Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 18.9.1990 (2 BvE 2/90), BVerfGE 82, 316 (ZaöRV 52 [1992], 460)
Die Bundesregierung und die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik haben am 31.8.1990 den Einigungsvertrag unterzeichnet, der in Art.4 durch den Beitritt der DDR bedingte Änderungen des Grundgesetzes vorsieht. Der im Deutschen Bundestag eingebrachte Entwurf für das nach Art.59 Abs.2 GG erforderliche Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag sollte im Verfahren der Verfassungsänderung (Art.79 Abs.2 GG) verabschiedet werden, so daß die vertraglich vereinbarten Verfassungsänderungen ohne gesondertes Gesetzgebungsverfahren gleich mit herbeigeführt würden. Die Antragsteller im vorliegenden Organstreitverfahren sahen sich durch diese Verfahrensweise in ihren Mitwirkungsrechten als Bundestagsabgeordnete verletzt. Sie machten geltend, die Einbettung der Verfassungsänderungen in einen völkerrechtlichen Vertrag bewirke, daß sie im Gesetzgebungsverfahren keine Änderungsanträge stellen könnten, da §82 Abs.2 der Geschäftsordnung des Bundestages Änderungsanträge zu Verträgen nach Art.59 Abs.2 GG ausschließe. Das Bundesverfassungsgericht verwarf den Organstreit-Antrag der Bundestagsabgeordneten als offensichtlich unbegründet (§24 Satz 1 BVerfGG).
B. ... II. Das Verfahren, das Bundesregierung und Bundestag eingeschlagen haben, um die in dem Einigungsvertrag vorgesehenen Grundgesetzänderungen herbeizuführen, verletzt die Antragsteller schon deshalb nicht in den von ihnen geltend gemachten Rechten, weil die Bundesregierung die Kompetenz hatte, die "beitrittsbedingten Änderungen des Grundgesetzes" (Art.4 des Einigungsvertrages) in den Einigungsvertrag einzubeziehen, und der Bundestag demgemäß hierüber in Form eines Zustimmungsgesetzes nach Art.59 Abs.2 GG unter Beachtung des Art.79 Abs.2 GG zu befinden hatte.
Das eingeschlagene Verfahren hat seine verfassungsrechtliche Grundlage in Art.23 Satz 2 GG in Verbindung mit dem Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes. Daher wird die von den Antragstellern in den Vordergrund ihres Vorbringens gerückte Frage, ob die Bundesregierung im Rahmen ihrer Zuständigkeit zur Wahrnehmung der auswärtigen Angelegenheiten befugt ist, Änderungen des Grundgesetzes in völkerrechtlichen Verträgen zu vereinbaren, nicht berührt. Die Deutsche Demokratische Republik gehört zu Deutschland und kann im Verhältnis zur Bundesrepublik Deutschland nicht als Ausland angesehen werden (BVerfGE 36, 1 [17] ...). Mit der Vereinbarung des Einigungsvertrages nimmt daher die Bundesregierung nicht Kompetenzen der auswärtigen Gewalt wahr, auch wenn für diesen Vertrag die Regeln des Völkerrechts gelten und das Parlament in der Form des Zustimmungsgesetzes nach Art.59 Abs.2 GG mitzuwirken hat. Ihre Kompetenz folgt vielmehr daraus, daß der Einigungsvertrag die Voraussetzungen des Beitritts nach Art.23 Satz 2 GG regelt, damit unmittelbar der Herstellung der deutschen Einheit dient und auf diese Weise der verfassungsrechtlichen Verpflichtung entspricht, auf die Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands hinzuwirken (vgl. BVerfGE 36, 1 [18]; 77, 137 [149]).
Der den Verfassungsorganen dabei zukommende weite Gestaltungsspielraum eröffnet ihnen insbesondere auch die Möglichkeit, sich derjenigen Formen politischen Handelns zu bedienen, die nach ihrer pflichtgemäßen Einschätzung zur Wahrnehmung der historischen Chance der Herstellung der Einheit Deutschlands geboten erscheinen. Es ist deshalb verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß die Bundesregierung beitrittsbezogene Änderungen des Grundgesetzes, die sich nach dem Verlauf der zwischen den beiden deutschen Staaten wie auch mit auswärtigen Mächten in Vorbereitung des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik geführten Verhandlungen nach ihrer Einschätzung als nötig erwiesen haben, zum Gegenstand vertraglicher Vereinbarungen mit dem Staat gemacht hat, der als ein Teil Deutschlands im Sinne von Art.23 Satz 2 GG seinen Willen zum Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland bekundet hat. Diese - von einer großen Mehrheit des Parlaments offenkundig geteilte - Einschätzung der politischen Lage durch die Bundesregierung hält sich im Rahmen ihres politischen Gestaltungsspielraums; nach dem Vortrag der Bundesregierung ist für sie maßgebend, daß bei Berücksichtigung der gegebenen nationalen wie internationalen politischen Konstellation die Vereinigung beider deutscher Staaten, die kraft der noch fortbestehenden alliierten Rechte auch nicht ohne Rücksicht auf diese ins Werk gesetzt werden kann, gegenwärtig am ehesten auf dem Vertragswege zu erreichen ist.
Durfte mithin die Bundesregierung in Erfüllung ihrer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Herstellung der deutschen Einheit im demokratischen Rechtsstaat der Bundesrepublik beitrittsbezogene Verfassungsänderungen zum Gegenstand des Einigungsvertrages machen, so folgt daraus, daß über solche Verfassungsänderungen als Teil des Gesamtvertrages vom Bundestag in Form des Zustimmungsgesetzes zu entscheiden ist und demgemäß Änderungsanträge nach §82 Abs.2 GOBT nicht gestellt werden können.
Ebenso die Hauptsacheentscheidung (BVerfGE 84, 90 [118f.]).