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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


231.1. INNERSTAATLICHE ANWENDBARKEIT VON EINZELNEN VERTRÄGEN

Europäisches Niederlassungsabkommen vom 13.12.1955 (BGBl.1959 II S.998)

Nr.92/1 Nach Art.3 Abs.3 des Europäischen Niederlassungsabkommens dürfen mehr als zehn Jahre rechtmäßig im Inland lebende Ausländer, auch wenn sie straffällig geworden sind, nur aus besonders schwerwiegenden Gründen ausgewiesen werden. Generalpräventive Gründe genügen hierfür nur in Ausnahmefällen, spezialpräventive Gründe regelmäßig dann nicht, wenn eine verhängte Freiheitsstrafe nach §56 Abs.1 StGB zur Bewährung ausgesetzt worden ist.
Under Art.3 (3) of the European Convention on Establishment, aliens having legally resided within the country for more than ten years may be expelled only for particularly grave reasons, even if they have incurred a penalty. In this context, reasons pertaining to general crime prevention will suffice in exceptional cases only, while reasons pertaining to prevention of further crime by the individual alien will, in general, be insufficient, if the sentence of imprisonment has been suspended on probation pursuant to sec.56 (1) of the Penal Code.

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluß vom 2.6.1992 (11 S 736/92), InfAuslR 1992, 341 (ZaöRV 54 [1994], 486)

Entscheidungsauszüge:

      [Die Ausweisung des Antragstellers (§80 Abs.5 VwGO) widerspricht] Art.3 Abs.3 des Europäischen Niederlassungsabkommens (ENA) ... Nach Art.3 Abs.1 ENA dürfen die Staatsangehörigen eines Vertragsstaates, die ihren ordnungsmäßigen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaates haben, nur ausgewiesen werden, wenn sie die Sicherheit des Staates gefährden oder gegen die öffentliche Ordnung oder Sittlichkeit verstoßen. Nach Art.3 Abs.3 ENA dürfen die Staatsangehörigen eines Vertragsstaates, die seit mehr als zehn Jahren ihren ordnungsmäßigen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaates haben, nur aus Gründen der Sicherheit des Staates, oder wenn die übrigen in Abs.1 aufgeführten Gründe besonders schwerwiegend sind, ausgewiesen werden. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Antragsteller hat sich seit 4.3.1979 ununterbrochen rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten. Zwar hat er durch seine Straftat gegen die öffentliche Ordnung verstoßen, jedoch ist der in diesem Verstoß liegende Ausweisungsgrund nicht besonders schwerwiegend im Sinne des Art.3 Abs.3 ENA.
      Nach dieser Vertragsbestimmung genügt ein schwerwiegender Verstoß nicht, um den Ausländer auszuweisen. Dem Verstoß muß ein darüber hinausgehendes Gewicht zukommen. Nach Sinn und Zweck dieser Vertragsbestimmung soll in Fällen eines langen ordnungsgemäßen Aufenthalts in einem Vertragsstaat die Ausweisung nur noch dann zulässig sein, wenn sie für den Vertragsstaat unvermeidbar erscheinen muß, weil die maßgebenden Gründe so gewichtig sind, daß die Anwesenheit des Ausländers auch bei Anlegung strenger Maßstäbe nicht länger hingenommen werden kann ... Die Beurteilung ist an den Ausweisungszwecken auszurichten, d.h. daran, daß die Ausweisung künftigen Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung oder Beeinträchtigungen erheblicher Belange der Bundesrepublik Deutschland vorbeugen soll.
      Wann Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, die eine Ausweisung rechtfertigen, als besonders schwerwiegend anzusehen sind, läßt sich nicht allgemein festlegen. Maßgebend sind die konkreten Umstände des Einzelfalles. ... Demnach kommt es darauf an, ob die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Bundesrepublik Deutschland durch den Ausländer zukünftig besonders schwerwiegend gefährdet wird. Soweit die Ausweisung neuen Gesetzesverstößen des Ausländers vorbeugen soll, kommt es demnach auf Art und Maß der von ihm ausgehenden Gefahr an. Dabei muß eine konkrete Gefahr einer neuen Störung gegeben sein, an deren Wahrscheinlichkeit keine zu geringen Anforderungen gestellt werden dürfen.
      Zwar kann eine genügende Gefährdung schon nach einer einzigen Verurteilung gegeben sein und bestimmt sich das erforderliche Maß der Wahrscheinlichkeit neuer Verfehlungen nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und ist deswegen in Fällen der Verurteilung wegen Gewalttaten unter Umständen geringer als in anderen Fällen anzusetzen. Ein Risiko, das der Strafrichter jedoch bei ber Strafaussetzung zur Bewährung (§56 Abs.1 StGB) in Kauf nehmen darf, genügt andererseits regelmäßig einer solchen Gefährdung nicht ... Ist die Erwartung künftiger Straflosigkeit nach §56 Abs.1 StGB noch gerechtfertigt, so ist - obwohl durch die Strafaussetzung zur Bewährung eine Wiederholungsgefahr nicht ausgeschlossen wird - in der Regel eine schwerwiegende Gefährdung zu verneinen. Das verbleibende Risiko, daß es zu neuen Verfehlungen kommt, ist mit Rücksicht auf den Ausweisungsschutz des Art.3 Abs.3 ENA grundsätzlich noch hinnehmbar.
      Dabei wirkt sich die eingeschränkte Ausweisungsmöglichkeit bezüglich der Abwehr vom Betroffenen ausgehender Gefahren, d.h. bezüglich des spezialpräventiven Zwecks der Ausweisung, im übrigen in zweifacher Hinsicht aus. Zum einen muß dem Ausweisungsanlaß ein besonderes Gewicht zukommen. Ein derartiges Gewicht ergibt sich aus den konkreten Umständen der jeweils in Frage stehenden Verhaltensweisen des Betroffenen, bei Straftaten insbesondere aus deren Art, Schwere und Häufigkeit. In der Beschränkung auf ein nach Art und Schwere besonders gravierendes Verhalten des Ausländers in der Vergangenheit erschöpft sich jedoch nicht der gesteigerte Ausweisungsschutz. Für den Ausweisungszweck, einer Wiederholungsgefahr vorzubeugen, sind auch gesteigerte Anforderungen an die Einschätzung der in Zukunft vom Betroffenen ausgehenden Gefahren zu stellen. Es müssen Anhaltspunkte dafür bestehen, daß in Zukunft schwere Gefährdungen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung durch neue Verfehlungen des Ausländers ernsthaft drohen und damit von ihm eine bedeutsame Gefahr für ein wichtiges Schutzgut ausgeht. Die Ausweisungsgründe sind mithin nicht bereits dann schwerwiegend, wenn lediglich eine entfernte Möglichkeit weiterer Störungen besteht, weil nicht ausgeschlossen werden kann, daß der Ausländer seine bisherigen Straftaten wiederholt. ...
      Zwar können Ausweisungsgründe auch mit Rücksicht auf den generalpräventiven Gesetzeszweck schwerwiegend sein, jedoch ist ebenfalls mit Rücksicht auf den besonderen Ausweisungsschutz der Maßstab gegenüber dem allgemeinen Ausweisungstatbestand anzuheben. Generalpräventive Gründe wiegen nur in Ausnahmefällen schwer. In diesem Zusammenhang kommt dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit besondere Bedeutung zu. Deswegen ist ... eine Ausweisung allein zum Zwecke der Generalprävention grundsätzlich unzulässig. Sie kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn die Straftat besonders schwer wiegt und deshalb ein dringendes Bedürfnis dafür besteht, über die strafrechtliche Sanktion hinaus durch Ausweisung andere Ausländer von Straftaten ähnlicher Art und Schwere abzuhalten.

Hinweis:

      Vgl. auch OVG Koblenz, Beschluß vom 16.3.1992 - 13 B 12453/91 - NVwZ-RR 1992, 660 (661): "Daß nach Sinn und Zweck des Art.3 Abs.3 des Abkommens die Ausweisung der hiervon begünstigten Ausländer ... nur noch zulässig ist, wenn sie für den Vertragsstaat unvermeidbar ist, weil die maßgeblichen Gründe so gewichtig sind, daß die Anwesenheit des Ausländers auch bei Anlegung strenger Maßstäbe nicht hingenommen werden kann ..., ergibt ... keine dem Antragsteller günstigere Betrachtungsweise. Denn insofern kann nicht zweifelhaft sein, daß gerade der Handel mit Heroin in nicht geringen Mengen wegen der hiermit angesichts seiner ungewöhnlich hohen Gefährlichkeit für die Gesundheit der Konsumenten und der mit der weitverbreiteten Kriminalisierung von Heroinsüchtigen verbundenen ganz erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung über die Bestrafung der Täter hinaus zugleich eine kontinuierliche Ausweisungspraxis unabdingbar macht ..., weswegen bei diesem Täterkreis trotz des Schutzgedankens des Art.3 Abs.3 ENA auch eine allein aus generalpräventiven Erwägungen verfügte Ausweisung als grundsätzlich zulässig angesehen wird ..."