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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1843. NIEDERLASSUNGSFREIHEIT

Nr.88/1

[a] Die Einstufung eines in Belgien wohnenden Gemeinschaftsbürgers, der im Inland freiberuflich tätig ist, als beschränkt Steuerpflichtiger mit entsprechend beschränkten steuerlichen Abzugsmöglichkeiten verletzt dessen Niederlassungsfreiheit nicht.

[b] Diese Rechtsfolge ist so offenkundig, daß es einer Vorlage nach Art.177 Abs.3 EWGV nicht bedarf.

[a] The classification of a Community citizen, who lives in Belgium and is self-employed in Germany, as a person with limited tax liability and correspondingly limited opportunities for tax deductions does not violate his or her freedom of establishment.

[b] This legal consequence is so obvious that a reference under Art.177 (3) of the EEC Treaty is unnecessary.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 20.4.1988 (I R 219/82), BFHE 154, 38

Einleitung:

      Der Kläger hat seinen Lebensmittelpunkt in Deutschland, wo er freiberuflich tätig ist, seinen Wohnsitz jedoch seit einigen Jahren in Belgien. Deshalb veranlagte ihn das deutsche Finanzamt als beschränkt Steuerpflichtigen, wodurch ihm einige steuerliche Abzugsmöglichkeiten vorenthalten wurden. Der Kläger begehrt seine Veranlagung als unbeschränkt Steuerpflichtiger und beruft sich dazu auch auf seine Niederlassungsfreiheit. Der BFH folgt jedoch der Rechtsansicht des Finanzamts.

Entscheidungsauszüge:

      II. ... 3. Die Steuerfestsetzung ist nicht wegen Verstoßes gegen Vorschriften des EWG-Vertrags rechtswidrig. Die mit dem Wechsel der Art der subjektiven Steuerpflicht verbundenen steuerlichen Folgen verletzten kein dem Kläger nach dem EWG-Vertrag unter Berücksichtigung des Integrationsfortschritts zustehendes subjektives Recht.
      a) Mit seinem im Verfahren vor dem Finanzgericht gestellten Antrag macht der Kläger geltend, seine Besteuerung nach den besonderen Regeln für beschränkt Steuerpflichtige verletze den EWG-Vertrag. Damit beruft er sich sinngemäß als Gemeinschaftsbürger auf Art.52 EWGV.
      b) Stehen Normen des staatlichen Rechts in Widerspruch mit unmittelbar in den Mitgliedstaaten der EG geltenden, den Gemeinschaftsbürgern subjektive Rechte verleihenden Bestimmungen des EWG-Vertrags, sind nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 15. Juli 1964 Rs.6/64, Costa, EuGHE 1964, 1251, 1269/1270) und des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - (Urteil vom 9. Juni 1971 2 BvR 225/69, BVerfGE 31, 145, 174) die Normen des EWG-Vertrags mit Vorrang vor dem staatlichen Recht anzuwenden. Dabei obliegt es dem zur Sachentscheidung berufenen Gericht - unbeschadet der Vorabentscheidungskompetenz des EuGH (Art.177 EWGV) - zu entscheiden, ob ein solcher Konflikt besteht und der Vorrang des Gemeinschaftsrechts eingreift (BVerfGE 31, 145, 174; EuGH-Urteil vom 12. Juni 1984 Rs.107/83, Klopp, EuGHE 1984, 2971, 2988, Rz.14); die ausschließliche Kompetenz des BVerfG zur Nichtigerklärung nachkonstitutionellen deutschen Gesetzesrechts greift nicht ein (BVerfGE 31, 145, 174).
      c) Der EWG-Vertrag verbietet jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art.7 EWGV). Unter dieses Verbot fallen auch sog. versteckte Diskriminierungen, bei denen benachteiligende Regelungen zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit gelten, deren Tatbestände jedoch ausschließlich oder regelmäßig nur von ausländischen Staatsangehörigen erfüllt werden (EuGH-Urteil vom 12. Februar 1974 Rs.152/73, Sotgiu, EuGHE 1974, 152, 164 f; vom 29. Oktober 1980 Rs.22/80, Boussac, EuGHE 1980, 3427, 3436; EuGHE 1984, 2971). Art.52 EWGV gewährleistet den Gemeinschaftsbürgern die Niederlassungsfreiheit auch zur Ausübung eines freien Berufs ... Art.52 EWGV ist, soweit er die Diskriminierung von Angehörigen anderer Mitgliedstaaten verbietet, in den Mitgliedstaaten unmittelbar anzuwenden (EuGH-Urteil vom 21. Juni 1974 Rs.2/74, Reyners, EuGHE 1974, 631, 651 f. ...). Das Niederlassungsrecht gestattet - unbeschadet der Frage der Aufenthaltsberechtigung in dem anderen Staat -, in einem anderen Mitgliedstaat als dem der beruflichen Niederlassung zu wohnen (EuGHE 1984, 2971, 2987 f.); dies folgt auch aus Art.3 lit.c EWGV ...
      Da die Bedeutung des Art.52 EWGV in dem für die Entscheidung des Streitfalles erforderlichen Umfang durch die Rechtsprechung des EuGH geklärt ist, bedarf es nicht der Einholung einer Vorabentscheidung gemäß Art.177 Abs.1 Buchst.a EWGV.
      d) Die Besteuerung beschränkt Steuerpflichtiger in der Bundesrepublik verstößt nicht gegen das Verbot direkter oder indirekter Diskriminierung (Art.7 EWGV). Die §§49, 50 EStG knüpfen mit ihren tatbestandlichen Voraussetzungen nicht an die deutsche oder eine ausländische Staatsangehörigkeit an, so daß eine direkte Diskriminierung nicht vorliegt. Auch eine indirekte Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit findet nicht statt, weil bei der Anwendung der Vorschriften über die beschränkte Steuerpflicht die Staatsangehörigkeit des Steuerpflichtigen außer Betracht bleibt, wie es sich aus folgendem ergibt.
      Die die Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen beeinträchtigenden persönlichen Verhältnisse bleiben zwar durch die Versagung von Abzugsmöglichkeiten, die insoweit für unbeschränkt Steuerpflichtige bestehen, und durch die Nichtanwendung des Splittingverfahrens weitgehend unberücksichtigt (vgl. §50 Abs.1 und 3 EStG). Diese besonderen Regelungen bezwecken jedoch keine Benachteiligung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Sie beruhen vielmehr darauf, daß einerseits nur die inländischen Einkünfte beschränkt Steuerpflichtiger der deutschen Besteuerung unterliegen (§1 Abs.3, §49 EStG) und andererseits die persönlichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen allein in dem Staat berücksichtigt werden sollen, in dem er wohnt. Die Berücksichtigung der persönlichen Verhältnisse bei der Besteuerung allein der unbeschränkt Steuerpflichtigen ist auch deshalb keine versteckte Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit, weil die Voraussetzungen der unbeschränkten Steuerpflicht von einer großen Zahl ausländischer Staatsangehöriger und die der beschränkten Steuerpflicht - neben ausländischen Staatsangehörigen - von einer nicht geringen Zahl deutscher Staatsangehöriger erfüllt werden. Auch innerhalb des Kreises der beschränkt Steuerpflichtigen ergibt sich für ausländische und deutsche Staatsangehörige bei der Rechtsanwendung weder im Besteuerungsverfahren noch hinsichtlich der Steuerlast eine regelmäßig die eine oder andere Gruppe stärker belastende Wirkung ...
      e) Auch wenn die nach deutschem Einkommensteuerrecht für beschränkt Steuerpflichtige geltenden Besonderheiten keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit mit sich bringen, können sie - wie der Streitfall zeigt - gleichwohl Hindernisse für die Ausübung des Wegzugsrechts aus dem Beschäftigungsstaat bilden. Auch insoweit ist indes keine Verletzung des Art.52 EWGV feststellbar; dabei ist zu berücksichtigen, daß die EG eine im Prozeß fortschreitender Integration stehende Gemeinschaft eigener Art ist (BVerfG-Entscheidung vom 29. Mai 1974 2 BvL 52/71, BVerfGE 37, 271, 278).
      Der EWG-Vertrag enthält einen Harmonisierungsauftrag für die indirekten Steuern (Art.99 EWGV). Ein entsprechender Auftrag besteht für die direkten Steuern nicht. Ihre Harmonisierung kommt allein nach Art.100 EWGV in Betracht. Die Bemühungen um die Angleichung der Rechtsvorschriften über die direkten Steuern in der EG sind - vor allem im Hinblick auf die unterschiedlichen wirtschaftlichen Verhältnisse in den Mitgliedstaaten - mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden (vgl. Entwurf einer Richtlinie zur Beseitigung von Besteuerungsunterschieden bei - nichtselbständig tätigen - Grenzgängern, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften - ABlEG - 1980 C 21/5 vom 26. Januar 1980; Änderungsvorschläge des Europäischen Parlaments dazu, ABlEG 1982 C 149/122 vom 14. Juni 1982; Bericht des Finanzausschusses vom 26. Januar 1984 BTDrucks.10/926, S.11; Weißbuch der Kommission betreffend die Vollendung des Binnenmarktes, BRDrucks. 289/85 vom 10. Juli 1985, Rz.88ff.). Die Entwicklung der Gemeinschaft gestattet derzeit nicht, von den besonderen Vorschriften für die Besteuerung beschränkt Steuerpflichtiger, die das deutsche Einkommensteuergesetz enthält, abzugehen. Vielmehr wird das deutsche Einkommensteuergesetz, das durch die mit allen Mitgliedstaaten der EG bestehenden Doppelbesteuerungsabkommen ergänzt wird, dem Integrationsfortschritt gerecht.

Hinweis:

      Teilweise abweichend jetzt EuGH, Urteil vom 14.2.1995 (Rs. C-279/93 - Schumacker), EuZW 1995, 177.