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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


343. RECHTSSCHUTZ GEGEN MASSNAHMEN DER AUSWÄRTIGEN GEWALT

Nr.93/2 Der Streit zwischen Bundesregierung und Bundestag über die Kompetenz zur Entsendung deutscher Soldaten zwecks Teilnahme am Einsatz von UNO-Friedenstruppen in Somalia ist bis zur Entscheidung in der Hauptsache dadurch zu überbrücken, daß die Initiative der Bundesregierung und die Zustimmung des Bundestages als konstitutiver Akt die UNO-Mission des deutschen Kontingents nur gemeinsam tragen können.
While the decision on the merits is pending, the dispute between the federal executive and the federal diet with regard to the power to deploy German soldiers for the purpose of participating in the UN peace-keeping operation in Somalia must be temporarily resolved in such a way that only in combination can the initiative of the federal executive and the consent of the federal diet as a constitutive act support the UN mission of the German contingent.

Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 23.6.1993 (2 BvQ 17/93) BVerfGE 89, 38 (ZaöRV 55 [1995], 898 ff.)

Einleitung:

      Zur Linderung einer Hungersnot in Somalia leisteten humanitäre Organisationen Hilfe. Angesichts schwerer politischer Unruhen kam es jedoch ständig zu Überfällen auf Hilfstransporte. Daraufhin beschloß der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen auf der Grundlage des VII. Kapitels der UN-Charta zunächst durch Resolution 794 vom 3.12.1992, ein sicheres Umfeld für die humanitären Hilfsmaßnahmen zu schaffen. Mit Resolution 814 vom 26.3.1993 wurde zu diesem Zweck das Unternehmen UNOSOM II ins Leben gerufen.
      Nach einem entsprechenden Angebot der Bundesregierung bat der Generalsekretär der Vereinten Nationen diese, Soldaten für UNOSOM II zur Verfügung zu stellen. Am 21.4.1993 beschloß das Bundeskabinett unter Nr.1, dieser Bitte durch Entsendung eines Bundeswehrbataillons für rein logistische Zwecke ohne Kampfauftrag (außer zur Selbstverteidigung) nachzukommen. Am selben Tag stimmte der Bundestag dem zu. Am 17.6.1993 fand ein Antrag der Opposition, der Bundestag solle die Bundesregierung auffordern, den Bundeswehreinsatz in Somalia zu beenden und die bereits entsandten Soldaten zurückzuholen, keine Mehrheit im Bundestag. Eine Bundestagsfraktion beantragte daraufhin beim Bundesverfassungsgericht den Erlaß einer einstweiligen Anordnung, mit der die Durchführung des Beschlusses der Bundesregierung ausgesetzt und diese angewiesen werden sollte, bis zur Entscheidung über den alsbald anzustrengenden Organstreit über die Mitwirkungsrechte des Bundestages an Bundeswehreinsätzen im Ausland die bereits in Somalia befindlichen Soldaten zurückzuziehen und keine weiteren Soldaten nach Somalia zu entsenden.

Entscheidungsauszüge:

      Entscheidungsformel (Tenor): Bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache darf die Beteiligung der Bundeswehr an UNOSOM II gemäß Nr.1 des Beschlusses der Bundesregierung vom 21. April 1993 (Bulletin ... S.280) nur aufrecht erhalten und fortgeführt werden, wenn und soweit der Deutsche Bundestag dies beschließt; bis zu einem solchen Beschluß können die bisher verwirklichten Maßnahmen fortgeführt werden.
      B. Der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
      ... 1. Nach §32 Abs.1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen ist ein besonders strenger Maßstab anzulegen, wenn eine Maßnahme mit völkerrechtlichen oder außenpolitischen Auswirkungen betroffen ist [vgl. Nr.343 [93/1]]... Dabei müssen die Gründe, welche für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht bleiben, es sei denn, das für die Hauptsache angekündigte Feststellungsbegehren erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Das Bundesverfassungsgericht wägt die Nachteile, die einträten, wenn die einstweilige Anordnung nicht erginge, die Maßnahme aber später für verfassungswidrig erklärt würde, gegen diejenigen ab, die entstünden, wenn die Maßnahme nicht in Kraft träte, sie sich aber im Hauptsacheverfahren als verfassungsgemäß erwiese (vgl. BVerfGE 86, 390 [395]; st. Rspr.).
      2. Der angekündigte Hauptsacheantrag ist weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet. Er wirft die gewichtige und schwierige Frage auf, ob und unter welchen Voraussetzungen die Bundesregierung Rechte des Bundestages verletzt, wenn sie entscheidet, sich mit deutschen Soldaten an einer vom Sicherheitsrat beschlossenen Aktion der Vereinten Nationen zu beteiligen.
      3. In dem Organstreitverfahren wird es um die von der Antragstellerin für den Bundestag geltend gemachten Entscheidungskompetenzen bei der Beteiligung der Bundeswehr an Aktionen aufgrund der Charta der Vereinten Nationen gehen. Eine einstweilige Anordnung im Rahmen eines solchen Streits kann allein der vorläufigen Sicherung des strittigen organschaftlichen Rechts des Bundestages dienen, damit es nicht im Zeitraum bis zur Entscheidung in der Hauptsache durch Schaffung vollendeter Tatsachen überspielt wird. Diese Sicherung hat hier davon auszugehen, daß ungeklärt ist, ob die Verwendung deutscher Soldaten im Rahmen der UNO-Maßnahme aufgrund eines Gesetzes, gegebenenfalls eines verfassungsändernden Gesetzes zulässig ist oder ob der Bundesregierung insoweit - nach dem geltenden Verfassungsrecht - die beanspruchte ausschließliche Entscheidungskompetenz in außen- und verteidigungspolitischen Angelegenheiten zusteht. Um in diesem Kompetenzkonflikt zwischen Parlament und Regierung mögliche Ansprüche des Bundestages zu sichern, ohne die Rechtsposition der Bundesregierung preiszugeben, kann das Bundesverfassungsgericht eine vorläufige Regelung lediglich darüber treffen, welches Organ bis zur Entscheidung über die Hauptsache befugt sein soll, über die Verwendung der Bundeswehr zu bestimmen; diese Regelung hat - soweit dies die einstweilige Sicherung des geltend gemachten Rechts nicht hindert - im Zwischenbereich der einander widerstreitenden Kompetenzansprüche zu verbleiben. Im Vorfeld eines solchen Organstreits zwischen Parlament und Regierung über bestehende Entscheidungskompetenzen ist es grundsätzlich nicht Aufgabe des zu aktivem politisch gestaltendem Handeln nicht berufenen Gerichts, anstelle dieser Organe eine einstweilige Sachentscheidung aufgrund einer Folgenabwägung zu treffen, für die es hinreichender rechtlicher Anhaltspunkte ermangelt.
      4. Die einstweilige Anordnung mußte in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang ergehen, weil die Antragstellerin anderenfalls bei einem Obsiegen im Hauptsacheverfahren schwerwiegende Nachteile hinzunehmen hätte, die größer wären, als diejenigen Nachteile, die die Antragsgegner träfen, wenn die einstweilige Anordnung erlassen wird und sie im Hauptsacheverfahren obsiegten.
      a) Erginge eine einstweilige Anordnung nicht, erwiese sich später aber die Mitwirkung deutscher Soldaten am UNO-Einsatz in Somalia ohne die beanspruchte Beteiligung des Bundestages als verfassungswidrig, so hätte der Bundestag sein Recht auf Mitwirkung bei der Entscheidung über die Entsendung deutscher Soldaten nach Somalia größtenteils oder - je nach Dauer des Somalia-Auftrags - schlechthin nicht wahrnehmen können. Eine solche Kompetenzverletzung wöge besonders schwer, weil die beanspruchte Entscheidung die Stellung Deutschlands in der UNO und in der Völkerrechtsgemeinschaft bestimmt und sich der Bundeswehr ... im Rahmen ihres Auftrages neue Aufgaben stellen. Hinzu kommt, daß hier - insoweit abweichend von dem der Entscheidung des Senats vom 8. April 1993 (AWACS) [Nr.343 [93/1]] zugrunde liegenden Sachverhalt - nicht unerhebliche Gefahren einzuschätzen und zu bewerten sind, die den Soldaten bei der Erfüllung des UNO-Mandats in Somalia an Leib und Leben drohen. Auch stünde eine später sich als notwendig erweisende parlamentarische Beschlußfassung unvermeidlich unter dem Druck inzwischen geschaffener tatsächlicher Verhältnisse und etwa eingetretener Entwicklungen.
      b) Demgegenüber wögen die Nachteile der hier getroffenen einstweiligen Anordnung weniger schwer, wenn es sich später im Hauptsacheverfahren erwiese, daß die Mitwirkung deutscher Soldaten bei der Erfüllung des UNO-Mandats in Somalia von der Bundesregierung beschlossen wurde, ohne Rechte des Bundestages zu verletzen. Dann hätte zwar der Bundestag an einer Entscheidung mitgewirkt, die in die Kompetenz der Bundesregierung fällt - dies allerdings in der Eigenschaft eines Verfassungsorgans, dem die Bundesregierung für ihre Entscheidungen auch im außen- und sicherheitspolitischen Bereich parlamentarisch verantwortlich ist. Verweigert der Bundestag die Zustimmung, so wird deutlich, daß der Bundesregierung für ein Engagement in Somalia die Unterstützung des Parlaments fehlt. Stimmt der Bundestag dem Kabinettsbeschluß vom 21. April 1993 zu, wird dem gemeinsamen Interesse sowohl der Bundesregierung als auch des Parlaments Rechnung getragen, der Entscheidung für die Dauer der verbleibenden Unsicherheit der verfassungsrechtlichen Lage eine den Kompetenzstreit überbrückende Grundlage zu geben.
      5. Das Zusammenwirken von Bundesregierung und Bundestag ist mithin bis zur Entscheidung in der Hauptsache dahin zu bestimmen, daß die Initiative der Bundesregierung und die Zustimmung des Bundestages als konstitutiver Akt die UNO-Mission des deutschen Kontingents nur gemeinsam tragen. Die Überbrückung des Kompetenzstreits für die Zeit bis zur Entscheidung der Hauptsache hat zur Folge, daß eine Beschlußfassung des Bundestages über die Zustimmung zu der Entsendung deutscher Soldaten zu UNOSOM II nicht dem Einwand ausgesetzt ist, den die Antragstellerin aus Art.87a GG herleitet; die umfassende Abwägung aller für und gegen diese Entsendung sprechenden Gründe bleibt dabei gewährleistet. Die einstweilige Anordnung sichert somit nicht das von der Antragstellerin geltend gemachte Recht, vor der Entsendung deutscher Soldaten nach Somalia ein Verfassungsänderungsverfahren durchzuführen; sie sichert jedoch insoweit etwaige Mitwirkungsrechte des Parlaments, indem sie die Bundesregierung an die konstitutive Zustimmung des Bundestages bindet.
      Der hiernach erforderliche Beschluß des Bundestages unterscheidet sich von den Entschließungen des Bundestages vom 21. April 1993 ... und vom 17. Juni 1993 ... Während der Bundestag in seinen früheren Entschließungen die Bundesregierung in ihrer bereits getroffenen Entscheidung bestärkte und diese politisch bekräftigte, ohne selbst eine Entscheidungskompetenz zu beanspruchen, ist dem Bundestag nunmehr aufgegeben, in eigener Verantwortlichkeit zu bestimmen, ob und in welchem Umfang der Beschluß der Bundesregierung vom 21. April 1993 unter Nr.1 bis zur Entscheidung der Hauptsache verwirklicht werden darf. Auch weitere Beschlüsse der Bundesregierung, die von diesem Beschluß abweichen oder ihn erneuern, bedürfen vor ihrer Ausführung parlamentarischer Zustimmung.
      Der Bedeutung der jetzt zu treffenden Entscheidung entspräche es, wenn der vom Bundestag zu fassende Beschluß in den zuständigen Ausschüssen vorbereitet und im Plenum des Bundestages erörtert würde.
      Um dem Bundestag die Wahrnehmung der ihm in der Zeit bis zur Entscheidung in der Hauptsache zufallenden Befugnisse und die parlamentarische Kontrolle der von ihm mitzuverantwortenden Vorgänge zu ermöglichen, ist die Bundesregierung gehalten, das Parlament laufend über den Fortgang der Maßnahme der Vereinten Nationen in Somalia sowie über die Einsatzbedingungen des deutschen UNOSOM II-Kontingents und die Erfüllung seines Auftrages zu unterrichten.
      C. Die Entscheidung ist einstimmig ergangen.


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Deutsche Rechtsprechung zum Völkerrecht und Europarecht 1986-1993

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