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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1842.5. VERORDNUNG (EWG) NR.1612/68

Art.7 Abs.2

Nr.93/1

Ein Arbeitnehmer aus einem EG-Mitgliedstaat kann zwar nicht aus dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art.7 (nunmehr: Art.6) EG-Vertrag, wohl aber aus Art.7 Abs.2 der Verordnung (EWG) Nr.1612/68 vom 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft einen Anspruch auf Ausbildungsförderung ableiten.

An employee from another EC member state can derive a claim to promotion of education from Art.7 (2) of the Regulation (EEC) No.1612/68 of 15 October 1968 on Freedom of Movement for Workers within the Community but not from the general prohibition of discrimination in Art.7 (now Art.6) of the EC Treaty.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 27.1.1993 (11 C 2.92), NVwZ 1994, 375 (ZaöRV 55 [1995], 878f.)

Einleitung:

      Der Kläger, französischer Staatsangehöriger, hatte in der Bundesrepublik Deutschland eine Lehre als Elektromechaniker abgeschlossen und anschließend einige Zeit bei verschiedenen Arbeitgebern gearbeitet. Anschließend besuchte er ein Berufskolleg zur Erlangung der Fachhochschulreife im Schwerpunktfach Technik, wofür er Förderung nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz beantragte. Erst in der Revisionsinstanz hatte er mit seinem Begehren Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      Das angefochtene [Berufungs-]Urteil hat den Anspruch des Klägers auf Förderung seiner Schulausbildung ... zu Unrecht verneint. Zwar ist der Anspruch für den streitigen Bewilligungszeitraum aus ... [dem] BAföG, das hier in der Fassung ... vom 24.5.1984 (BGBl. I, 707) anzuwenden ist, nicht herzuleiten; er ergibt sich indessen unmittelbar aus Art.7 Abs.2 der Verordnung (EWG) Nr.1612/68 vom 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft (ABIEG Nr.L 257 S.2, geändert durch Verordnung [EWG] Nr.312/76 vom 9.2.1976 (ABlEG Nr.L 39, S.2). ...
      3. Der Verwaltungsgerichtshof hat ... in seiner Entscheidung die Tragweite des Rechts der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere den Anwendungsbereich von Art.7 der Verordnung (EWG) Nr.1612/68 verkannt. Er hat dabei vor allem die Maßstäbe noch nicht beachten können, die der EuGH in seinem Urteil vom 21.6.1988 in der Rechtssache 39/86 (Lair, Slg.1988, 3161 ...) gesetzt hat. Dies führt zum Erfolg der Revision, die nach §137 Abs.1 Nr.1 VwGO unmittelbar auf die Verletzung der Verordnung (EWG) Nr.1612/68 gestützt werden kann. Auch das Recht der Europäischen Gemeinschaft ist im Sinne des §137 Abs.1 Nr.1 VwGO revisibel ...
      a) In der Rechtsprechung des EuGH ist geklärt, daß das allgemeine Diskriminierungsverbot des Art.7 Abs.1 EWGV beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts für einen ausländischen Auszubildenden keinen Anspruch auf Ausbildungsförderung vermittelt (EuGH, Slg.1988, 3161 [3195] ...; EuGH, Slg.1988, 3205 [3243] - Brown). Anders als der Zugang zu einer Berufsausbildung (vgl. dazu EuGH, Slg.1985, 593 ... - Gravier und EuGH, NJW 1992, 1493 ... - Raulin) fällt die Ausbildungsförderung nicht in den Anwendungsbereich des EWG-Vertrages im Sinne von dessen Art.7 ...
      b) Grundlage für den Anspruch des Klägers ist jedoch Art.7 der Verordnung (EWG) Nr.1612/68, die Regelungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft enthält. Da der deutsche Gesetzgeber die sich hieraus ergebenden Anforderungen, wie sie der EuGH im Urteil vom 21.6.1988 (EuGH, Slg.1988, 3161 ...) dargelegt hat, bis zum Inkrafttreten des mit dem 12.BAföG-Änderungsgesetz vom 22.5.1990 (BGBl. I, 936) eingeführten §8 Abs.1 Nr.6 BAföG nicht in das nationale Recht transponiert hatte, ist die genannte Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, der nach Art.189 Abs.2 EWGV allgemeine, verbindliche und unmittelbare Geltung zukommt, als Anspruchsgrundlage für eine Förderung heranzuziehen ...
      c) Der Kläger erfüllt die anspruchsbegründenden Voraussetzungen des Art.7 Abs.2 Verordnung (EWG) Nr.1612/68. Die Vorschrift bestimmt in Verbindung mit Art.7 Abs.1 Verordnung, daß ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie die inländischen Arbeitnehmer genießt. Daß die Ausbildung des Klägers bei einem Berufskolleg zur Erlangung der Fachhochschulreife nicht als Besuch einer Berufsschule oder eines Umschulungszentrums im Sinne von Art.7 Abs.3 Verordnung (EWG) Nr.1612/68 qualifiziert werden kann, steht der grundsätzlichen Anwendbarkeit von Art.7 Abs.2 Verordnung (EWG) Nr.1612/68 nicht entgegen ... Auch ist eine Ausbildungsfinanzierung, wie der Kläger sie erstrebt, als soziale Vergünstigung im Sinne des Art.7 Abs.2 Verordnung (EWG) Nr.1612/68 anzusehen ...
      Schließlich ist der Kläger Arbeitnehmer im Sinne der Verordnung (EWG) Nr.1612/68. Das Recht der Europäischen Gemeinschaft definiert den Begriff "Arbeitnehmer" nicht selbst. Daß der Kläger zu Zeiten seiner mehr als dreijährigen Erwerbstätigkeit Arbeitnehmer im Sinne des Gemeinschaftsrechts war, steht gleichwohl fest. Er hat diese Stellung auch nicht verloren, als er sich zum Besuch des Berufskollegs ... entschloß. Dies gilt auch dann, wenn davon ausgegangen wird, daß der Kläger zuvor seine Erwerbstätigkeit freiwillig aufgegeben hat. In der Rechtsprechung des EuGH ist geklärt, daß ein Wanderarbeitnehmer, der seine Beschäftigung aufgibt und ein Studium aufnimmt, seine Arbeitnehmereigenschaft dann nicht verliert, wenn zwischen der zuvor ausgeübten Berufstätigkeit und dem begonnenen Studium Kontinuität besteht. Dies ist der Fall, wenn der Gegenstand des Studiums mit demjenigen der früheren Erwerbstätigkeit im Zusammenhang steht (vgl. ... EuGH, EuZW 1992, 313 ...). Dabei kann dem Umstand keine maßgebliche Bedeutung beigemessen werden, ob es sich bei der begonnenen Ausbildung um ein unmittelbar auf den Erwerb eines berufsqualifizierenden Abschlusses gerichtetes Studium oder aber - wie im Fall des Klägers - um eine schulische Ausbildung handelt, die erst ein Studium ermöglichen soll. Auch dann gilt, daß es für die Wahrung des gemeinschaftsrechtlichen Arbeitnehmerstatus entscheidend auf eine inhaltliche Kontinuität der Gegenstände von Berufsausübung und Ausbildung ankommt. Liegt nämlich der tragende Grund für die dargestellte Interpretation des Arbeitnehmerbegriffs durch den EuGH darin, daß ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist und als solcher sein Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen hat, den gleichen Anspruch wie die inländischen Arbeitnehmer auf alle Vergünstigungen hat, die deren berufliche Qualifikation und sozialen Aufstieg erleichtern (vgl. EuGH, Slg.1988, 3161 [3197] ...), so ist vor diesem Hintergrund nicht ersichtlich, wie bei Vorliegen inhaltlicher Kontinuität zwischen einem Studium und einer Schulausbildung mit dem Ziel des Erwerbs der Hochschulreife differenziert werden könnte. Dies gilt jedenfalls dann, wenn auch die nach dem Erwerb der Hochschulreife beabsichtigte Ausbildung mit der früheren Berufstätigkeit in einem sachlichen Zusammenhang steht. ...
      Nach den tatsächlichen Feststellungen des vorinstanzlichen Urteils ist die danach entscheidungserhebliche innere Kontinuität zwischen der Erwerbstätigkeit des Klägers und der von ihm aufgenommenen Ausbildung gegeben. ...
      4. Der Senat kann zugunsten des Klägers in der Sache entscheiden, ohne zuvor das Verfahren gemäß Art.177 Abs.3 EWGV auszusetzen und eine Entscheidung des EuGH einzuholen. ... In seinem Urteil ... in der Rechtssache 283/81 (EuGH, Slg.1982, 3415 [3429] ...) hat [der EuGH] ... klargestellt, daß die Vorlagepflicht des letztinstanzlichen Gerichts dann nicht besteht, "wenn bereits eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofs vorliegt, durch die die betreffende Rechtsfrage gelöst ist ..." ... Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.