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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1996


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Kerrin Schillhorn


IX. Internationaler Menschenrechtsschutz

1. Europäische Menschenrechtskonvention

b) Anforderungen an Freiheitsentziehungen (Art. 5 Abs. 1 EMRK)

      52. Im Rahmen einer umfangreichen verfassungsrechtlichen Prüfung des Sächsischen Polizeigesetzes (PolG) hatte sich der Sächsische VerfGH in seinem Urteil vom 14.5.1996 (Vf. 44/II/94 = LKV 1996, 273ff. = NVwZ 1996, 784f. = EuGRZ 1996, 473ff. = NJW 1996, 1953f. = JZ 1996, 957ff.) u.a. damit zu befassen, ob die Regelungen des Polizeigewahrsams gem. § 22 Sächsisches PolG mit Art. 5 Abs. 1 EMRK vereinbar seien72. Dabei führte der Gerichtshof aus, bei der Auslegung der Sächsischen Verfassung seien Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK zu berücksichtigen, sofern damit keine Einschränkung oder Minderung des Sächsischen Grundrechtsschutzes verbunden sei, was jedoch bereits durch Art. 60 EMRK ausgeschlossen sei. Die EMRK habe in der deutschen Rechtsordnung aufgrund ihrer innerstaatlichen Anwendung nach Art. 59 Abs. 2 GG zwar nur den Rang eines einfachen Bundesgesetzes, doch begründe sie einen inhaltlichen Mindeststandard europäischen Menschenrechtsschutzes und sei von allen Staatsorganen zu beachten. Der Sächsische VerfGH stellte klar, daß er nicht wie ein Organ der europäischen Menschenrechtspflege nach der EMRK durch eigene Rechtsprechung Streitfragen zur Interpretation der EMRK klären und damit zu ihrer Entwicklung beitragen könne. Doch seien die Grundrechte und Grundsätze des Grundgesetzes und der Sächsischen Verfassung im Lichte der EMRK auszulegen. Die zu prüfende Bestimmung des Sächsischen PolG enthielt eine Regelung darüber, daß die Polizei eine Person in Gewahrsam nehmen könne, wenn: "1. auf andere Weise eine unmittelbar bevorstehende erhebliche Störung der öffentlichen Sicherheit nicht verhindert oder eine bereits eingetretene erhebliche Störung nicht beseitigt werden kann, oder 2. es zum Schutz der Personen gegen eine Gefahr für Leib oder Leben erforderlich ist, insbesondere weil die Person sich erkennbar in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand oder sonst in hilfloser Lage befindet oder Selbstmord begehen will, oder 3. die Identität einer Person auf andere Weise nicht festgestellt werden kann, oder 4. dies unerläßlich ist, um einen Platzverweis nach § 21 durchzusetzen" (§ 22 Sächsisches PolG). Hierzu führte der Sächsische VerfGH aus: Art. 5 Abs. 1 lit. c EMRK sehe die Zulässigkeit einer Freiheitsentziehung bei begründetem Anlaß zu der Annahme vor, daß die Freiheitsentziehung notwendig sei, um den Betroffenen an der Begehung einer strafbaren Handlung zu hindern. Dabei sei der Begriff der strafbaren Handlung nicht lediglich auf Straftaten im eigentlichen Sinne zu begrenzen, vielmehr seien hierunter auch Ordnungswidrigkeiten zu verstehen. Dabei nahm der Gerichtshof Bezug auf den englischen und französischen Vertragstext, indem die Begriffe offence/infraction bewußt den Begriffen crime/délit vorgezogen worden seien. Insbesondere infraction werde nicht selten als Oberbegriff für sämtliche Handlungen verwendet, die mit einer über den bloßen Schadensersatz hinausreichenden staatlichen Sanktion bedroht würden, ohne daß es auf ihre Qualifikation als Straftat oder als Ordnungswidrigkeit ankäme. Darüber hinaus sei eine Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 lit. b Alternative 2 EMRK auch zulässig zur Erzwingung der Erfüllung einer durch das Gesetz vorgeschriebenen Verpflichtung. Es müsse sich allerdings nach der Rechtsprechung des EuGMR um die Erfüllung einer spezifischen und konkreten Pflicht handeln, der der Betroffene bislang nicht nachgekommen sei. Es genüge nicht, daß er dazu angehalten werden solle, in irgendeiner Frage seiner allgemeinen Gehorsamspflicht gegenüber dem Gesetz nachzukommen. Als Beispiel hierfür nannte der Gerichtshof die von dem EuGMR angenommene Pflicht, den Wehrdienst zu leisten, sowie die von der Kommission bejahte Pflicht, die eigene Identitätsfeststellung zuzulassen. Weiterhin würden im Schrifttum z.B. die Duldung gewisser strafprozessualer Ermittlungshandlungen, die Duldung von Vollstreckungsmaßnahmen oder der Schutzgewahrsam gegen den Willen des zu Schützenden angeführt. Das Sächsische VerfGH führte aus, die Rechtsprechung der Kommission und des EuGMR stünden einer solchen Sichtweise nicht entgegen, insbesondere begründeten sie keine Beschränkung des Anwendungsbereichs der Vorschrift auf Regelungen im Zusammenhang mit der Rechtspflege. Insofern ergäben sich keine Bedenken hinsichtlich des Gewahrsams nach § 22 Abs. 1 Nr. 2 und 3 des Sächsischen PolG. Dies gelte ebenso für § 22 Abs. 1 Nr. 4, weil diese Bestimmung sich auf eine auf einem Gesetz beruhende und durch Verwaltungsakt konkretisierte Pflicht des Betroffenen beziehe. Vergleichbares gelte auch für § 22 Abs. 1 Nr. 1 Sächsisches PolG, denn auch bei einer Störung oder einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit gehe es um die Abwehr der Verletzung konkreter, von der Rechtsordnung auferlegter Pflichten. Insoweit hielt der Sächsische VerfGH das Sächsische PolG für mit der EMRK vereinbar.

      53. Das OLG Frankfurt stellte mit Beschluß vom 5.11.1996 (20 W 352/96 = NVwZ-Beilage 2/1997, 16) fest, daß die Unterbringung eines Asylsuchenden gegen seinen Willen auf dem Gelände des Rhein-Main Flughafens eine nicht auf richterliche Anordnung beruhende Freiheitsentziehung i.S.d. des Freiheitsentziehungsgesetzes darstelle. Zur Begründung führte das Gericht aus, die körperlich-räumliche Bewegungsfreiheit des Asylsuchenden werde hiermit durch staatliche Maßnahmen entzogen. Deshalb dürfe die Ausländerbehörde einen betroffenen Ausländer, dessen Zurückweisung sie nicht ohne Verzögerung vollziehen könne, gegen seinen Willen nicht ohne richterliche Anordnung einer Freiheitsentziehung auf dem Gelände des Flughafens unterbringen. Jede andere Sicht würde den betroffenen Ausländer rechtlos stellen und auch Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. f, Abs. 4 EMRK widersprechen.73

      54. Das VG Frankfurt/M. entschied mit Beschluß vom 12.8.1996 (5 G 50448/96.A (2) = NVwZ-Beilage 10/1996, 76ff.), daß ein über 19 Tage hinausgehendes Verweilen eines abgelehnten Asylbewerbers im Transitbereich eines Flughafens verfassungsrechtlich nicht mehr hinzunehmen sei und eine Freiheitsentziehung darstelle, die mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. f EMRK nicht zu vereinbaren sei. Gegenstand des Verfahrens war der Fall afghanischer Staatsangehöriger, die in Deutschland vergeblich um Asyl nachgesucht hatten. Nachdem die Einreise in die Bundesrepublik Deutschland verweigert worden und eine Zurückweisung in den Ausgangsstaat nicht erfolgreich war, wurden die Personen wieder für längere Zeit im Transitbereich des Frankfurter Flughafens untergebracht. Das Gericht kam zu dem Schluß, daß die Einreise der Antragsteller u.a. deswegen zu gestatten sei, weil ihr weiteres Verbleiben im Transitbereich eine unzulässige Freiheitsentziehung nach Art. 5 EMRK bedeuten würde. Zwar habe das BVerfG in seinem Urteil vom 14.5.1996 [41] entschieden, daß die Unterbringung von Asylsuchenden während des Verfahrens nach § 18 a AsylVfG in den hierfür vorgesehenen Räumen im Transitbereich eines Flughafens keine Freiheitsentziehung oder -beschränkung darstelle, doch beziehe sich diese Entscheidung auf die Unterbringung während des Asylverfahrens selbst. Eine Aussage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein nach ablehnender gerichtlicher Eilentscheidung anstehendes Verbleiben im Transitbereich wegen mangelnder Rückführungsmöglichkeiten in eine Freiheitsentziehung bzw. -beschränkung i.S.d. Art. 104 GG umzuschlagen vermöge, lasse sich der genannten Entscheidung des BVerfG nicht entnehmen. Somit deute einiges darauf hin, daß ein Verbleiben von Asylsuchenden im Transitbereich eines Flughafens über 19 Tage hinaus verfassungsrechtlich nicht mehr hinzunehmen sei. Doch müsse diese Frage, so das Gericht, nicht abschließend geklärt werden, da das weitere Verbleiben der Antragsteller im Transitbereich des Frankfurter Flughafens sich mit Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. f EMRK als unvereinbar darstelle. Nach dieser Vorschrift dürfe die Freiheit eines Menschen nur auf dem gesetzlich vorgeschriebenen Wege entzogen werden, "wenn er rechtmäßig festgenommen worden ist oder in Haft gehalten wird, weil er daran gehindert werden soll, unberechtigt in das Staatsgebiet einzudringen oder weil er von einem gegen ihn schwebenden Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren betroffen ist". Weiterhin zitierte das Gericht die Entscheidung Amuur des EuGMR74, in dem der Gerichtshof festgestellt hatte, daß das Festhalten eines Asylbewerbers in der Transitzone eines Flughafens praktisch einer Freiheitsentziehung gleichkomme und diese bei einer Dauer von über 20 Tagen ohne gerichtliche Überprüfung eine Verletzung des Art. 5 Abs. 1 EMRK darstelle. Unter Anwendung dieses Grundsatzes kam das VG zu dem Schluß, daß auch in diesem Fall von einer Verletzung des Art. 5 Abs. 1 EMRK auszugehen sei. Es mangele an einer gesetzlichen Grundlage, das weitere Verbleiben der Antragsteller im Transitbereich des Frankfurter Flughafens anzuordnen. Der Umstand, daß ausreisepflichtige Asylbewerber unter den Voraussetzungen des § 57 AuslG über längere Zeiträume in Abschiebehaft genommen werden könnten, könne keine Rolle spielen. Dazu fehle es hier an der richterlichen Anordnung durch den Haftrichter. Im übrigen könne eine Übertragung des Rechtsgedankens betreffend die Dauer der Abschiebehaft auf die Dauer des Aufenthalts im Transitbereich eines Flughafens den strengen Formerfordernissen des Art. 104 Abs. 1 GG und des Art. 5 EMRK nicht genügen. Darüber hinaus sei die Bundesrepublik Deutschland aufgrund Art. 5 Abs. 4 EMRK verpflichtet, den Antragstellern die Möglichkeit einzuräumen, von einem Gericht unverzüglich die Rechtmäßigkeit der Freiheitsentziehung überprüfen und im Falle der Widerrechtlichkeit die Entlassung anordnen zu lassen. Auch insoweit, so das VG, fehle es derzeit an einer gesetzlichen Umsetzung der sich aus Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. f, Abs. 4 EMRK ergebenden völkerrechtlichen Verpflichtung.



      72 Vgl. auch die Ausführungen von Sponer zu diesem Urteil, LKV 1996, 267ff.

      73 Vgl. hierzu aber auch die Entscheidung des BVerfG vom 14.5.1996 [39].

      74 Urteil vom 25.6.1996, Rs. 17/1995/523/609, NVwZ 1997, 1102ff.