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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1996


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Kerrin Schillhorn


VII. Asylrecht

1. Asylverfahren

a) Sichere Herkunftsstaaten

      36. Aus Anlaß von Verfassungsbeschwerden zweier ghanaischer Staatsangehöriger hatte sich das BVerfG mit der Verfassungsgemäßheit der 1993 vorgenommenen Änderung des Grundgesetzes in Art. 16 a Abs. 3 i.V.m. Abs. 4 hinsichtlich des persönlichen Geltungsbereichs des Grundrechts auf Asyl in einem Urteil vom 14.5.1996 (2 BvR 1507, 1508/93 = BVerfGE 94, 115ff. = DVBl. 1996, 729ff. = NVwZ 1996, 691ff. = NJW 1996, 1665ff. = VBlBW 1996, 296 = DÖV 1996, 650ff. = MDR 1996, 755f. = NJ 1996, 333) zu befassen51. Das Gericht kam nach seiner Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten durch den Gesetzgeber sowie der Einordnung Ghanas als sicheren Herkunftsstaat zu dem Ergebnis, daß beide Regelungen nicht zu beanstanden seien52. Das Gericht setzte sich jedoch mit den einzelnen Voraussetzungen auseinander, die für die Bestimmung von sicheren Herkunftsstaaten für den Gesetzgeber gelten. Zunächst stellte das BVerfG fest, daß Art. 16 a Abs. 3 i.V.m. Abs. 4 GG keine Beschränkung des persönlichen Geltungsbereichs des Grundrechtes aus Art. 16 a Abs. 1 GG und seines Schutzziels beinhalte, wohl aber eine Beschränkung seines verfahrensbezogenen Gewährleistungsinhalts. Indem der Gesetzgeber einzelne Staaten bestimmen könne, in denen gewährleistet erscheint, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung stattfindet, werde ihm ein Ausschnitt aus der von Art. 16 a Abs. 1 GG geforderten umfassenden Prüfung übertragen, die bislang in jedem Einzelfall dem Bundesamt und den Gerichten oblag. Dabei nehme der Gesetzgeber für den jeweiligen Staat eine Analyse und Beurteilung der allgemeinen Verhältnisse im Hinblick auf deren asylrechtliche Erheblichkeit abstrakt-generell in Form einer antizipierten Tatsachen- und Beweiswürdigung vor. Stelle der Gesetzgeber nach dieser Prüfung fest, daß ein bestimmter Herkunftsstaat "sicher" i.S.d. Art. 16 a Abs. 3 GG sei, so seien Bundesamt und Gerichte bei der Prüfung des Einzelfalles hieran gebunden. Hinsichtlich der Anforderungen an den Gesetzgeber bei der Bestimmung von sicheren Herkunftsstaaten führte das Gericht aus, daß der Begriff "politische Verfolgung" in Art. 16 a Abs. 3 GG an die Formulierung des Art. 16 a Abs. 1 GG anknüpfe, wonach politisch Verfolgte Asylrecht genießen. Allerdings machte das Gericht auch auf die Unterscheidung aufmerksam, die hinsichtlich der regionalen politischen Verfolgung getroffen werden müsse. So liege nur dann ein Anspruch auf Gewährung von Asyl i.S.d. Art. 16 a Abs. 1 GG vor, wenn durch die regionale politische Verfolgung jemand so betroffen werde, daß er dadurch landesweit in eine ausweglose Lage versetzt werde. Für die Bestimmung eines Staates als sicheren Herkunftsstaat hingegen sei die Beurteilung der in dem jeweiligen Staat allgemein herrschenden Situation maßgeblich. Sei eine, wenn auch nur regionale, politische Verfolgung feststellbar, so sei nicht gewährleistet, daß in diesem Staat eine politische Verfolgung allgemein nicht stattfinde. Ebensowenig könne ein Staat als sicherer Herkunftsstaat bestimmt werden, wenn dort Angehörige einer bestimmten Gruppe, nicht hingegen andere, der Gruppe nicht angehörende Personen verfolgt würden. Weiterhin sei bei der Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat zu berücksichtigen, daß in diesem Staat gewährleistet sein müsse, daß dort keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung stattfinde. Dabei seien mit dem Begriff "unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung" auch solche staatlichen Maßnahmen erfaßt, die nicht notwendigerweise zugleich politische Verfolgung im asylrechtlichen Sinne darstellten. Sodann nahm das Gericht Bezug auf die EMRK sowie auf den Art. 7 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte53. Die Tatsache jedoch, daß es in der Rechtsordnung und Rechtspraxis eines Staates die Todesstrafe gebe, sei allein noch kein Grund, diesen Staat nicht als sicheren Herkunftsstaat zu qualifizieren. Vielmehr komme es auf die Prüfung an, für welche Taten die Todesstrafe angedroht werde, ob die Voraussetzungen für die Verhängung der Todesstrafe gesetzlich hinreichend bestimmt seien, ob die Todesstrafe nur in einem mit hinreichenden Garantien für den Beschuldigten ausgestatteten Verfahren von weisungsunabhängigen Justizorganen verhängt werden dürfe, in welcher Häufigkeit sie ausgesprochen und vollzogen und in welcher Art und Weise sie vollstreckt werde. Das BVerfG setzte sich auch mit den Anforderungen über die Einschätzung der Rechtslage, der Rechtsanwendung und der allgemeinen politischen Verhältnisse in dem jeweiligen Staat auseinander. Es stellte fest, daß die Verfassung dem Gesetzgeber bestimmte Prüfungskriterien vorgegeben habe, an denen er seine Entscheidung auszurichten habe. Als Leitlinie, so das Gericht, könnten dabei auch die Schlußfolgerungen der für die Einwanderungsfragen zuständigen Minister der EG-Mitgliedstaaten über Länder, in denen im allgemeinen keine ernstliche Verfolgungsgefahr bestehe, zugrundegelegt werden. Weiterhin könne bei dem abschließenden Urteil zur Abrundung und Kontrolle des gefundenen Ergebnisses auch die Quote der Anerkennung von Asylbewerbern aus dem jeweiligen Land die Rolle eines Indizes spielen. Hinsichtlich der Rechtslage in dem betreffenden Staat sei zu überprüfen, ob dort Sicherheit vor politischer Verfolgung und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung gegeben sei. Anhaltspunkte hierfür gäben die Definition des Flüchtlingsbegriffs des Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention sowie der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte und das Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe54. Wesentlich für das Prüfungskriterium der Rechtslage sei, ob der betreffende Staat von ihm eingegangene internationale Verpflichtungen innerstaatlich als geltendes Recht betrachte. Hinsichtlich des Kriteriums der Rechtsanwendung führte das Gericht aus, der Verfassungsgesetzgeber trage dem Umstand Rechnung, daß die praktische Wirksamkeit geschriebener Normen nicht immer schon mit ihrem Erlaß gewährleistet sei. Als Indiz dafür, daß ein Staat die in Art. 16 a Abs. 3 GG bezeichneten Standards in der täglichen Praxis achte, könne auch seine Bereitschaft gelten, unabhängigen internationalen Organisationen Zutritt zu seinem Hoheitsgebiet zur Überwachung der Menschenrechtslage zu gewähren. Als weiteres Prüfkriterium zielten die allgemeinen politischen Verhältnisse auf Rahmenbedingungen, die Sicherheit vor politischer Verfolgung und sonstiger menschenrechtswidriger Behandlung in den betreffenden Staaten gewährleisten sollen. In diesem Zusammenhang seien demokratische Strukturen, Mehrparteiensysteme, freie Betätigungsmöglichkeit für eine Opposition, Religionsfreiheit, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit und eine freie Presse, sowie die Unabhängigkeit der Gerichte von Bedeutung. Schließlich sei erforderlich, daß eine gewisse Stabilität der allgemeinen politischen Verhältnisse eine hinreichende Kontinuität auch für Rechtslage und Rechtsanwendung in dem betreffenden Staat gewährleisten könne. Während diese Kriterien vom Verfassungsgesetzgeber festgeschrieben seien, sei der Gesetzgeber von Verfassungs wegen nicht auf eine bestimmte Art des Vorgehens, etwa die Einholung bestimmter Auskünfte oder die Ermittlung genau bezeichneter Tatsachen festgelegt55. Hinsichtlich der Einschätzung durch den Gesetzgeber, insbesondere hinsichtlich der dafür zu beschreitenden Wege, komme dem Gesetzgeber ein Entscheidungsspielraum zu. Allerdings sei auf die Berichte der zuständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland und in Betracht kommender internationaler Organisationen, insbesondere des UNHCR, besonderes Gewicht zu legen. Auch komme den Auslandsvertretungen eine Verantwortung zu, die zu besonderer Sorgfalt bei der Abfassung ihrer einschlägigen Berichte verpflichte, da diese sowohl für den Gesetzgeber als auch für die Exekutive eine wesentliche Entscheidungsgrundlage bildeten. Mit der Beurteilung, ob es nach den ermittelten tatsächlichen Verhältnissen in einem Staat gewährleistet erscheine, daß dort weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung stattfänden, treffe der Gesetzgeber eine Prognose über die weitere Entwicklung in dem Staat innerhalb eines überschaubaren Zeitraums. Dieser Einschätzungs- und Wertungsspielraum führe dazu, daß das BVerfG die Unvertretbarkeit der Entscheidung des Gesetzgebers, einen Staat zum sicheren Herkunftsstaat zu bestimmen, und damit die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes nach Art. 16 a Abs. 3 GG nur feststellen könne, wenn eine Gesamtwürdigung ergebe, daß der Gesetzgeber sich bei seiner Entscheidung nicht von guten Gründen habe leiten lassen. Die Qualifizierung eines Staates als sicherer Herkunftsstaat schaffe eine Vermutung gegen politische Verfolgung in diesem Staat, die nur durch ein Vorbringen ausgeräumt werden könne, daß die Furcht vor politischer Verfolgung auf ein individuelles Verfolgungsschicksal des Antragstellers gegründet sei. Die Vermutung werde erst ausgeräumt, wenn der Asylbewerber die Umstände seiner politischen Verfolgung flüssig und substantiiert vortrage. Nicht ausreichen könne dafür die Berufung auf eine drohende, nicht politisch motivierte unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung. Bei der Prüfung des konkreten Falles kam das BVerfG zunächst zu dem Ergebnis, daß die Bestimmung Ghanas als sicherer Herkunftsstaat i.S.d. Art. 16 a Abs. 3 GG durch Anlage II zu § 29 a AsylVerfG mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Im Rahmen der verfassungsgerichtlichen Nachprüfung seien keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, daß die herangezogenen Quellen und Erkenntnismittel nicht geeignet oder nicht ausreichend gewesen seien, ein hinlänglich zuverlässiges Bild über die Verhältnisse in Ghana zu vermitteln. Weiterhin habe der Gesetzgeber als gewährleistet ansehen dürfen, daß in Ghana keine politische Verfolgung stattfinde. Zwar ging das Gericht auf das Vorliegen einer Militärgerichtsbarkeit in Ghana sowie einer Umbruchsituation von der Militärregierung zu einer demokratisch legitimierten Zivilregierung ein, wertete diese Tatsachen jedoch als nicht ausreichend, um die Stabilität der Situation in Ghana zu verneinen. Auch das von den Beschwerdeführern geltend gemachte Argument, daß in Ghana die Todesstrafe praktiziert werde, stehe, so das Gericht, seiner Bestimmung als sicherer Herkunftsstaat nicht entgegen. Schließlich sei nicht ersichtlich, daß die Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren substantiiert dargelegt hätten, daß sie individuell Opfer politischer Verfolgung geworden seien. Vielmehr deute einiges darauf hin, daß ihnen eine strafrechtliche Verfolgung im Zusammenhang mit Demonstrationen und wegen begangener Straftaten im Heimatland drohe. Aus diesen Gründen wies das BVerfG die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführer als unbegründet ab. In ihrer abweichenden Meinung legte Richterin Limbach dar, daß der Gesetzgeber bei der Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat keinen Einschätzungs- und Wertungsspielraum in der Frage beanspruchen könne, welche Erkenntnisse er seiner Entscheidung zugrundelege und welche Bedeutung er ihnen in ihrem Verhältnis zueinander beimesse. Ein solcher Einschätzungs- und Wertungsspielraum komme dem Gesetzgeber lediglich bei gestaltenden Fragen zu. Bei der Bestimmung von sicheren Herkunftsstaaten dagegen handele es sich um eine Tätigkeit, die auch subsumierenden Charakter habe. Aus diesem Grund sowie aufgrund des Umstands, daß diese Regelung grundrechtseinschränkenden Charakter habe, müsse es bei der vollen Prüfungskompetenz des BVerfG bleiben. Schließlich wies Richterin Limbach darauf hin, daß die Abwesenheit von politischer Verfolgung auch in Zukunft gewährleistet sein müsse, um einen Staat als sicheren Herkunftsstaat qualifizieren zu können. Eine solche Stabilität aber sei bei Staaten mit totalitärer Vergangenheit und sich erst anbahnender Demokratisierung nurmehr nach einer Beobachtung des Demokratisierungsprozesses über einen gewissen Zeitraum hinweg zu beurteilen. Weiterhin kam Richterin Limbach zu dem Ergebnis, daß die Aufnahme Ghanas in die Anlage II zu § 29 a AsylVerfG nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen des Art. 16 a Abs. 3 GG gerecht werde. Zunächst genügten die angestellten Ermittlungen nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, weiterhin sei in Ghana die Abwesenheit von politischer Verfolgung nicht mit Sicherheit gewährleistet. Es bestünden noch Zweifel hinsichtlich der Behandlung von besonders exponierten Oppositionellen. Weiterhin sei die allgemeine politische Lage in Ghana Mitte 1993 noch nicht als stabil zu bezeichnen gewesen. Der Wechsel von einer Militärdiktatur zu einer gewählten Zivilregierung sei erst wenige Monate vorher erfolgt, so daß hätte abgewartet werden müssen, wie sich das System etabliere.



      51 Vgl. dazu auch Göbel-Zimmermann/Masuch, Das Asylrecht im Spiegel der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, InfAuslR 1996, 404ff.

      52 Vgl. aber unten abweichende Meinung der Richterin Limbach und des Richters Sommer hinsichtlich der Einordnung Ghanas als sicherer Herkunftsstaat.

      53 Vom 19.12.1966, BGBl. 1973 II, 1533ff.

      54 Vom 10.12.1984, BGBl. 1990 II, 247ff.

      55 Vgl. dazu aber unten Sondervotum der Richterin Limbach.