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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1847. GLEICHBERECHTIGUNG VON MÄNNERN UND FRAUEN

Nr.91/1

[a] Der Ausschluß des Anspruchs auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für geringfügig beschäftigte Arbeiter in §1 Abs.3 Nr.2 LohnFG betrifft wegen der traditionellen Verteilung der Geschlechtsrollen wesentlich mehr Frauen als Männer und stellt deshalb eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar.

[b] Da diese mittelbare Diskriminierung sich nicht durch geschlechtsneutrale objektive Faktoren rechtfertigen läßt, verstößt sie gegen Art.119 Abs.1 EWG-Vertrag und ist somit unanwendbar.

[a] §1 (3) No.2 of the Act on the Continued Payment of Wages during Illness of Employees excludes claims of part-time workers (defined as working only ten hours or less a week). Due to the traditional distribution of roles between the sexes, this exclusion affects a considerably greater number of women than men and thus constitutes an indirect discrimination on the basis of sex.

[b] As this indirect discrimination cannot be justified by gender neutral objective factors, it violates Art.119 (1) of the EEC Treaty and is therefore inapplicable.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 9.10.1991 (5 AZR 598/90), NJW 1992, 1125 (ZaöRV 53 [1993], 436)

Einleitung:      

Die Klägerin arbeitete wöchentlich zehn Stunden. Als sie für längere Zeit krank wurde, verweigerte der Arbeitgeber ihr die Lohnfortzahlung unter Hinweis auf die Ausschlußklausel des §1 Abs.3 Nr.2 LohnFG. Ihre Klage auf Lohnfortzahlung begründete sie unter Hinweis auf Art.119 Abs.1 EWGV damit, daß der Ausschluß der geringfügig beschäftigten Arbeiter von der Lohnfortzahlung überwiegend Frauen treffe und daher als mittelbare Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts anzusehen sei. Die Klage war in allen drei Instanzen erfolgreich.

Entscheidungsauszüge:

      II. ... Dem Landesarbeitsgericht ist darin beizupflichten, daß der Lohnfortzahlungsanspruch der Klägerin trotz deren Beschäftigungsumfangs von nur wöchentlich zehn Stunden nicht durch §1 Abs.3 Nr.2 LohnFG ausgeschlossen ist, weil diese Bestimmung eine mittelbare Diskriminierung von Frauen bedeutet und infolgedessen wegen Verstoßes gegen das Lohngleichheitsgebot des Art.119 Abs.1 EWGV vorliegend nicht angewandt werden darf.
      1. Dem LAG ist zunächst darin zu folgen, daß eine Vorlage der hier entscheidenden Rechtsfrage an den EuGH nicht erforderlich ist. Allerdings haben ... gem. Art.177 Abs.3 EWGV die letztinstanzlichen Gerichte die Pflicht, den EuGH anzurufen, wenn eine entscheidungserhebliche Norm des Gemeinschaftsrechts auslegungsbedürftig ist. Eine Pflicht zur Vorlage entfällt aber dann, wenn die gleiche Rechtsfrage bereits Gegenstand einer Auslegung durch den Gerichtshof war (EuGH, AP Art.177 EWGV Nr.11 ...). Eine Vorabentscheidung des EuGH hat unmittelbare Bindungswirkung zwar nur für das Ausgangsverfahren, in welchem sie durch Vorlagebeschluß des damit befaßten nationalen Gerichts ergangen ist. Wenn das erkennende Gericht bei seiner Entscheidung jedoch eine vom EuGH bereits erklärte Interpretation zugrunde legen will, ist dem Gebot der einheitlichen Anwendung von Gemeinschaftsrecht auch ohne erneute Vorlage Rechnung getragen ... Die Entscheidung darüber, ob eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts auslegungsbedürftig ist, trifft allein das innerstaatliche Gericht. Dieses ist daher auch befugt, eine vom EuGH bereits entschiedene Rechtsfrage als geklärt und damit nicht mehr vorlagebedürftig anzusehen. Die Frage der Vereinbarkeit des §1 Abs.3 Nr.2 LohnFG mit Art.119 Abs.1 EWGV war bereits Gegenstand einer Entscheidung des EuGH, so daß es einer erneuten Vorlage nicht mehr bedarf. Der EuGH hat mit Urteil vom 13.7.1989 (NZA 1990, 437 ...) entschieden, Art.119 EWGV sei dahin auszulegen, daß er einer nationalen Regelung entgegensteht, die es den Arbeitgebern gestattet, von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle diejenigen Arbeitnehmer auszunehmen, deren regelmäßige Arbeitszeit wöchentlich zehn Stunden oder monatlich 45 Stunden nicht übersteigt, wenn diese Maßnahme wesentlich mehr Frauen als Männer trifft, es sei denn, der Mitgliedstaat läge dar, daß die betreffende Regelung durch objektive Faktoren, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt sei.
      2. Diese Auslegung durch den EuGH hat das LAG seiner Entscheidung zutreffend zugrunde gelegt.
      a) Art.119 Abs.1 EWGV verpflichtet die Mitgliedstaaten, den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anzuwenden und zu gewährleisten. Dieser Grundsatz wird in der Richtlinie 75/117/EWG vom 10.2.1975 (ABl. Nr.L 45/19) noch weiter konkretisiert. Nach der Rechtsprechung des EuGH entfaltet dieser Grundsatz der Lohngleichheit unmittelbare Wirkung in den Mitgliedstaaten, wenn allein anhand der in der Vorschrift des Art.119 Abs.1 EWGV verwendeten Merkmale "gleiche Arbeit" und "gleiches Entgelt" festgestellt werden kann, daß eine Diskriminierung aufgrund des Geschlechts vorliegt, ohne daß gemeinschaftliche oder nationale Maßnahmen zur Bestimmung dieser Kriterien erforderlich sind. Insoweit kann sich der betroffene Arbeitnehmer vor den nationalen Gerichten unmittelbar auf Art.119 Abs.1 EWGV berufen (vgl. EuGHE 1976, 455 ...; EuGHE 1980, 1275 ...; EuGH, NJW 1981, 2637 ... 2639 ...).
      b) Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist Entgelt im Sinne des Art.119 Abs.1 EWGV. Unter Entgelt sind nach der Legaldefinition des Art.119 EGWV alle Vergütungen zu verstehen, die der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer aufgrund des Dienstverhältnisses unmittelbar oder mittelbar in bar oder in Sachleistungen zahlt. Der EuGH hat deshalb im Urteil vom 13.7.1989 (NZA 1990, 437 ...) ausdrücklich den im Krankheitsfalle weiterzuzahlenden Lohn diesem Entgeltbegriff zugeordnet ...
      c) Das Lohngleichheitsgebot des Art.119 Abs.1 EWGV verbietet nicht nur solche Diskriminierungen, die sich unmittelbar aus der ausdrücklich nach dem Geschlecht differenzierenden jeweiligen Regelung ergeben. Das Diskriminierungsverbot erstreckt sich vielmehr auch auf solche Regelungen, die zwar geschlechtsneutral formuliert und deshalb auf Frauen und Männer gleichermaßen anzuwenden sind, tatsächlich jedoch aus Gründen, die auf dem Geschlecht oder der Geschlechtsrolle beruhen, wesentlich mehr Frauen als Männer nachteilig betreffen (vgl. EuGH, NZA 1986, 599 ...; EuGH, NJW 1981, 2639 ...). Derartige mittelbare Diskriminierungen ... werden ebenfalls von Art.119 EWGV verboten. Eine unterschiedliche Behandlung von Männern und Frauen bedeutet nur dann keine Verletzung des Art.119 Abs.1 EWGV, wenn hierfür objektiv rechtfertigende Gründe bestehen, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben ...
      3. Vorliegend ist der objektive Tatbestand einer mittelbaren Diskriminierung mit dem LAG als erfüllt anzusehen.
      a) Durch die gesetzliche Regelung des §1 Abs.3 Nr.2 LohnFG wird die Gruppe der geringfügig beschäftigen Arbeitnehmer von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle ausgeschlossen. Diese Vorschrift ist zwar geschlechtsneutral formuliert und deshalb unterschiedslos auf Männer und Frauen anzuwenden, in Wirklichkeit aber betrifft der Ausschluß von der Lohnfortzahlung wesentlich mehr Frauen als Männer. Das LAG hat unter Berufung auf die Eurostat-Erhebung 1987 ... festgestellt, daß in der Bundesrepublik 85% der gewerblichen Arbeitnehmer mit bis zu 10 Wochenstunden Frauen sind. ...
      b) Diese nachteiligen Auswirkungen des §1 Abs.3 Nr.2 LohnFG hat das LAG mit zutreffenden Erwägungen als auf dem Geschlecht bzw. der geschlechtsspezifischen Rolle der Frau beruhend angesehen. Geringfügige Teilzeitarbeit ist nach wie vor Frauenarbeit ... Die traditionelle Verteilung der Geschlechtsrollen weist auch heute noch in aller Regel den Frauen die Aufgabenbereiche Erziehung und Haushalt zu. Diese gesellschaftlichen Verhältnisses machen es insbesondere verheirateten Frauen schwer, eine vollberufliche Erwerbstätigkeit mit ihren familiären Belastungen zu vereinbaren. Als Ausweg verbleibt hier häufig nur eine Teilzeitbeschäftigung mit geringer Stundenzahl, da sich wegen der geringen täglichen Arbeitszeit und deren flexibler Lage Erwerbstätigkeit und familiäre Pflichten miteinander in Einklang bringen lassen ... Die Beweggründe für die Eingehung geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse werden weiter auch dadurch deutlich, daß diese Beschäftigungsform ganz überwiegend von verheirateten Frauen genutzt wird. Damit steht aber der hohe Anteil von Frauen an der Gesamtzahl geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer in unmittelbarem Zusammenhang mit der traditionellen Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern. Die bloße Möglichkeit einer umgekehrten Rollenverteilung durch entsprechende Lebensgestaltung der Ehepartner ändert daran nichts. Mag diese Möglichkeit auch nicht mehr unbedingt als nur theoretisch zu bezeichnen sein, wie das LAG es annimmt, so könnte sie doch erst dann berücksichtigt werden, wenn sie sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit auf den Anteil der Frauen an der Gesamtzahl der geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer auswirkte. Das ist gegenwärtig jedoch nicht der Fall.
      4. Geht das LAG damit zutreffend von einer mittelbaren Frauendiskriminierung durch §1 Abs.3 Nr.2 LohnFG aus, so läge nach dem Urteil des EuGH vom 13.7.1989 ... nur dann kein Verstoß gegen Art.119 EWGV vor, wenn der Mitgliedstaat darlegt, daß die betreffende Regelung durch objektive Faktoren, die nichts mit der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt ist ... An einer solchen Darlegung fehlt es. ...
      b) Entgegen der Auffassung der Revision läßt sich eine Rechtfertigung für den Ausschluß geringfügig beschäftigter Arbeiter von der Lohnfortzahlung auch nicht damit begründen, daß dieser Arbeitnehmerkreis nicht in einem anderen Arbeitnehmern vergleichbaren Maße in den Betrieb eingegliedert und diesem verbunden sei und ihm gegenüber daher die zur Lohnfortzahlung erforderliche Fürsorgepflicht des Arbeitgebers fehle ... Beide Arbeitnehmergruppen unterscheiden sich lediglich durch den Umfang ihrer Arbeitszeit. Im übrigen unterliegen die geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer in gleicher Weise dem Direktionsrecht des Arbeitgebers und bedürfen ebenso dessen Fürsorge. Eine Abhängigkeit der Fürsorgepflicht vom Umfang der Arbeitszeit besteht nicht. ...
      c) Der Ausschluß geringfügig beschäftigter Frauen von der Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle ist weiter nicht mit einer geringeren Schutzbedürftigkeit dieser Gruppe zu rechtfertigen. ... Vielen Arbeitnehmern bleibt als einzige Möglichkeit der Erwerbstätigkeit nur ein Teilzeitarbeitsverhältnis. Solche Arbeitnehmer sind auf diese Art der Beschäftigung zur Sicherung ihrer Existenz angewiesen und deshalb in gleicher Weise schutzbedürftig wie Vollzeitbeschäftigte. Aber auch bei geringfügig beschäftigten Arbeitnehmern, die anderweitig finanziell abgesichert sind - z.B. durch das Einkommen des Ehepartners oder den Bezug einer Rente -, kann nicht von einer geringeren Schutzbedürftigkeit ausgegangen werden. Allerdings wird in diesen Fällen die mit der geringfügigen Beschäftigung erzielte Vergütung im Regelfall nur einen Zusatzverdienst darstellen. Dennoch ist dieser Zusatzerwerb häufig für das Auskommen der Familie notwendig oder gar unverzichtbar. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle nicht vom Grad der Schutzbedürftigkeit des jeweiligen Arbeitnehmers abhängig ist. Das Lohnfortzahlungsgesetz stellt nicht auf die soziale Lage des Arbeitnehmers ab, vielmehr will es dem Arbeitnehmer im Krankheitsfalle für die ersten sechs Wochen der Arbeitsunfähigkeit dessen bisheriges Einkommen sichern und den Eintritt wirtschaftlicher Nachteile durch die Krankheit verhindern ...
      5. Der Verstoß des §1 Abs.3 Nr.2 LohnFG gegen Art.119 EWGV hat zur Folge, daß diese Vorschrift im Streitfall nicht angewandt werden darf. Aufgrund der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten führt der Vorrang des Gemeinschaftsrechts dazu, daß die nationalen Gerichte im Rahmen der bei ihnen anhängigen Verfahren entgegenstehendes innerstaatliches Recht aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen haben, ohne daß sie dessen Aufhebung durch den Gesetzgeber oder durch ein Verfassungsgericht abwarten müssen (vgl. EuGHE 1978, 629 [630] ...). Dem steht nicht entgegen, daß nach Art.100 GG die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nur vom Bundesverfassungsgericht festgestellt werden kann. Vorliegend geht es um die Frage der Vereinbarkeit einer nationalen Bestimmung mit unmittelbar anwendbarem europäischem Gemeinschaftsrecht. In derartigen Fällen können die Gerichte über die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit Art.119 EWGV gemäß der Rechtsprechung des EuGH selbst entscheiden.