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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1994


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Hans-Konrad Ress


VII. Asylrecht

1. Politische Verfolgung

b) Gruppenverfolgung

      39. Nach einer Entscheidung des schleswig-holsteinischen Verwaltungsgerichts (Gerichtsbescheid vom 26.10.1994 - 5 A 744/93 - InfAuslR 1995, 34) sind Kurden in den Notstandsprovinzen und den zwar nicht unter Notstandsrecht stehenden, jedoch in die administrativen und militärischen Maßnahmen mit einbezogenen Provinzen der Türkei einer Gruppenverfolgung wegen ihrer Volkszugehörigkeit ausgesetzt. Eine Gruppenverfolgung liege vor, wenn die Gruppe als solche Ziel einer politischen Verfolgung sei, so daß jedes einzelne Mitglied der Gruppe allein deswegen, weil es die gruppenspezifischen Merkmale besitze, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung zu befürchten habe. Diese Voraussetzungen sind zur Überzeugung des Gerichts für Kurden in den Notstandsprovinzen erfüllt. Zu dieser Einschätzung gelangte das Gericht aufgrund einer Neubewertung der zugänglichen Erkenntnisquellen. Es nahm hier unter anderem Bezug auf einen Bericht von amnesty international vom 7.9.1992 und vom 20.7.1994 ("Die aktuelle Menschenrechtssituation für Kurden in der Türkei") sowie auf die in einem Urteil des OVG Schleswig (Urteil vom 28.1.1993 - 1 L 111/92) vorgenommene Bewertung, wonach Kurden bei einer Rückkehr in die Notstandsgebiete der Türkei wegen ihrer Zugehörigkeit zur kurdischen Volksgruppe politische Verfolgung drohe. Des weiteren gelangte das Gericht zu der Überzeugung, daß Kurden auch in den sonstigen sensiblen Gebieten einer Gruppenverfolgung wegen ihrer Volkszugehörigkeit ausgesetzt seien. Denn die erwähnten Provinzen stünden zwar nicht unter Notstandsrecht, seien jedoch nicht nur in die administrativen, sondern auch in die militärischen Maßnahmen mit einbezogen, so daß auch in diesen Provinzen der für die Annahme einer staatlichen Verfolgung maßgebliche Gesichtspunkt Platz greife, daß Aktionen der türkischen Sicherheitskräfte gezielt auf die Zivilbevölkerung in Anknüpfung an ihre kurdische Volkszugehörigkeit träfen, um sie von einer gerade aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit für möglich gehaltenen Unterstützung der PKK abzuhalten.

      40. Im Gegensatz hierzu war das OVG Nordrhein-Westfalen in seinen Beschlüssen vom 11.3.1994 (25 A 2670/92.A - NVwZ-RR 1994, 546 [Ls.]) sowie vom 6.6.1994 (siehe [36]) zu dem Ergebnis gelangt, daß eine Asylanerkennung türkischer Staatsangehöriger allein unter dem Gesichtspunkt der kurdischen Volkszugehörigkeit nach gegenwärtigem Erkenntnisstand weiterhin nicht in Betracht komme.

      41. Zu der Frage, ob Albanern in dem Gebiet des Kosovo eine Gruppenverfolgung droht, nahmen auch im Berichtsjahr 1994 deutsche Obergerichte55. So hob das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 5.7.1994 (9 C 158.94 - BVerwGE 96, 201 = DÖV 1995, 26 = NVwZ 1995, 175) ein Urteil des niedersächsischen OVG auf, in dem das OVG das Vorliegen einer unmittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung der Albaner im Kosovo wegen ihrer Volkszugehörigkeit bejaht hatte. Das Bundesverwaltungsgericht präzisierte seine bisherige Rechtsprechung und führte aus, eine unmittelbare staatliche Gruppenverfolgung setze voraus, daß mit ihr eigene staatliche Ziele durchgesetzt werden sollten und daß diese Ziele - offen oder verdeckt - von eigenen staatlichen Organen oder durch eigens vom Staat dazu berufene oder doch autorisierte Kräfte durchgesetzt werden könnten. Im Unterschied zur mittelbaren Gruppenverfolgung könne daher eine staatliche Gruppenverfolgung schon dann anzunehmen sein, wenn zwar keine "Referenzfälle" durchgeführter Verfolgungsmaßnahmen zum Nachweis einer jedem Gruppenmitglied drohenden "Wiederholungsgefahr" festgestellt werden könnten, aber hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm vorlägen. Voraussetzung sei ferner, daß die festgestellten asylrelevanten Maßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale träfen.

      Gemessen an diesen Kriterien seien die Feststellungen des OVG nicht in der Lage, die Annahme einer Gruppenverfolgung der ethnischen Albaner im Kosovo zu tragen. Das OVG habe es versäumt, Intensität und Anzahl aller Verfolgungshandlungen zur Größe der Gruppe in Beziehung zu setzen. Eine bestimmte Anzahl von Angriffen, die sich für eine kleine Gruppe von Verfolgten bereits als bedrohlich erweise, könne gegenüber einer großen Gruppe vergleichsweise geringfügig erscheinen. Das OVG habe jegliche Ausführungen darüber vermissen lassen, in welcher Dichte die albanische Bevölkerung des Kosovo von Verfolgungsmaßnahmen heimgesucht werde. Die Gruppenverfolgung lasse sich auch nicht darauf stützen, daß die Albaner im Kosovo ohne Rücksicht auf die Frage der Dichte der tatsächlich geführten Verfolgungsschläge als Zielgruppe eines staatlichen Verfolgungsprogramms gruppenverfolgt seien. Daß ein staatliches Programm zur Vertreibung aller Albaner aus dem Kosovo oder gar zur Ausrottung aller Albaner bestehe, sei nicht belegt. Die auf eine Diskriminierung der albanischen Bevölkerung im Kosovo und eine Verschiebung des Bevölkerungsanteils zugunsten der Serben und Montenegriner hinauslaufende serbische Politik reiche nicht aus, um ein Verfolgungsprogramm des serbischen Staates anzunehmen. Die serbischen Gesetze bedeuteten zwar eine massive Benachteiligung der Albaner, stellten hinsichtlich der Eingriffsintensität aber noch keine asylerhebliche Verfolgung dar. Zudem rügte das Bundesverwaltungsgericht die Sachverhalts- und Beweiswürdigung des OVG. Die Aneinanderreihung einzelner Tatsachen, Mitteilungen und Lagebeurteilungen in Auskünften, Stellungnahmen und Zeitungsberichten gebe noch keine hinreichend verläßliche Tatsachengrundlage für die vorgenommene Beweiswürdigung ab. Die Prüfung der ethnischen Gruppenverfolgung erfordere hingegen, daß das Verfolgungsgeschehen möglichst umfassend und erschöpfend festgestellt und darauf untersucht werde, welche asylrelevanten politischen Verfolgungsmaßnahmen vorlägen.



      55 Siehe dazu bereits Philipp (Anm. 4), 853 f.