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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1994


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Hans-Konrad Ress


VII. Asylrecht

3. Anderweitiger Verfolgungsschutz - Drittstaatenregelung

      Die Drittstaatenregelung des Art. 16a Abs. 2 GG (in das Grundgesetz eingefügt durch ein am 30.6.1993 in Kraft getretenes Änderungsgesetz) war, wie bereits im Berichtsjahr 199357, Gegenstand einer ganzen Reihe gerichtlicher Entscheidungen, die hier nur in einer Auswahl vorgestellt werden können.

      48. Das Bundesverfassungsgericht judizierte in seinem Beschluß vom 19.1.1994 (2 BvR 81/93 - InfAuslR 1994, 154), daß die Drittstaatenregelung nur auf Fälle anzuwenden sei, in denen der Ausländer nach dem 30.6.1993 in den Geltungsbereich des Grundgesetzes eingereist sei. Dies lege schon die in Art. 16a Abs. 2 GG vorausgesetzte zeitliche Abfolge ("... wer aus ... einreist ...") nahe. Art. 16a Abs. 2 GG stelle nach Wortlaut und Sinnzusammenhang auf den aktuellen Vorgang der Einreise aus einem sicheren Drittstaat ab und nicht darauf, daß der Ausländer irgendwann einmal in der Vergangenheit aus einem Staat eingereist sei, der jetzt als sicherer Drittstaat anzusehen sei.

      49. Der VGH Baden-Württemberg befand (Beschluß vom 26.9.1994 - A 14 S 1937/94 - DÖV 1995, 207 = BWVP 1995, 43 = VBlBW 1995, 247 = DVBl. 1995, 864 mit Anm. W. Möller und C. Schütz), daß Art. 16a Abs. 2 GG auch dann zum Ausschluß des Asylrechts nach Art. 16a Abs. 1 GG führe, wenn zwar nicht feststehe, aus welchem der in Art. 16a Abs. 2 GG i.V.m. § 26a Abs. 2 AsylVfG bezeichneten Drittstaaten der Ausländer eingereist sei, aber feststehe, daß er nur aus einem solchen eingereist sein kann. Denn auch dann entspreche der Ausschluß des Asylrechts dem verfassungsrechtlichen Zweck, den Flüchtenden zuvörderst auf die Schutzmöglichkeit des (nur ihm bekannten) Drittstaates zu verweisen. Ein anderes Verständnis dieser Regelung hätte des weiteren zur Folge, daß diejenigen Ausländer bevorzugt würden, die ihren Reiseweg verschleiern, während diejenigen, die ihren Mitwirkungspflichten auch hinsichtlich des Reiseweges entsprächen, vom Grundrecht auf Asyl ausgeschlossen würden.

      50. Das OVG Koblenz entschied dagegen, daß für den Ausschluß des Asylgrundrechts nach Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a Abs. 1 und 2 AsylVfG die Kenntnis des konkreten Drittstaates, aus dem der Ausländer in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist, erforderlich sei (nicht rechtskräftiges Urteil vom 16.12.1994 - 13 A 11579/94 - NVwZ-Beilage 7/1995, 53). Ein anderes Verständnis würde die Gefahr in sich bergen, daß schutzbedürftige Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention nicht den erforderlichen Schutz erhielten, da der angegangene Staat sich aufgrund der Drittstaatenregelung schon aus formalen Gründen nicht für den Flüchtling verantwortlich fühlte und dem Flüchtling das gleiche Schicksal in dem Drittstaat widerfahren könnte. Damit drohe den Flüchtlingen, "refugees in orbit" zu werden, weil sich aus formalen Gründen letztlich kein Staat für sie verantwortlich fühle und sie von einem Staat in den anderen bis hin zu ihrem Herkunftsstaat abgeschoben werden könnten.

      51. Das VG Chemnitz legte Art. 16a GG und das AsylVfG dahin gehend verfassungskonform aus, daß die Drittstaatenregelung dann nicht anwendbar sei, wenn ein Ausländer nicht in den sogenannten sicheren Drittstaat, aus dem er in das Bundesgebiet eingereist ist, abgeschoben werden könne. In diesem Fall sei das Asylbegehren des Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland zu prüfen. In dem vom VG Chemnitz entschiedenen Fall war die Abschiebung eines über Frankreich in die Bundesrepublik eingereisten Algeriers aufgrund des deutsch-französischen Übernahmeabkommens vom 22.1.1960 (BAnz Nr. 60/1960) nicht möglich gewesen.

      52. Das VG Koblenz stellte klar, daß eine Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet nicht in Betracht komme, sofern der Asylbewerber über einen sogenannten Drittstaat in die Bundesrepublik einreise (Beschluß vom 2.3.1994 - 3 L 830/94 - NVwZ-Beilage 4/1994, 31). Vielmehr sei entweder gemäß § 34a AsylVfG die Abschiebung in den Drittstaat anzuordnen und zugleich der Asylantrag gemäß § 26a AsylVfG abzulehnen oder der Asylantrag als unbeachtlich gemäß § 29 Abs. 3 AsylVfG abzulehnen und eine entsprechende Abschiebungsandrohung zu erlassen. Hierbei sei zu beachten, daß im Falle eines unbeachtlichen Asylantrages im Sinne des § 29 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG nur die Androhung der Abschiebung in einen anderen Vertragsstaat, nicht aber in das Herkunftsland, zulässig sei.

      53. Mit der Frage der Einreise aus einem sicheren Drittstaat auf dem Seewege hatte sich das VG Bremen in dem Beschluß vom 17.6.1994 (2 V-AS 97/94 - NVwZ-Beilage 9/1994, 72) auseinanderzusetzen. Ein Asylsuchender hatte mit einem Schiff einen Hafen in Deutschland erreicht, das zuvor einen britischen Hafen angelaufen hatte. Das VG Bremen entschied, daß der Asylsuchende nach der Drittstaatenregelung des § 26a AsylVfG keinen Anspruch auf Durchführung eines Asylverfahrens habe, da er aus einem sicheren Drittstaat eingereist sei. Zu diesen Staaten gehörten gemäß Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG, § 26a Abs. 2 AsylVfG die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, wobei es genüge, daß sich der Asylsuchende im Hafenbereich eines Mitgliedstaates aufgehalten habe, da zu dessen Staatsgebiet auch die Küstengewässer und Häfen gehörten. Eine Zurückschiebung durch die Grenzbehörde sei jedoch nur in den Staat erlaubt, in dem das Schiff mit dem Asylbewerber zuletzt einen Hafen angelaufen habe. Weiter unterstrich das VG, daß das Betreten eines im deutschen Zweitregister registrierten Schiffes keine Einreise nach Deutschland im Sinne des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG, § 18 Abs. 2 Nr. 1 AsylVfG darstelle. Die Drittstaatenregelung komme daher ohne weiteres zur Anwendung, wenn ein deutsches Schiff mit einem Asylbewerber den Hafen eines Drittstaates anlaufe.

      54. Nach § 34a Abs. 2 AsylVfG darf die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat nicht im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. Die Definition, welcher Staat ein sicherer Drittstaat ist, erfolgt durch den Gesetzgeber in § 26a Abs. 2 AsylVfG i.V.m. der Anlage I. Nach Auffassung des VG Stuttgart (Beschluß vom 4.3.1994 - 4 AK 12028/94 - VBlBW 1994, 422) kann der Ausschluß der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes in diesen Fällen nur dann einen Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG darstellen, wenn die Voraussetzung, unter der der jeweilige Asylbewerber vom individuellen Asylgrundrecht des Art. 16a Abs. 1 GG ausgeschlossen wurde, nämlich die Annahme, daß der Asylbewerber im "Drittland" Schutz vor politischer Verfolgung finden kann, nicht vorliegt. Dies verneinte das VG für die Qualifizierung Österreichs als sicheren Drittstaat.

      55. Das VG Frankfurt äußerte Zweifel an der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Einschränkung des Asylgrundrechts aus Art. 16a Abs. 1 GG im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG (Beschluß vom 16.2.1994 - 3 L 20.187/94 - nicht veröffentlicht). Es legte § 34a Abs. 2 AsylVfG verfassungskonform aus und kam zu dem Ergebnis, daß jeglicher Ausschluß vorläufigen Rechtsschutzes allenfalls dann denkbar sei, wenn abschließend feststehe, daß es sich bei dem Einreiseland tatsächlich um ein sicheres Drittland handele, in dem für den Asylsuchenden die rechtsstaatliche Prüfung seines Begehrens gewährleistet sei und er somit vor Verfolgung sicher sein könne. Das VG sah beachtliche Anhaltspunkte dafür, daß Polen angesichts der großen Zahl tatsächlich zurückgeschobener Asylbewerber strukturell nicht mehr in der Lage sei, das dem Mindeststandard der Genfer Flüchtlingskonvention entsprechende Flüchtlingsanerkennungsverfahren durchzuführen. Es fehle an der nötigen Infrastruktur, an den erforderlichen administrativen Voraussetzungen und an den rechtlichen Grundlagen mit der zwangsläufigen Folge, daß Verstöße gegen das in Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention enthaltene non refoulement-Gebot nicht auszuschließen seien.

      56. Das VG Berlin ging in seinem Beschluß vom 29.12.1994 (VG 33 X 1120/94 - InfAuslR 1995, 16) noch einen Schritt weiter und entschied, daß der in § 34a Abs. 2 AsylVfG vorgesehene Ausschluß jeglichen einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat gegen Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip und Art. 19 Abs. 4 GG verstoße. Nach Art. 19 Abs. 4 GG stehe jedermann, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt worden sei, der Rechtsweg offen. Die Klagemöglichkeit vom Drittland aus reiche nicht, um Art. 19 Abs. 4 GG Genüge zu tun. Denn wenn der Drittstaat nicht sicher sei, bestehe die Gefahr, daß der Flüchtling noch vor Ende des Klageverfahrens in sein Heimatland weitergeschoben würde.

      Nach Ansicht der Kammer kann Polen - aufgrund der ihr vorliegenden Auskünfte - nicht als sicherer Drittstaat im Sinne von Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG betrachtet werden. Daß der Gesetzgeber dennoch Polen als sicheren Drittstaat bestimmt habe, sei nicht mit Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG vereinbar. Es reiche nicht aus, daß Polen die in Art. 16a Abs. 2 GG genannten Konventionen (Genfer Flüchtlingskonvention und Europäische Menschenrechtskonvention) ratifiziert habe, diese müßten auch tatsächlich Anwendung finden. Es müsse sichergestellt sein, daß jeder Antrag auf Asyl individuell geprüft werde. Nach den von der Kammer eingeholten Auskünften könne ein förmlicher Asylantrag in Polen nur beim Amt für Migration und Flüchtlingswesen in Warschau gestellt werden. Wenn hingegen ein Schutzersuchen an die Grenzbehörden oder die Polizei gerichtet werde, sei nicht sichergestellt, daß dieses an das Amt weitergeleitet werde oder die Flüchtlinge von der Möglichkeit der förmlichen Antragstellung in Warschau unterrichtet würden.



      57 Siehe Philipp, ibid., 857 ff.; die Einfügung des Art. 16a in das GG sowie die Anpassung des einfachen Rechts hieran hat das BVerfG in drei Urteilen vom 14.5.1996 als verfassungskonform bestätigt (Drittstaatenregelung 2 BvR 1938/93 und 2315/93; sichere Herkunftsländer 2 BvR 1507/93 und 1508/93; Flughafenverfahren 2 BvR 1516/93).