Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law Logo Max Planck Institute for Comparative Public Law and International Law

You are here: Publications Archive Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993

Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


Home | Inhalt | Zurück | Vor

Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1842.10. AUFENTHALTSGESETZ/EWG

§12

Nr.89/1

[a] Ein EG-Staatsangehöriger kann nicht ohne besondere Begründung allein aus spezialpräventiven Erwägungen ausgewiesen werden, wenn die gegen ihn verhängte Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

[b] Die Aids-Erkrankung eines EG-Ausländers bildet nur dann einen hinreichenden Ausweisungsgrund, wenn die Krankheit bereits bei der Einreise bestand.

[a] An EC national may not be expelled without further reason only for the purpose of detering the offender from future wrongdoing, if a prison sentence imposed on him or her has been suspended on probation.

[b] An EC national's AIDS infection can only serve as a sufficient basis for an expulsion order, if the person was already infected when entering Germany.

Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluß vom 19.5.1989 (10 CS 89.1202), EZAR 124 Nr.10 (ZaöRV 52 [1992], 441)

Einleitung:

      Der Antragsteller, ein italienischer Staatsangehöriger, wurde nach neunjährigem Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland wegen unerlaubten Besitzes und unerlaubter Abgabe von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, die das Gericht zur Bewährung aussetzte. Im Strafurteil wurde festgestellt, daß der Antragsteller heroinsüchtig gewesen und an Aids erkrankt sei. Ein Handeltreiben mit Betäubungsmitteln habe ihm jedoch nicht nachgewiesen werden können.
      Daraufhin wies die Antragsgegnerin den Antragsteller unter Anordnung der sofortigen Vollziehung aus dem Bundesgebiet aus und drohte ihm die Abschiebung an. Im vorliegenden Verfahren begehrt der Antragsteller, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs wiederherzustellen bzw. anzuordnen. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag ab; die Beschwerde des Antragstellers hatte Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      II. Die zulässige Beschwerde ist begründet. Gegen die ... Ausweisungsverfügung der Antragsgegnerin bestehen erhebliche rechtliche Bedenken.
      Aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind, sind nur dann zulässig, wenn "außer der Störung der öffentlichen Ordnung, die jede Gesetzesverletzung darstellt, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt" (EuGH, NJW 1978, 479). Allein zum Zwecke der Abschreckung anderer Ausländer kann die Ausweisung grundsätzlich nicht verfügt werden (vgl. §12 Abs.4 AufenthG/EWG; BVerwGE 57, 61 ...).
      Eine hinreichend konkrete Gefahr neuer Störungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch den Ausländer, die seine Ausweisung aus spezialpräventiven Gründen rechtfertigen könnte, ist nicht erkennbar. Bereits die Strafaussetzung zur Bewährung durch das Strafgericht ist ein Anzeichen für das Fehlen einer Wiederholungsgefahr ...; zwar wird die Ausländerbehörde in ihrer Entscheidung dadurch nicht gebunden ..., sie ist aber von ihr bei der Ausübung ihres eigenständigen Prüfungsrechtes ausdrücklich zu würdigen. Die von der Antragsgegnerin in diesem Zusammenhang angestellte Überlegung, Heroinsüchtigen wie dem Antragsteller würde es ohne Therapiehilfen nicht gelingen, auf Dauer drogenunabhängig zu werden, genügt nicht zur Bejahung einer konkreten künftigen Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den Ausländer. Dabei soll nicht in Zweifel gestellt werden, daß diese Annahme eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich in Anspruch nehmen kann, sie enthebt die Ausländerbehörde aber nicht der Prüfung jedes Einzelfalls unter Berüchksichtigung dessen besonderer Umstände. Im vorliegenden Fall hätte Anlaß für eine nähere Prüfung der Rückfallgefährdung des Antragstellers schon deshalb bestanden, weil er unter Vorlage einer ärztlichen Bestätigung seine zumindest derzeitige Drogenunabhängigkeit behauptet hat. Diese ärztliche Feststellung läßt sich durch die Berufung auf abweichende Erfahrungswerte allein nicht widerlegen. Insoweit hätte es zusätzlicher, gegebenenfalls amtsärztlicher Untersuchungen bedurft.
      Ob - abweichend von den vorstehenden Ausführungen - generalpräventive Überlegungen die Ausweisung eines EG-Angehörigen dann rechtfertigen könnten, wenn dieser als Rauschgifthändler tätig geworden war, kann dahinstehen, da der Antragsteller nicht wegen Handels mit Betäubungsmitteln, sondern wegen unerlaubten Erwerbs zum Eigenkonsum ... verurteilt worden ist. Ein Handeltreiben mit Betäubungsmitteln konnte ihm nicht nachgewiesen werden.
      Kein Ausweisungsgrund ist schließlich auch die Erkrankung des Antragstellers an der Immunschwäche Aids. Zwar normiert §10 Abs.1 Nr.9 AuslG u.a. dann einen Ausweisungstatbestand, wenn der Ausländer ... die öffentliche Gesundheit gefährdet. Daß dies bei einer Erkrankung an Aids der Fall sein kann, bedarf keiner weiteren Darlegung. Gleichwohl kommt eine Ausweisung deshalb nicht in Betracht, weil gegen Angehörige von EG-Staaten aufenthaltsbeendende Maßnahmen, die zum Schutz der öffentlichen Gesundheit getroffen werden, nur dann zulässig sind, wenn die Immunschwäche (eine übertragbare Krankheit i.S. des Bundesseuchengesetzes - ...) bereits vor Erteilung der Aufenthaltserlaubnis aufgetreten war (vgl. §12 Abs.6 Satz 2 Aufenth/EWG). Feststellungen darüber, daß der Antragsteller schon bei seiner Einreise in das Bundesgebiet im November 1987 an Aids erkrankt war, hat die Antragsgegnerin nicht getroffen. Es ist somit davon auszugehen, daß sich der Antragsteller erst während seines Aufenthalts im Bundesgebiet mit dieser Krankheit infiziert hat. Seine Ausweisung auf der Grundlage des §10 Abs.1 Nr.9 AuslG ist deshalb nicht zulässig.