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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


1847. GLEICHBERECHTIGUNG VON MÄNNERN UND FRAUEN

Nr.93/1

Eine mittelbare Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts liegt nicht vor, wenn ein Arbeitgeber an bestimmten Tagen ab 12.00 Uhr Arbeitsbefreiung gewährt, die vormittags teilzeitbeschäftigten Arbeitnehmer - zumeist Frauen - jedoch nicht zur Hälfte von ihrer Sollarbeitszeit freistellt.

There is no indirect gender discrimination if an employer grants release from work after 12 noon on certain days without granting part-time employees, mostly women, who work in the mornings a release from half of their regular working time.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26.5.1993 (5 AZR 184/92), Sammlung arbeitsrechtlicher Entscheidungen 48 (1994), 191ff. (ZaöRV 55 [1995], 884f.)

Einleitung:

      Nach §15 Abs.4 des Manteltarifvertrags für Arbeiter gemeindlicher Betriebe (BMT-G) gewährt die beklagte Stadt ihren Arbeitnehmern u.a. an Heiligabend, Silvester und bestimmten Karnevalstagen Arbeitsfreistellung ab 12.00 Uhr bei voller Bezahlung. Die halbtags beschäftigte Klägerin arbeitet regelmäßig vormittags. Sie verlangte unter Hinweis auf Art.119 EWG-Vertrag und das zugehörige Sekundärrecht, an den betreffenden Tagen ohne Lohneinbuße proportional entsprechend freigestellt zu werden, blieb damit jedoch in allen Instanzen erfolglos.

Entscheidungsauszüge:

      II. ... Die Beklagte, die die Klägerin an den genannten Tagen nicht freistellt, verstößt damit ... [nicht] gegen Art.119 EWG-Vertrag [sowie] die EWG-Richtlinien 75/117 und 76/207.
      1. Nach Art.119 Abs.1 EWG-Vertrag hat jeder Mitgliedstaat den Grundsatz gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher Arbeit anzuwenden und in der Folge beizubehalten. Art.119 EWG-Vertrag ist unmittelbar anwendbares Recht. Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kann sich der einzelne Arbeitnehmer gegenüber dem Arbeitgeber vor Gericht auf diese Vorschrift berufen (vgl. zuletzt ... EuGHE 1991, I-297 ...). Der Anwendungsbereich der Richtlinie 75/11/EWG geht nicht über den des Art.119 EWG-Vertrag hinaus (... EuGHE 1981, I-911, 927 ...).
      Das Lohngleichheitsgebot beansprucht nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Vorrang auch gegenüber Tarifverträgen (... EuGHE 1990, I-2591 ...). Dies ergibt sich auch aus Art.4 der Richtlinie 75/117/EWG, wonach die Mitgliedstaaten sicherzustellen haben, "daß mit dem Grundsatz des gleichen Entgelts unvereinbare Bestimmungen in Tarifverträgen ... nichtig sind oder für nichtig erklärt werden können".
      a) Die vom Arbeitgeber gewährten bezahlten Freistellungen fallen unter den Begriff des Entgelts im Sinne von Art.119 EWG-Vertrag. Nach Art.119 Abs.2 EWG-Vertrag sind unter "Entgelt" im Sinne dieses Artikels "die üblichen Grund- oder Mindestlöhne und -gehälter sowie alle sonstigen Vergütungen zu verstehen, die der Arbeitgeber aufgrund des Dienstverhältnisses dem Arbeitnehmer mittelbar oder unmittelbar oder in Sachleistungen zahlt" ... Wie der Europäische Gerichtshof mit Urteil vom 4.6.1992 ... [EzA §37 BetrVG 1972 Nr.108] entschieden hat, fallen Vergütungen in Form von bezahlten Arbeitsfreistellungen unter den Begriff des "Entgelts" im Sinne von Art.119 EWG-Vertrag und der Richtlinie 75/117/EWG.
      Die Klägerin wird anders behandelt als die Arbeitnehmer, deren Sollarbeitszeit nach 12.00 Uhr endet. Sie erhält also an diesen Tagen für die von ihr geleistete Arbeit eine geringere Vergütung pro Zeiteinheit als diejenigen, die ab 12.00 Uhr von der Arbeit freigestellt werden.
      b) Art.119 EWG-Vertrag erfaßt nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht nur die unmittelbare, sondern auch die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts (... EuGHE 1986, 1607 ...). Eine mittelbare Diskriminierung liegt vor, wenn eine Regel zwar unterschiedslos auf Männer und Frauen anzuwenden ist, die Benachteiligung aber erheblich mehr Frauen als Männer (oder umgekehrt) betrifft und nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben (... EuGHE 1989, 2743 ...). ...
      Es kann zugunsten der Klägerin unterstellt werden, daß die Benachteiligung erheblich mehr Frauen als Männer trifft, also der prozentuale Anteil der Frauen unter den Arbeitnehmern mit einer spätestens um 12.00 Uhr endenden Sollarbeitszeit erheblich größer ist als unter denen, deren Arbeitszeiten nach 12.00 Uhr endet. ...
      c) Denn die Ungleichbehandlung ist durch objektive Faktoren gerechtfertigt, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben.
      aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist es Sache des für die Beurteilung des Sachverhalts allein zuständigen nationalen Gerichts festzustellen, ob und inwieweit eine mittelbar diskriminierende Regelung durch objektive Gründe, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, gerechtfertigt ist ... Einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof nach Art.177 Abs.3 EWG-Vertrag bedarf es daher nicht.
      Bei dieser Prüfung sind die nationalen Gerichte in der Wahl ihrer Maßstäbe jedoch nicht frei, sondern an die Vorgaben gebunden, die sich nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Gemeinschaftsrecht ergeben. So ist zur Rechtfertigung der von einer Rechtsnorm vorgesehenen Ungleichbehandlung zunächst erforderlich, daß mit dieser Ungleichbehandlung ein sachlicher, nicht auf das Geschlecht bezogener Zweck verfolgt wird. Dabei genügt freilich nicht jeder sachliche Grund, sondern nur ein Zweck, der einem objektiven Betrachter hinreichend gewichtig erscheinen muß. So hat der Europäische Gerichtshof von einer für ein Unternehmen getroffenen Regelung gefordert, daß sie einem "wirklichen Bedürfnis" des Unternehmens dienen müsse (... [EuGHE 1986, 1607]). Zur Rechtfertigung einer diskriminierenden Gesetzesvorschrift hat er es für erforderlich gehalten, daß diese einem notwendigen Ziel der Sozialpolitik des Mitgliedstaats dient (... EuGHE 1991, I-2223). Es muß hinzukommen, daß die Ungleichbehandlung zur Erreichung des rechtfertigenden Ziels auch erforderlich und geeignet ist. ...
      bb) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erweist sich die Ungleichbehandlung hier als gerechtfertigt. Ein objektiver die Ungleichbehandlung rechtfertigender Grund liegt auch dann vor, wenn "Gleichbehandlung", also die Gewährung der Vergünstigung auch an die Teilzeitbeschäftigten, zu einer Veränderung des Leistungszwecks, d.h. der Art der Leistung führen würde, wenn also die den Teilzeitbeschäftigten gewährte Vergünstigung in ihrer Art nicht mehr dieselbe wäre wie die den Vollzeitbeschäftigten gewährte.
      Dies ist hier der Fall. Die Beklagte stellt ihre Arbeitnehmer am 24. und 31. Dezember eines jeden Jahres und in den meisten Jahren auch an Weiberfastnacht und am Karnevalsdienstag jeweils ab 12.00 Uhr von der Arbeit frei. Es handelt sich also um eine streng zeit- und anlaßbezogene Freistellung. ... Die Freistellung an den genannten Tagen ab 12.00 Uhr verliert ihren Charakter, wenn sie den vormittags beschäftigten Teilzeitkräften in der Weise gewährt wird, daß diese eine Hälfte ihrer Sollarbeitszeit von der Arbeit freigestellt werden. Eine an bestimmten Tagen vor 12.00 Uhr gewährte Freistellung ist einer ab dieser Uhrzeit gewährten Freistellung nicht gleichzusetzen. Das gilt zumindest dann, wenn für die Entscheidung für diese Art von Vergünstigung (Freistellung an den genannten vier Tagen jeweils ab 12.00 Uhr) sachliche Gründe sprechen, die ihrerseits nichts mit einer Diskriminierung von Frauen zu tun haben.
      So verhält es sich im Streitfall. Mit den Freistellungen am 24. und 31. Dezember ab 12.00 Uhr wird dem Umstand Rechnung getragen, daß auch die meisten anderen Arbeitnehmer in Deutschland an den Nachmittagen dieser beiden Tage frei haben und diese - im Gegensatz zu den Vormittagen - in der Bevölkerung als "Feier-Halbtage" angesehen werden. Für zahlreiche Arbeitnehmergruppen, insbesondere solche mit Publikumskontakt, wäre ein Einsatz am Nachmittag des 24. und 31. Dezember auch wirtschaftlich nicht sinnvoll. Es hat nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun, wenn die Beklagte an den genannten Tagen bis 12.00 Uhr einen geordneten Dienstbetrieb sicherstellen will und bis zu diesem Zeitpunkt keine Freistellungen gewährt. Für die ebenfalls ab 12.00 Uhr gewährten Freistellungen an Weiberfastnacht und Karnevalsdienstag gilt ähnliches.
      Mit [diesen] Freistellungen ... trägt die Beklagte nationalen Besonderheiten und örtlichem Brauchtum Rechnung. Eine mittelbare Diskriminierung der Frauen liegt darin nicht.
      2. Das europarechtliche Lohngleichheitsgebot ist durch Einfügung des §612 Abs.3 BGB in innerstaatliches Recht umgesetzt worden. Auch diese Vorschrift, die gemeinschaftsrechtskonform auszulegen ist ..., ist nicht verletzt. ... §612 Abs.3 BGB stellt ... an die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung keine strengeren Anforderungen als die ... europarechtlichen Bestimmungen.
      3. Die Richtlinie 76/207/EWG (Gleichbehandlungsrichtlinie) hat nach ihrem Art.1 S.1 "zum Ziel, daß in den Mitgliedstaaten der Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, einschließlich des Aufstiegs, und des Zugangs zur Berufsbildung sowie in bezug auf die Arbeitsbedingungen ... verwirklicht wird". ... Diese Richtlinie betrifft die Gleichbehandlung außerhalb des Grundsatzes der Lohngleichheit. ... Ein Verstoß gegen diese Vorschrift kommt hier nur dann in Betracht, wenn die bezahlte Freistellung nicht als Entgelt im Sinne des Art.119 EWG-Vertrag anzusehen ist. Das ist aber nach dem unter II 1 a Gesagten der Fall.