebenen Umständen spricht alles dafür, daß §25 Abs.1 Nr.5 in Verbindung mit §19 Abs.1 und 2 AZO von deutschen Gerichten nicht mehr angewendet werden darf. Bei dieser Sachlage mußten die Gerichte die Frage der Anwendbarkeit der Norm erneut prüfen, wenn sie ihre Vorlagen aufrechterhalten wollten.