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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1822. ÜBERPRÜFUNG VON GEMEINSCHAFTSRECHTSAKTEN DURCH DEUTSCHE GERICHTE

Nr.90/1

Nach der Solange II-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ist eine Gültigkeitskontrolle des sekundären Gemeinschaftsrechts am Maßstab des deutschen Verfassungsrechts, etwa an den Grundrechten oder am Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes, den Fachgerichten gegenwärtig verwehrt.

According to the "Solange II" decision of the Federal Constitutional Court, the specialized courts are currently prevented from reviewing the validity of secondary Community law according to German constitutional law standards, e.g., fundamental rights or the rule of law principle of the German Basic Law.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 8.3.1990 (3 C 15.84), BVerwGE 85, 24 (ZaöRV 52 [1992], 430)

Einleitung:

      Die Klägerin hatte die Erteilung einer Lizenz zur Einfuhr eiweißhaltiger Futtermittel aus einem Drittstaat beantragt und gebeten, ihr diese ohne Gestellung der in Art.3 Abs. 2 Satz 2 Verordnung (EWG) Nr.563/76 vorgesehenen Kaution zu erteilen, weil diese Bestimmung nichtig sei. Auf ihren Hilfsantrag wurde der Klägerin die Einfuhrlizenz gegen Stellung einer Kaution erteilt. Sie erhob daraufhin Klage gegen die Kautionsanordnung und verlangte Freigabe der gestellten Kaution. Während des erstinstanzlichen Verfahrens hat der Europäische Gerichtshof die VO (EWG) Nr.563/76 durch mehrere Urteile vom 5.7.1977 (Rs. 1147/76 u.a., Slg. 1977, 1211, 1247, 1269) für ungültig erklärt. Die Revision der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des Berufungsgerichts hatte nach Einholung einer Vorabentscheidung des EuGH (Urt. v. 25.2.1988 - Rs. 199/86, Slg. 1988, 1181) durch das Bundesverwaltungsgericht Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      2. ... c) Soweit die Anfechtungsklage hiernach zulässig ist, ist sie auch begründet. Die Kautionsanordnung ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, weil sie ohne Rechtsgrundlage ergangen ist. Die VO (EWG) Nr.563/76, auf die sie gestützt war, ist, wie der Europäische Gerichtshof in seinen Urteilen vom 5. Juli 1977 festgestellt hat, ungültig. Gemeinschaftsrecht steht nach der vom Senat eingeholten Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 25. Februar 1988 einer Aufhebung der von der Klägerin angefochtenen Kautionsfestsetzung nicht entgegen.
      3. Soweit die Klage auf Freigabe der von der Klägerin gestellten Kaution ... gerichtet ist, kann das angefochtene Urteil gleichfalls keinen Bestand haben. Insoweit ist die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. ...
      b) Das Berufungsgericht hat revisibles Recht verletzt, indem es angenommen hat, die Klage sei unbegründet, weil Gemeinschaftsrecht den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch ausschließe. Als Grundlage des Freigabeverlangens kommt nur ein öffentlich-rechtlicher Erstattungsanspruch in Betracht; dessen Voraussetzungen sind hier erfüllt. Die Beklagte hat die Kaution durch eine Leistung der Klägerin erhalten. Die Klägerin hat die Kaution zweckgerichtet im Hinblick auf die beantragte Einfuhrlizenz und die damit verbundene Kautionsfestsetzung zur Verfügung gestellt. Der Rechtsgrund für diese Leistung ist weggefallen, weil die Kautionsfestsetzung auf die Anfechtungsklage der Klägerin hin aufgehoben ist.
      c) Durch die vom erkennenden Senat eingeholte Vorabentscheidung des Europäischen Gerichtshofs ist geklärt, daß Gemeinschaftsrecht einen nach nationalem Recht bestehenden Anspruch auf Freigabe einer in Anwendung der Verordnung (EWG) Nr.563/76 gestellten Kaution in den Fällen ausschließt, in denen die zu den Bedingungen dieser Verordnung erworbenen eiweißhaltigen Erzeugnisse auf der Grundlage von Verträgen weiterverkauft worden sind, die vor dem Inkrafttreten der Verordnung abgeschlossen worden sind. Dagegen steht nach der genannten Entscheidung kein Rechtssatz des Gemeinschaftsrechts der Freigabe der Kaution entgegen, wenn die gegen Stellung einer Kaution erworbenen Erzeugnisse auf der Grundlage von Verträgen weiterverkauft worden sind, die nach dem Inkrafttreten der Verordnung abgeschlossen worden sind, und wenn die Kautionsfestsetzung mit Rechtsbehelfen des nationalen Rechts angefochten und dann wegen der Ungültigkeit dieser Verordnung aufgehoben worden ist.
      Diese Feststellungen sind für den erkennenden Senat nach Art.177 EWG-Vertrag verbindlich, da der Europäische Gerichtshof im Rahmen seiner Zuständigkeit für die Auslegung des Gemeinschaftsrechts der gesetzliche Richter ist (vgl. ... BVerfGE 73, 339; ...[75, 223]). Eine Überprüfung am Maßstab des deutschen Verfassungsrechts, also etwa an den Grundrechten oder am Rechtsstaatsprinzip, ist dem erkennenden Senat verwehrt. Das Bundesverfassungsgericht hat durch seinen Beschluß vom 22. Oktober 1986 (... [BVerfGE 73, 339] - Solange II) nicht etwa nur ... seine eigene Zuständigkeit zur Kontrolle des Gemeinschaftsrechts an den deutschen Grundrechten zurückgenommen und damit den Fachgerichten diese Aufgabe überantwortet. Aus den Gründen dieser Entscheidung geht vielmehr eindeutig hervor, daß beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts allein die gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsverbürgungen den materiellrechtlichen Kontrollmaßstab für die Gültigkeit abgeleiteten Gemeinschaftsrechts bilden sollen. Das Bundesverfassungsgericht erörtert beispielsweise die Zulässigkeitsvoraussetzungen einer die Grundrechte der Bürger tangierenden Übertragung von Hoheitsgewalt auf eine zwischenstaatliche Einrichtung für den Fall, daß "damit der nach Maßgabe des Grundgesetzes bestehende Rechtsschutz entfallen soll" (a.a.O. S.376). An anderer Stelle heißt es, angesichts der generellen Grundrechtsgewährleistung durch die europäischen Gemeinschaften komme eine Überprüfung der angegriffenen Kommissionsverordnungen auf ihre Vereinbarkeit mit Grundrechten des Grundgesetzes nicht in Betracht (a.a.O. S.387).
      Der Urteilstenor des Europäischen Gerichtshofs unterscheidet in der Frage des Ausschlusses von Ansprüchen auf Kautionsfreigabe danach, ob die eingeführten Waren aufgrund von Verträgen weiterveräußert worden sind, die vor oder nach dem Inkrafttreten der Verordnung (EWG) Nr.563/76 abgeschlossen worden sind. Grundlage dieser Unterscheidung ist Art.5 VO (EWG) Nr.563/76, der bestimmte, daß bei den vor dem Tag des Inkrafttretens der Verordnung geschlossenen Verträgen die nachfolgenden Käufer der eingeführten eiweißhaltigen Erzeugnisse die Auswirkungen der Belastung zu tragen hätten, die sich aus der in der Verordnung festgelegten Regelung ergaben. Für Absatzverträge, die nach Inkrafttreten der Verordnung geschlossen wurden, fehlt eine entsprechende Vorschrift. ... Das Berufungsgericht hat seiner Entscheidung die vom Europäischen Gerichtshof vorgenommene Unterscheidung zwischen Altkontrakten und Verträgen, die nach Inkrafttreten der Verordnung (EWG) Nr.563/76 geschlossen worden sind, nicht zugrunde gelegt. Es verletzt damit revisibles Recht.