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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1842.5. VERORDNUNG (EWG) NR.1612/68

Art.7 Abs.2

Nr.88/1

Das von einem Land zum Ausgleich kindbedingter Belastungen geleistete Babygeld ist auch dann eine den EG-Bürgern gleichermaßen zustehende soziale Vergünstigung im Sinne des Art.7 Abs.2 der VO (EWG) Nr.1612/68, wenn das Land damit zugleich einen Anreiz zur Erhöhung der Geburtenrate der deutschen Bevölkerung schaffen will.

The "baby funds" paid by a Land to compensate for the burdens associated with raising children constitutes a social advantage in the sense of Art.7 (2) of Regulation (EEC) No.1612/68 even if the Land at the same time thereby intends to create an incentive to raise the birthrate of the German population.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 15.4.1988 (7 C 117.86), DÖV 1988, 969 (ZaöRV 50 [1990], 122)

Einleitung:

      Die Kläger, ein in der Bundesrepublik ansässiges italienisches Arbeitnehmerehepaar, beantragten nach der Geburt ihres Sohnes die Gewährung eines Babygeldes gemäß den Richtlinien des Niedersächsischen Ministers für Sozialordnung vom 31.8.1981 (Niedersächsisches Ministerialblatt 1981, S.810). Ihr Antrag wurde abgelehnt. Das Bundesverwaltungsgericht gab ihrer Klage unter Bezug auf Art.7 Abs.2 VO (EWG) Nr.1612/68 statt.

Entscheidungsauszüge:

      II. ... 1. Die streitige Geldleistung wird nicht nach Rechtsvorschriften gewährt, die zugunsten der Leistungsempfänger Rechtsansprüche auf Leistungen begründen; vielmehr ist die Verteilung der Mittel in Richtlinien geregelt, die der Nds. Minister für Sozialordnung ohne gesetzliche Ermächtigung als Verwaltungsvorschriften erlassen hat. Wie der EuGH in seinem Urt. v. 14.1.1982 - Rs.65/81 - (Reina/Landeskreditbank Bad.-Württ., Slg.1982, S.33 [45]) entschieden hat, ist Art.7 Abs.2 der VO Nr.1612/68 auch auf derartige "freiwillige" Leistungen anzuwenden, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Leistungen im gesamten Gebiet eines Mitgliedstaats der EG oder, wie im vorliegenden Fall, nur von einem Gliedstaat des Mitgliedstaats gewährt werden (vgl. zu letzterem auch EuGH, Urt. v. 3.7.1974 - Rs.9/74 -, Casagrande/Landeshauptstadt München, Slg.1974, S.733 [778ff.]).
      2. Ob eine im Inland gewährte Leistung zu den sozialen Vergünstigungen zählt, die nach Art.7 Abs.2 der VO Nr.1612/68 auch den Staatsangehörigen der anderen Mitgliedstaaten zugute kommen soll, beurteilt sich nach dem Leistungszweck (EuGH, Urt. v. 31.5.1979 - Rs.207/78 -, Ministère Public/Even, Slg.1979, S.2019 [2033f.]). Das niedersächs. Babygeld ist nach seinem Zweck eine soziale Vergünstigung i.S. der genannten Vorschrift.
      Nach Nr.1 der Richtlinien ... soll das Babygeld neben Leistungen anderer Stellen die Familien von den mit der Geburt eines Kindes entstehenden Mehraufwendungen entlasten. Die Familien mit neugeborenen Kindern werden demnach als wirtschaftlich besonders belastet angesehen; deshalb wird ihnen, sofern eine bestimmte Einkommensgrenze nicht überschritten ist ..., eine einmalige Hilfeleistung in Höhe von 1000 DM gewährt. Das nds. Babygeld dient folglich dem Ausgleich kinderbedingter Belastungsunterschiede zwischen den Familien und damit der Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit. Es hat ebenso eine soziale Zweckbestimmung wie das im Land Baden-Württemberg gewährte Geburtsdarlehen, das Gegenstand der erwähnten Entscheidung des EuGH v. 14.1.1982 war und dort als eine soziale Vergünstigung i.S. von Art.7 Abs.2 der VO Nr.1612/68 bezeichnet worden ist. Denn auch dieses Geburtsdarlehen wurde in der Absicht gewährt, die wirtschaftliche Lage einkommensschwacher Familien mit neugeborenen Kindern zu verbessern ... Die bestehenden Unterschiede in der Förderungsart - in Niedersachsen werden nicht wie in Baden-Württemberg zinslose Darlehen, sondern verlorene Zuschüsse gewährt - ändern an der übereinstimmenden sozialen Zweckbestimmung der Leistungen nichts.
      Zugleich soll das nds. Babygeld über den in Nr.1 der Richtlinien beschriebenen Förderungszweck hinaus zugleich einen Anreiz zur Erhöhung der Geburtenrate geben. Auch in dieser Hinsicht gleicht das Babygeld dem vom EuGH behandelten baden-württembergischen Geburtsdarlehen, weil dieses Darlehen ebenfalls dazu bestimmt war, dem Rückgang der Geburtenrate der deutschen Bevölkerung entgegenzuwirken ... Zu diesem Zweck des bad.-württ. Geburtsdarlehens hat der EuGH in seinem Urt. v. 14.1.1982 (aaO S.44f.) ausgeführt, zwar stehe es den Mitgliedstaaten der EG in Ermangelung einer Zuständigkeit der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Bevölkerungspolitik grundsätzlich frei, die Verwirklichung der Ziele einer solchen Politik auch mit sozialpolitischen Maßnahmen zu betreiben. Dies bedeute jedoch nicht, daß die Gemeinschaft die Grenzen ihrer Zuständigkeit schon dadurch überschreite, daß sich deren Ausübung auf Maßnahmen auswirke, die zur Durchführung dieser Politik getroffen würden. Daher könne nicht davon ausgegangen werden, daß auf derartige Geburtsdarlehen die Vorschriften des Gemeinschaftsrechts über die Freizügigkeit, insbes. Art.7 Abs.2 der VO Nr.1612/68, allein deshalb nicht anwendbar seien, weil sie aus bevölkerungspolitischen Gründen gewährt würden. Der EuGH hat mithin bei der Beantwortung der Frage, ob Leistungen von der Art des bad.-württ. Geburtsdarlehens soziale Vergünstigungen i.S. von Art.7 Abs.2 der VO Nr.1612/68 sind, allein auf den unmittelbaren Leistungszweck, nämlich die wirtschaftliche Entlastung von Familien mit neugeborenen Kindern, abgehoben und die darüber hinaus beabsichtigten Folgewirkungen der Förderung auf dem Gebiet der Bevölkerungspolitik für rechtsunerheblich gehalten. Im vorliegenden Fall kann auf der Grundlage der Rechtsprechung des EuGH nicht anders entschieden werden.
      Ebensowenig ist die Beurteilung des nds. Babygelds als soziale Vergünstigung i.S. von Art.7 Abs.2 der VO Nr.1612/68 deshalb ausgeschlossen, weil die Förderungsleistungen nicht nur Arbeitnehmern, sondern jedem gewährt werden, der die in den Richtlinien umschriebenen Förderungsvoraussetzungen erfüllt. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH (vgl. Urt. v. 30.9.1975 - Rs.32/75 -, Cristini/SNCF, Slg.1975, S.1085 [1095]; Urt. v. 31.5.1979, aaO [S.2034]; Urt. v. 14.1.1982, aaO [S.44]) handelt es sich bei den sozialen Vergünstigungen im Sinne von Art.7 Abs.2 der VO Nr.1612/68 um solche Leistungen, "die - ob sie an einen Arbeitsvertrag anknüpfen oder nicht - den inländischen Arbeitnehmern im allgemeinen hauptsächlich wegen deren objektiven Arbeitnehmereigenschaft oder einfach wegen ihres Wohnsitzes im Inland gewährt werden". Der Begriff der sozialen Vergünstigung ist mithin nicht auf Leistungen beschränkt, die den inländischen Arbeitnehmern als Arbeitnehmern gewährt werden; er umfaßt vielmehr auch Sozialleistungen für jedermann.