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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1986 - 1993


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Giegerich / Philipp / Polakiewicz / Rädler / Zimmermann


660. STAATENLOSIGKEIT

Nr.93/2

[a] Ein Staatenloser kann auch dann Rechte aus dem Übereinkommen über die Rechtstellung der Staatenlosen vom 28.9.1954 geltend machen, wenn er seine Staatenlosigkeit durch freiwilligen Verzicht auf seine frühere Staatsangehörigkeit herbeigeführt hat.

[b] Die Vermeidung der Staatenlosigkeit ist über den Kreis der Vertragsstaaten des Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit vom 30.8.1961 hinaus lediglich eine rechtspolitische Forderung, bislang jedoch kein Gebot des Völkergewohnheitsrechts.

[a] A stateless person can derive rights from the Convention relating to the Status of Stateless Persons of 28 September 1954 even if the person is stateless by virtue of having voluntarily renounced his or her former nationality.

[b] Beyond the group of contracting parties of the Convention on the Reduction of Statelessness of 30 August 1961, the prevention of statelessness is only a dictate of legal policy but not yet an obligation under customary international law.

Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 21.4.1993 (11 S 1437/92), InfAuslR 1993, 379 (ZaöRV 55 [1995], 837 f.) (rechtskräftig)

Einleitung:

      Ein rumänischer Staatsbürger hatte während seines Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland mit Zustimmung der rumänischen Behörden auf seine Staatsangehörigkeit verzichtet. Daraufhin beantragte er vergeblich die Ausstellung eines Reiseausweises für Staatenlose. Seine Klage hatte in der Berufungsinstanz Erfolg.

Entscheidungsauszüge:

      Die Klage ist begründet. Die Unterlassung der beantragten Ausstellung eines Reiseausweises für Staatenlose ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§113 Abs.5 Satz 1 VwGO). Denn er kann vom Beklagten die Ausstellung eines solchen Reiseausweises nach Art.28 Satz 1 StlÜb verlangen.
      Soweit die Anwendung des StlÜb im Einzelfall nicht ausgeschlossen ist (Art.1 Abs.2 StlÜb), stellen die Vertragsstaaten den Staatenlosen im Sinne des StlÜb (Art.1 Abs.1 StlÜb), die sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten, Reiseausweise aus, die ihnen Reisen außerhalb dieses Hoheitsgebietes gestatten, es sei denn, daß zwingende Gründe der Staatssicherheit oder der öffentlichen Ordnung dem entgegenstehen (Art.28 Satz 1 StlÜb). Die Voraussetzungen dieses Rechtsanspruchs sind im Falle des Klägers erfüllt. ...
      Die Anwendung des StlÜb ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Staatsangehörigkeit des Klägers darauf beruht, daß er auf die Staatsangehörigkeit seines Heimatstaates freiwillig verzichtet und der Heimatstaat diesen Verzicht rechtswirksam genehmigt hat. Ein die Anwendbarkeit des StlÜb insgesamt ausschließender Tatbestand nach Art.1 Abs.2 StlÜb ist dadurch nicht erfüllt. In der freiwilligen Begründung der Staatenlosigkeit durch Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit kann insbesondere keine Handlung gesehen werden, die im Sinne von Art.1 Abs.2 iii) Buchst.c) StlÜb den Zielen und Grundsätzen der Vereinten Nationen zuwiderläuft. Denn diese in Art.1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen ... beschriebenen "Ziele" und "Grundsätze" enthalten keine Aussage zur (Vermeidung von) Staatenlosigkeit. Über das Nicht-Vorliegen eines der Ausschlußtatbestände des Art.1 Abs.2 StlÜb hinaus steht die Anwendung des StlÜb unter keinem weiteren (stillschweigenden) Vorbehalt, etwa des Inhalts, daß die Staatenlosigkeit ohne eigenes Zutun des Betroffenen bewirkt wurde ... bzw. unvermeidbar war oder daß deren Beseitigung für den Staatenlosen unzumutbar ist. Einer derart einschränkenden Auslegung ist das StlÜb, welches die Rechtsstellung der Staatenlosen, nicht jedoch die Vermeidung oder Beseitigung ihrer Staatenlosigkeit zum Gegenstand hat, nicht zugänglich. Dies verbietet sich auch sowohl im Hinblick auf die Definition des Begriffs "Staatenloser" in Art.1 Abs.1 StlÜb, die nicht nach den Entstehungsgründen der Staatenlosigkeit oder der Möglichkeit ihrer Beseitigung differenziert, sondern ausschließlich auf den staatsangehörigkeitsrechtlichen Status quo des Betroffenen abstellt ..., als auch angesichts des abschließenden Kataloges der zur Unanwendbarkeit des StlÜb führenden Tatbestände in Art.1 Abs.2 StlÜb. Soweit in der Präambel des StlÜb das Bemühen hervorgehoben wird, den Staatenlosen die Ausübung der Menschenrechte und Grundfreiheiten in möglichst großem Umfang zu sichern, gilt dieser Vertragszweck für Personen, die "durch eigenes Zutun" bzw. vermeidbar staatenlos geworden sind oder die ihre Staatenlosigkeit zumutbar beseitigen könnten, grundsätzlich in gleichem Maße wie für andere staatenlose Personen.
      Der Kläger ist auch im Sinne des Art.28 Satz 1 StlÜb ein "Staatenloser", selbst wenn die Staatenlosigkeit auf einem nach dem rumänischen Staatsangehörigkeitsrecht zulässigen freiwilligen Verzicht auf die rumänische Staatsangehörigkeit beruht.
      Staatenloser im Sinne des StlÜb ist eine Person, die kein Staat aufgrund seines Rechts als Staatsangehörigen ansieht (Art.1 Abs.1 StlÜb). Sie muß de iure staatenlos sein ... Ob dies der Fall ist, richtet sich allein nach der Rechtsordnung der in Frage kommenden Staaten, da jeder Staat grundsätzlich selbst bestimmt, wer seine Staatsangehörigen sind, wodurch seine Staatsangehörigkeit erworben wird und wodurch sie verlorengeht ... Folglich ist eine Person auch dann staatenlos im Sinne von Art.1 Abs.1 StlÜb, wenn das innerstaatliche Recht eine Entlassung aus der Staatsangehörigkeit zuläßt, obwohl der Betroffene keine andere Staatsangehörigkeit besitzt oder erwirbt. Eine solche auf eigenen Antrag erfolgende Entlassung aus der Staatsangehörigkeit ist aufgrund der weiten völkerrechtlichen Schranken bei der innerstaatlichen Regelung der Staatsangehörigkeit ... nicht generell völkerrechtswidrig ... Ihre Vermeidung ist wohl eine rechtspolitische Forderung, bisher aber kein Gebot des allgemeinen Völkergewohnheitsrechts, sondern nur Gegenstand spezieller und nur von wenigen Staaten eingegangener völkervertraglicher Verpflichtungen ..., wie etwa des Übereinkommens zur Verminderung der Staatenlosigkeit vom 30.8.1961 (BGBl.II S.598) - StlVmÜb - ... Allenfalls könnte eine während des Aufenthalts einer Person im Ausland bewirkte Entlassung aus ihrer Staatsangehörigkeit, ohne daß diese eine andere Staatsangehörigkeit besitzt oder erwirbt, eine völkerrechtliche Verpflichtung des Staates der bisherigen Staatsangehörigkeit gegenüber dem Aufenthaltsstaat begründen, den Staatenlosen wieder aufzunehmen ... Der Wirksamkeit der Entlassung des Klägers aus der rumänischen Staatsangehörigkeit steht auch nicht Art.7 StlVmÜb entgegen ... Denn Rumänien ist dem StlVmÜb weder beigetreten noch hat es dieses ratifiziert ...
      Der Kläger hält sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auch rechtmäßig im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland auf. ... Denn er ist im Besitz einer gültigen Aufenthaltsgenehmigung in der Art einer Aufenthaltsbefugnis (§5 Nr.4 AuslG n. F.). ... Eine mit Zustimmung der zuständigen Ausländerbehörde begründete ständige Niederlassung, insbesondere der Besitz einer zu diesem Zweck erteilten Aufenthaltsgenehmigung oder etwa eine für die Einbürgerung erforderliche Aufenthaltsdauer, sind nicht erforderlich.