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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


660. STAATENLOSIGKEIT

Nr.92/1

[a] Die Ausnahmeklausel in Art.1 Abs.2 (i) des Staatenlosen-Übereinkommens von 1954 betreffend Schutz durch UN-Stellen besagt dasselbe wie die entsprechende Klausel in der Genfer Flüchtlingskonvention von 1951.

[b] Das Staatenlosen-Übereinkommens findet daher keine Anwendung, wenn der Betroffene das Tätigkeitsgebiet der UNRWA - und es sei aus berechtigter Furcht vor politischer Verfolgung - verlassen hat.

[a] The exemption clause in Art.1 (2) (i) of the 1954 Convention Relating to the Status of Stateless Persons concerning protection by U.N. agencies has the same meaning as the equivalent clause in the 1951 Geneva Convention Relating to the Status of Refugees.

[b] Thus, the Convention Relating to the Status of Stateless Persons will be inapplicable if the person concerned has left the area of activities of the UNRWA, even though the departure may have been motivated by well-founded fear of political persecution.

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 21.1.1992 (BVerwG 1 C 18.90), InfAuslR 1992, 161 (ZaöRV 54 [1994], 496)

Einleitung:

      Die mit einem libanesischen Reiseausweis für Palästina-Flüchtlinge in die Bundesrepublik eingereiste Klägerin begehrt die Erteilung eines Reiseausweises nach Art.28 des Übereinkommens über die Rechtsstellung von Staatenlosen vom 28.9.1954 (StlÜbk [BGBl. 1976 II S.473]). Ihre Klage hatte keinen Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      II. ... 2. Das Staatenlosen-Übereinkommen ist nach seinem Art.1 Abs.1 nur auf Personen anwendbar, ... die de iure staatenlos sind (BVerwGE 87, 11 [14] ...). Ob die Klägerin als palästinensischer Flüchtling zu diesem Personenkreis gehört, ...kann dahingestellt bleiben, da das Staatenlosen-Übereinkommen aus einem anderen Grunde auf die Klägerin nicht anwendbar ist.
      3. Nach Art.1 Abs.2 Buchst.i StlÜbk findet das Staatenlosen-Übereinkommen keine Anwendung "auf Personen, denen gegenwärtig ein Organ oder eine Organisation der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen Schutz oder Beistand gewährt, solange sie diesen Schutz oder Beistand genießen". Diese Bestimmung besagt inhaltlich im wesentlichen dasselbe wie Art.1 D des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S.560/BGBl. 1954 II S.619) - Genfer Konvention (GK) - (ebenso Denkschrift der Bundesregierung zum Staatenlosen-Übereinkommen, BR-Drucks.536/75 S.34) ...
      a) Der erste Teil von Art.1 Abs.2 Buchst.i StlÜbk stimmt im verbindlichen englischen und französischen Vertragstext mit dem Wortlaut des Art.1 D Abs.1 GK überein ...
      b) Auch die Entstehung und der Zusammenhang des Staatenlosen-Übereinkommens mit der Genfer Konvention sprechen dafür, daß den genannten Bestimmungen im wesentlichen dieselbe Bedeutung zukommt: 1950 hatte ein Ausschuß der Vereinten Nationen für Staatenlosigkeit und verwandte Probleme den Entwurf eines Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und eines Protokolls über die Rechtsstellung der Staatenlosen ausgearbeitet und einer von der UN-Vollversammlung angeregten Konferenz von Regierungsbevollmächtigten vorgelegt, die im Juli 1951 die Genfer Konvention beschloß, nicht jedoch das Protokoll über die Rechtsstellung der Staatenlosen. Dieses Protokoll wurde erst 1954 als selbständiges Übereinkommen verabschiedet. Es sieht für Staatenlose im wesentlichen dieselben Regelungen vor wie für Flüchtlinge die Genfer Konvention ... Auf den Zusammenhang der beiden Verträge deutet noch der Hinweis im Absatz 3 der Präambel des Staatenlosen-Übereinkommens hin, wonach die Genfer Konvention unzureichend ist, weil sie nur diejenigen Staatenlosen erfaßt, die gleichzeitig Flüchtlinge sind, nicht jedoch auf zahlreiche andere Staatenlose anwendbar ist. Da bei der zeitlich nachfolgenden Verabschiedung des Staatenlosen-Übereinkommens die Anwendungsklausel des Art.1 D Abs.2 GK bereits in Kraft getreten und den vertragschließenden Teilen bekannt war, erschien die in Art.1 Abs.2 Buchst.i StlÜbk gewählte verkürzte Fassung offenbar als ausreichend. Im Hinblick auf die parallele Zielsetzung der beiden Abkommen deutet danach die Entstehungsgeschichte auf eine im wesentlichen übereinstimmende Reichweite der beiden Bestimmungen hin.
      c) Für eine inhaltliche Übereinstimmung der Bestimmungen sprechen schließlich und vor allem deren Sinn und Zweck, die bei ihrer Auslegung zu berücksichtigen sind. Das läßt sich u.a. der allgemeinen Auslegungsregel in Art.31 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge ... - WÜV - entnehmen, und zwar unbeschadet dessen, daß diese nicht unmittelbar, sondern nur als Ausdruck allgemeiner Regeln des Völkerrechts auf das Staatenlosen-Übereinkommen anwendbar ist (vgl. Art.4 WÜV). Nach Art.31 Abs.1 WÜV ist ein Vertrag nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Ziels und Zwecks auszulegen. Nach Sinn und Zweck der in Art.1 Abs.2 Buchst.i StlÜbk und Art.1 D GK getroffenen Regelungen erübrigt sich die Gewährung der Vergünstigungen nach dem einen wie dem anderen Abkommen, weil der dort genannte Personenkreis bereits durch eine Organisation oder Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars für Flüchtlinge - UNHCR - besonderen Schutz oder Beistand erfährt. Die Vertragsstaaten, insbesondere die arabischen Staaten, sollten nicht verpflichtet sein, sich dieser Personengruppe nach Maßgabe der Abkommen anzunehmen.
      4. Angesichts der inhaltlichen Übereinstimmung von Art.1 Abs.2 Buchst.i StlÜbk mit Art.1 D GK gelten die Ausführungen zu dieser Bestimmung im Senatsurteil vom 4. Juni 1991 - BVerwG 1 C 42.88 - InfAuslR 1991, 305 (308) auch für die Ausschlußklausel im Staatenlosen-Übereinkommen. Das bedeutet:
      a) Mit der Formulierung "gegenwärtig" knüpft Art.1 Abs.2 Buchst.i StlÜbk ebenso wie Art.1 D Abs.1 GK an den bei Verabschiedung des Staatenlosen-Übereinkommens einer bestimmten Personengruppe bereits gewährten Schutz oder Beistand durch eine Organisation oder Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des UNHCR an, ohne damit solche Personen aus seinem Anwendungsbereich auszuschließen, die erst zu einem späteren Zeitpunkt in den Genuß des Schutzes oder Beistandes gelangt sind. Andererseits bezieht sich die Formulierung "gegenwärtig" lediglich auf die Begründung des UNRWA-Schutzes oder -Beistandes, nicht auch ... auf deren Fortbestand. Sonst hätte es des weiteren Zusatzes "solange sie diesen Schutz genießen ..." in Art.1 Abs.2 Buchst.i StlÜbk nicht bedurft.
      b) Zu den Schutz oder Beistand gewährenden Organisationen und Institutionen der Vereinten Nationen gehört die durch Resolution der Generalversammlung der Vereinten Nationen Nr.302/IV vom 8. Dezember 1949 mit Hilfeleistungen und Hilfsprogrammen für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten beauftragte, gegenüber dem UNHCR selbständige United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East - UNRWA ...
      d) Die Auschlußklausel des Art.1 Abs.2 Buchst.i StlÜbk gilt nur, solange die von ihr erfaßten Personen den ... Schutz oder Beistand der UNRWA genießen. Ist dieser Schutz weggefallen, findet das Staatenlosen-Übereinkommen Anwendung ...
      dd) Der Schutz oder Beistand der UNRWA ist ... nicht im Sinne der Abkommen weggefallen, wenn der Betroffene das Tätigkeitsgebiet der UNRWA verläßt und an Stelle dieses Schutzes oder Beistandes die Vergünstigungen des Staatenlosen-Übereinkommens oder der Genfer Konvention für sich beansprucht.
      (1) Das ergibt sich ... aus dem Zweck der Ausschlußklausel: Wie bereits erwähnt, soll die Vertragsvorschrift gewährleisten, daß sich in erster Linie die UNRWA der palästinensischen Flüchtlinge annimmt, nicht aber die Vertragsstaaten, insbesondere nicht die arabischen Staaten. Die palästinensischen Flüchtlinge werden also primär auf den Schutz oder Beistand der UNRWA verwiesen. Dieser Zweck würde verfehlt, wenn die Betroffenen es weitgehend in der Hand hätten, ob sie den Schutz oder Beistand der UNRWA oder allgemein die Vergünstigungen des Übereinkommens in Anspruch nehmen. Das ist offenkundig für solche Personen, die in dem bisherigen Aufnahmestaat verbleiben und dort, sofern es sich um einen Signatarstaat des Staatenlosen-Übereinkommens bzw. der Genfer Konvention handelt, die Vergünstigungen dieser Abkommen für sich beanspruchen. Dieser Staat darf unter Hinweis auf die Vorrangigkeit der UNRWA-Betreuung die Vergünstigungen der Abkommen versagen. Ebenso darf jeder andere Vertragsstaat verfahren, in den der Betroffene einreist.
      (2) Dabei kommt es nicht auf die Gründe an, die den Betroffenen zur Preisgabe der UNRWA-Betreuung und zum Verlassen des Tätigkeitgebietes der UNRWA veranlaßt haben. Ebensowenig kommt es darauf an, ob dem Betroffenen eine weitere Inanspruchnahme des UNRWA-Schutzes oder -Beistands zumutbar ist oder ihm deren Verlust vorgeworfen werden kann. Auch wenn ein Verbleiben im Tätigkeitsgebiet der UNRWA im Einzelfall unzumutbar ist, bedeutet dies nicht, daß die UNRWA ihre Tätigkeit eingestellt hat oder die Ausreise einer Einstellung der Tätigkeit gleichstünde. Die allgemeinen oder besonderen Lebensbedingungen, denen der Einzelne in den Aufnahmestaaten ausgesetzt ist, mögen es im Einzelfall nicht nur verständlich, sondern sogar zwingend erscheinen lassen, daß er das Land verläßt. Soweit die UNWRA in dem betreffenden Land weiterhin tätig ist, soll aber den Vertragsstaaten nicht schon deswegen die Verantwortung für den Betroffenen zuwachsen.
      (3) Hat der Betroffene z.B. aus berechtigter Furcht vor politischer Verfolgung den bisherigen Aufnahmestaat verlassen, so begründet dieser Umstand seine Flüchtlingseigenschaft nach Art.1 A Nr.2 GK und führt in der Bundesrepublik Deutschland zu seiner die Rechtsstellung nach der Genfer Konvention vermittelnden Anerkennung als Asylberechtigter in dem dafür vorgesehenen Verfahren (§3 Abs.1 AsylVfG). Auch ohne Furcht vor politischer Verfolgung können die Verhältnisse in dem Aufnahmestaat den Betroffenen zur Aufgabe des Schutzes oder Beistandes der UNRWA veranlassen und seine Aufnahme in der Bundesrepublik Deutschland aus humanitären Gründen rechtfertigen oder gebieten (vgl. §30 Abs.1 AuslG 1990). Damit ist ein angemessener Schutz gewährleistet. Das Verlassen des Aufnahmestaates aus Furcht vor Verfolgung oder sonstigen Gefahren begründet aber weder zusätzlich "ipso facto" die Flüchtlingseigenschaft nach Art.1 D Abs.2 GK noch die Anwendbarkeit des Staatenlosen-Übereinkommens. Insofern sind von der UNRWA betreute Palästina-Flüchtlinge in dem vorliegenden Zusammenhang nicht anders zu behandeln als andere Personen, die als Staatsangehörige oder Staatenlose in den Aufnahmestaaten leben ...