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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1842.10. AUFENTHALTSGESETZ/EWG

§12

Nr.87/1

Bei straffällig gewordenen EG-Ausländern darf die Ausweisung nicht auf generalpräventive Erwägungen gestützt werden. Entscheidend ist die Schwere der Wiederholungsgefahr.

The expulsion of delinquent EC citizens may not be based on considerations of general prevention. Instead, the decisive criterion has to be the gravity of the danger of recurrence.

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 15.6.1987 (13 S 597/87), InfAuslR 1987, 328 (ZaöRV 48 [1988], 732f.)

Einleitung:

      Der Kläger, ein griechischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine Ausweisung. Er war wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt und nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe vorzeitig entlassen worden. Seine Klage hatte Erfolg; die Berufung war unbegründet.

Entscheidungsauszüge:

      Zutreffend sind die Ausländerbehörden freilich davon ausgegangen,daß der Ausweisungstatbestand des §10 Abs.1 Nr.2 AuslG erfüllt ist. Denn der Kläger ist wegen einer Straftat verurteilt worden. Dagegen haben die Ausländerbehörden die Schranken verkannt, die ihnen bei der Betätigung des durch §10 Abs.1 AuslG eingeräumten Ermessens gezogen werden. Sie haben zwar vom Ausgangspunkt her berücksichtigt, daß der Kläger als griechischer Staatsangehöriger in den Genuß eines doppelten Privilegs kommt. Insbesondere das Regierungspräsidium hat unter Beachtung der in §55 Abs.3 AuslG getroffenen Regelung dem Umstand Rechnung getragen, daß ihm sowohl nach §12 Abs.1, 3 und 4 AufenthG/EWG als auch nach Art.2 Abs.1 und 3 des Niederlassungs- und Schiffahrtsvertrags zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Griechenland vom 18.3.1960 - NV - ein erhöhter Ausweisungsschutz zuteil wird. Er gehört zum Kreis der freizügigkeitsberechtigten EG-Angehörigen und kann sich darüber hinaus (vgl. §15 Satz 2 AufenthG/EWG) auf den Niederlassungs- und Schiffahrtsvertrag berufen, da er im Zeitpunkt der Behördenentscheidung seit mehr als fünf Jahren seinen ordnungsgemäßen Aufenthalt im Bundesgebiet hatte. Dies führte mit Rücksicht darauf, daß EG-Ausländer nach §12 Abs.3 AufenthG/EWG nur dann ausgewiesen werden dürfen, wenn sie durch ihr persönliches Verhalten hierzu Veranlassung gegeben haben, zum einen dazu, daß aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht allein zum Zwecke der Abschreckung anderer Ausländer zulässig waren ..., und hatte mit Blick auf Art.2 Abs.3 NV zum anderen zur Folge, daß eine Ausweisung nur dann in Betracht kam, wenn ein besonders schwerer Verstoß gegen die öffentliche Ordnung vorlag. Das Regierungspräsidium hat den Anforderungen des Aufenthaltsgesetzes/EWG insofern Genüge getan, als es davon abgesehen hat, für die Ausweisung des Klägers Gründe der Generalprävention ins Feld zu führen. Es hat auch die in Art.2 Abs.3 NV getroffene Regelung ins Auge gefaßt, sich hierbei aber auf den Standpunkt gestellt, daß die Ausweisung unabdingbar sei, da verhindert werden solle, daß der Kläger erneut in schwerwiegender Weise durch die Begehung von Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland beeinträchtige. Die von ihm angenommene Wiederholungsgefahr hat es bei der Prüfung der Tatbestandsvoraussetzungen des §12 Abs.3 AufenthG/EWG daraus hergeleitet, daß der Kläger nach den Feststellungen des Strafgerichts aus reinem Gewinnstreben gehandelt habe und deshalb zu der Befürchtung Anlaß gebe, er werde sich auch durch die Verbüßung der Freiheitsstrafe nicht davon abhalten lassen, künftig wieder einschlägig strafrechtlich in Erscheinung zu treten.
      Dem Regierungspräsidium ist darin zuzustimmen, daß die Ausweisung des Klägers der Abwehr einer von ihrer Art her schwerwiegenden Gefährdung der öffentlichen Ordnung dient. Denn durch Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz werden in höchst folgenschwerer Weise Rechtsgüter beeinträchtigt, denen ein hoher Rang zukommt ... Es widerspricht weder dem Schutzzweck des §12 Abs.3 AufenthG/EWG noch dem des Art.2 Abs.3 NV, wenn die Ausländerbehörde sich des Mittels der Ausweisung bedient, um Zuwiderhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz vorzubeugen, denn derartige Verstöße berühren wegen ihrer Gefährlichkeit ein Grundinteresse der Gesellschaft ...
      Das Regierungspräsidium hat indes nicht ausreichend dem Umstand Rechnung getragen, daß bei der rechtlichen Würdigung, ob von dem Ausländer, der den erhöhten Ausweisungsschutz des §12 AufenthG/EWG und des Art.2 NV genießt, eine besonders schwere Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, neben der Art auch das Maß der Gefährdung eine ausschlaggebende Rolle spielt ...
      Mit Rücksicht darauf, daß §12 Abs.3 AufenthG/EWG es der Behörde verwehrt, sich bei ihrer Ermessensausübung von generalpräventiven Erwägungen leiten zu lassen, ist eine Zukunftsprognose anzustellen, bei der unter Berücksichtigung der in Art.2 Abs.3 NV genannten Anforderungen zu prüfen ist, ob von dem Ausländer nicht bloß unter dem Blickwinkel des Tatgewichts, sondern auch unter dem Aspekt der Wiederholungsgefahr schwerwiegende Gefahren drohen. Je höher die Wahrscheinlichkeit ist, daß ein Straftäter zukünftig erneut strafrechtlich in Erscheinung treten wird, desto gewichtiger ist das öffentliche Interesse daran, ihn zum Schutze der durch ihn gefährdeten Rechtsgüter aus dem Bundesgebiet zu entfernen. Von diesem Grundsatz hat sich zwar auch das Regierungspräsidium leiten lassen. Es ist jedoch, obwohl dies wegen der Schrankenfunktion des §12 Abs.3 AufenthG/EWG und des Art.2 Abs.3 NV rechtlich geboten gewesen wäre, nicht der Frage nachgegangen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß der Kläger erneut mit dem Betäubungsmittelgesetz oder sonstigen Strafvorschriften in Konflikt gerät, und ob dieser Wahrscheinlichkeitsgrad ausreicht, um eine Ausweisung trotz des dem Kläger durch das EWG-Recht und durch völkerrechtliche Bestimmungen gewährten erhöhten Ausweisungsschutzes zu rechtfertigen. Richtig ist, daß bei der Beantwortung der Frage, ob eine Wiederholungsgefahr besteht, der durch ausländerbehördliche Maßnahmen zu begegnen ist, nach Maßgabe des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes je nach dem Ausmaß des möglichen Schadens zu differenzieren ist ... Auch im Anwendungsbereich des §12 AufenthG/EWG und des Art.2 NV sind die Anforderungen an die Wiederholungsgefahr um so geringer, je gewichtiger die Belange der Allgemeinheit sind, deren Schutz mit Ausweisung bezweckt wird ... Der Rückgriff auf diesen relativierten Wahrscheinlichkeitsmaßstab darf indes nicht zur Folge haben, daß der durch diese Bestimmungen vorgesehene erhöhte Ausweisungsschutz bei bestimmten Deliktsgruppen nur deshalb nicht mehr zum Tragen kommt, weil sich die Möglichkeit einer Wiederholung niemals mit Sicherheit ausschließen läßt ... Vielmehr hängt es auch bei schwerwiegenden Delikten von den Einzelumständen ab, inwieweit sich aus der Tat negative Folgerungen für das zukünftige Verhalten des Täters ziehen lassen ...