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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1993


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Christiane E. Philipp


IX. Europäische Gemeinschaften

9. Assoziierungsabkommen Europäische Gemeinschaften–Türkei

       82. In seinem Beschluß vom 23.12.1993 (BVerwG 1 B 63.93 = DÖV 1994, 522 = DVBl. 1994, 545 (Leitsatz) = InfAuslR 1994, 169 ff.) entschied das Bundesverwaltungsgericht im Hinblick auf Art. 7 Satz 1 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG/Türkei über die Entwicklung der Assoziation vom 19.9.1980 ARB 1/8058: Der Anspruch des Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angehörenden türkischen Arbeitnehmers auf unbeschränkten Zugang zum nationalen Arbeitsmarkt nach Art. 7 Satz 1 2. Spiegelstrich des ARB entfalle dann, wenn der türkische Arbeitnehmer, von dem der Anspruch abgeleitet werde, die Bundesrepublik Deutschland für immer verlassen habe, bevor der Anspruch nach Art. 7 ARB geltend gemacht werde. Art. 7 Satz 1 ARB mache dieses Recht davon abhängig, daß der türkische Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt angehöre.

       83. In seinem Urteil vom 16.2.1993 (4 L 220/92 = InfAuslR 1993, 166 ff.) entschied das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht im Hinblick auf die aufenthaltsrechtlichen Wirkungen des Art. 7 ARB 1/80 (bei Straffälligkeit eines türkischen Staatsangehörigen): Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 verleihe dem türkischen Staatsangehörigen, der sich auf ihn berufen könne, einen besonderen Schutz gegen Beschränkungen einer ihm erteilten Aufenthaltserlaubnis.

       Der Senat brauche im Zusammenhang mit dem vorliegenden Fall nicht abschließend zu entscheiden, ob Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 in Anlehnung an die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zu Art. 6 Abs. 1 auch aufenthaltsrechtliche Wirkung entfalte und sich der Ausländer, der die Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 7 Satz 1 erfülle, unmittelbar auf die Bestimmung berufen könne, um die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen59. Eine abschließende Entscheidung dieser Frage erübrige sich im vorliegenden Fall deshalb, weil jedenfalls die Rechtsstellung eines türkischen Staatsangehörigen, der eine Aufenthaltserlaubnis der in Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 genannten Art aktuell besitze, unter den besonderen aufenthaltsrechtlichen Schutz der Bestimmung dieses Beschlusses falle. Insoweit vermochte der Senat keinen Unterschied zu erkennen gegenüber den türkischen Staatsangehörigen, die sich auf Art. 6 ARB 1/80 berufen könnten. Dies gelte zumindest für die türkischen Staatsangehörigen, die unter die Regelung des 2. Spiegelstrichs von Satz 1 des Art. 7 fielen. Diese Regelung entspreche der des Art. 6 Abs. 1 3. Spiegelstrich. Im Ergebnis bedeute dies, daß Art. 7 ARB 1/80 den von ihm begünstigten türkischen Staatsangehörigen regelmäßig einen Anspruch auf Verlängerung einer ihnen erteilten Aufenthaltserlaubnis, jedenfalls aber einen Schutz gegen die Entziehung oder Beschränkung dieser Aufenthaltserlaubnis verleihe.

       84. Mit Urteil vom 28.4.1993 (11 S 2124/92 = InfAuslR 1993, 362 ff.) entschied der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg im Anschluß an das Urteil vom 20.9.199060, daß die Regelungen des Beschlusses des Assoziationsrates EWG-Türkei, Nr. 1/80 vom 19.9.1980 für die dadurch begünstigten türkischen Arbeitnehmer unmittelbar eine Rechtsposition begründeten. Einer Umsetzung der Regelung des Assoziationsratsbeschlusses in innerstaatlich unmittelbar anwendbares Recht bedürfe es nicht, um Rechte zugunsten einzelner zu begründen. Vielmehr hätten die innerstaatlichen (deutschen) Gerichte den Rechtsschutz zu gewähren, der sich für die einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechtes ergebe (vgl. EuGH Urteil vom 10.7.1980, Slg. 1980, 2545, 2559).

       85. Mit Beschluß vom 13.7.1993 (1 S 1260/93 = InfAuslR 1994, 46 ff.) entschied der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, daß Zeiträume ordnungsgemäßer Beschäftigung im Sinne des Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses 1/80 ARB nur solche seien, in denen die Beschäftigung ununterbrochen ausgeübt worden sei, oder die Zeiten der Unterbrechung den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt seien. Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung blieben bei der Ermittlung der Zeiträume nach Art. 6 Abs. 1 ARB außer Betracht, wenn sie durch die Zeiten freiwilliger Arbeitslosigkeit unterbrochen würden.

       86. In seinem Urteil vom 9.3.1993 (4 L 175/92 = InfAuslR 1993, 164 ff.) mußte das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht über die bezahlte Betreuungstätigkeit als Arbeitnehmertätigkeit im Sinne des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 entscheiden. Es befand, daß eine türkische Staatsangehörige, die ihre in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Enkelkinder betreue und von den Eltern Unterhalt in Form von Unterkunft, Verpflegung, Krankenversicherung und ähnlichem erhalte, in der Regel eine Arbeitnehmertätigkeit im Sinne von Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 ausübe. Eine solche Tätigkeit sei regelmäßig Teil des regulären Arbeitsmarktes im Sinne von Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das Urteil vom 15.7.1993 - 1 S 948/93 = InfAuslR 1993, 89 ff.) des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg, der entschied, daß eine türkische Staatsangehörige, der der Aufenthalt zeitlich befristet zur Mithilfe im Haushalt ihrer Familie erlaubt wurde, die aber nicht im Besitz einer Arbeitserlaubnis sei, keine ordnungsgemäße Beschäftigung im Sinne von Art. 6 Abs. 1 ARB ausübe.

       87. Im Hinblick auf Art. 6 ARB Nr. 1/80 ist auch der Beschluß des hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 15.12.1993 (12 TH 2030/93 = InfAuslR 1993, 94 ff.) zu erwähnen. Das Gericht entschied, daß die Verbüßung von Strafhaft und von Untersuchungshaft jedenfalls bei anschließender Strafhaft aufgrund einer rechtskräftigen Verurteilung in der Regel zum Wegfall der Voraussetzung des Art. 6 Abs. 1 ARB und des sich daraus ergebenden aufenthaltsrechtlichen Status eines türkischen Staatsbürgers führe.

       Mit Beschluß vom 11.11.1993 (13 S 2080/93 = InfAuslR 1994, 127 ff.) entschied der Baden-Württembergische Verwaltungsgerichtshof, daß trotz des Beschlusses des Assoziationsrates EWG/Türkei Nr. 1/80 generalpräventive Erwägungen auch bei aus dem Bundesgebiet auszuweisenden türkischen Staatsangehörigen angestellt werden dürften. Der Kläger könne sich im vorliegenden Fall nicht darauf berufen, daß er als türkischer Staatsangehöriger wegen des Beschlusses ARB Nr. 1/80 wie ein Angehöriger der Europäischen Gemeinschaft zu behandeln sei und generalpräventive Erwägungen deshalb nicht zu seiner Ausweisung führen dürften (§ 12 Abs. 3 AufenthG/EWG). Dieser Beschluß könne nämlich der Ausweisung nicht entgegenstehen, weil die darin gewährten Vergünstigungen nach seinem Art. 14 nur vorbehaltlich der Beschränkungen gültig seien, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt seien. Damit seien Ausweisungen türkischer Staatsangehöriger, wenn sie wie hier wegen schwerwiegender Ordnungsverstöße erfolgten, ohne Einschränkung durch Gemeinschaftsrecht zulässig. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Beschluß des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.11.1993 (BVerwG 1 B 184.93 = InfAuslR 1993, 100 ff.), in dem das Bundesverwaltungsgericht festgestellt hatte, daß auch Unterhaltsdelikte, Vermögensdelikte wie etwa Hehlerei oder Steuerhinterziehung als Grundlage für eine generalpräventive Ausweisung in Betracht kämen.



      58 Der Text findet sich abgedruckt in: InfAuslR 1982, 33 ff.

      59 Siehe zu dieser Problematik Rädler (Anm. 11), 547, Nr. 111.

      60 InfAuslR 1991, 2 ff. = NVwZ 1991, 115 ff.