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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1996


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Kerrin Schillhorn


X. Europäische Gemeinschaften

1. Gemeinschaftsrecht und innerstaatliches Recht

a) Unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien

      65. Mit dem Kommunalwahlrecht für EG-Angehörige hatte sich der Baden-Württembergische VGH in seinem Urteil vom 25.3.1996 (1 S 386/96 = BWVP 1996, 208) auseinanderzusetzen. Dabei lehnte der VGH einen Anspruch auf das Kommunalwahlrecht für EG-Angehörige direkt aus der deutschen Verfassung, Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG, sowie aus der Richtlinie des Rates vom 19.12.199482, ab. Der VGH führte aus, ein solcher Anspruch bedürfe der Regelung durch ein Landesgesetz, welches das Wahlrecht der Unionsbürger konkretisiere. Hinsichtlich einer unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinien stellte der VGH fest, daß eine solche nicht in Betracht komme, solange die Frist zur Umsetzung durch die Mitgliedstaaten noch nicht abgelaufen sei. Da der zu entscheidende Fall für die fraglichen Wahlen noch vor Ablauf der Umsetzungsfrist und vor Inkrafttreten des entsprechenden Landesgesetzes lag, lehnte der Gerichtshof ein Wahlrecht für EG-Angehörige für die betreffende Wahl ab.

      66. In einem Verfahren über das Bestehen von Mitbestimmungsrechten im Zusammenhang mit der Errichtung von Bildschirmarbeitsplätzen und der Tätigkeit an diesen Arbeitsplätzen entschied das BAG mit Beschluß vom 2.4.1996 (1 ABR 47/95 = BB 1997, 1259 = NZA 1996, 998ff. = EuZW 1997, 160), daß die EG-Bildschirmrichtlinie (90/270/EWG) nur ihre Adressaten, die Mitgliedstaaten, verpflichte. Das BAG führte dazu aus, im Verhältnis zu den Arbeitnehmern komme eine unmittelbare Anwendung von Bestimmungen einer Richtlinie nicht in Betracht. Doch könnten sich nach ständiger Rechtsprechung des EuGH staatliche Stellen in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber gegenüber ihren Arbeitnehmern nicht darauf berufen, daß eine Richtlinie nicht oder nur mangelhaft umgesetzt worden sei. Sie müßten sich vielmehr so behandeln lassen, als seien die Vorschriften einer Richtlinie, die hinsichtlich ihrer Voraussetzungen und Rechtsfolgen hinreichend bestimmt sei, ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt worden. Weiter führte das Gericht aus, die Richtlinie entfalte eine mittelbare Wirkung insoweit, als § 120 a Gewerbeordnung (GewO) eine gesetzliche Vorschrift i.S.d. § 87 Abs. 1 Nr. 7 Betriebsverfassungsgesetz sei, die bei gemeinschaftsrechtskonformer Auslegung im Lichte der Bildschirmrichtlinie eine Rahmenregelung für die Unterbrechung von Bildschirmarbeit enthalte. § 120 a Abs. 1 GewO enthalte eine arbeitsschutzrechtliche Generalklausel, die den Arbeitgeber u.a. verpflichte, den Betrieb so zu regeln, daß der Arbeitnehmer gegen Gefahren für Leben und Gesundheit so weit geschützt sei, wie die Natur des Betriebes es gestatte. Bezugnehmend auf die Rechtsprechung des EuGH führte das Gericht weiter aus, daß ein nationales Gericht die Auslegung innerstaatlichen Rechts so weit wie möglich am Wortlaut und Zweck einschlägiger Richtlinien auszurichten habe, um das mit den Richtlinien verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Art. 189 Abs. 3 EGV zu genügen. Dieser Grundsatz folge aus dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem nationalen Recht und sei insoweit mit dem deutschen Verfassungsrecht vereinbar. Weiterhin wies das Gericht darauf hin, daß eine Pflicht zur richtlinienkonformen Auslegung immer bestehe, wenn die Frist zur Umsetzung der betreffenden Richtlinie abgelaufen sei. Eine solche Auslegung sei selbst dann vorzunehmen, wenn das auszulegende nationale Recht älter sei als die Richtlinie selbst. Das nationale Recht müsse die richtlinienkonforme Auslegung lediglich zulassen. Im zu prüfenden Fall heiße dies, daß die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung von § 120 a Abs. 1 GewO dazu führe, daß die in Art. 7 Bildschirmrichtlinie vorgesehene Verpflichtung des Arbeitgebers zur Organisation der Bildschirmarbeit Bestandteil seiner Pflicht werde, den Betrieb so zu regeln, daß die Arbeitnehmer gegen Gesundheitsgefahren geschützt würden. Jedoch lasse die Verpflichtung der Arbeitgeber, auf der Grundlage einer richtlinienkonformen Anwendung bei der Organisation der Arbeit für Unterbrechungen der Bildschirmtätigkeit zu sorgen, einen gewissen Spielraum hinsichtlich der Erfüllung dieser Verpflichtung zu. Dies gelte jedenfalls, bis der nationale Gesetzgeber diesen Spielraum nicht in einer bestimmten Hinsicht konkretisiere.

      67. Im Rahmen der Überprüfung eines Planungsverfahrens hinsichtlich des Baus einer Bundesstraße prüfte der VGH München im Urteil vom 14.6.1996 (8 A 40125/40129/94 = NuR 1997, 45ff.) die Anwendbarkeit und Voraussetzungen der Europäischen Vogelschutzrichtlinie (79/409 EWG) i.V.m. der Europäischen Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (92/43/EWG).83 Dabei kam der VGH zu dem Ergebnis, daß die Planfeststellung nicht gegen europäische Vogelschutzvorschriften verstoße. Zunächst stellte der Gerichtshof fest, daß die Umsetzungsfrist für die einander ergänzenden Richtlinien bereits im Sommer 1994 abgelaufen war. Das Gericht klärte jedoch nicht die Frage, ob sich ein einzelner gegenüber dem Staat deshalb auf diese Richtlinien berufen könne - weil sie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erschienen und vom Mitgliedstaat nicht fristgemäß oder unrichtig in nationales Recht umgesetzt worden seien -, sondern prüfte die sachlichen Voraussetzungen der jeweiligen Richtlinien. Dabei stellte das Gericht fest, daß eine Verpflichtung zur Erhaltung wildlebender Vogelarten nach den jeweiligen Richtlinien nur unter der Voraussetzung zur Anwendung komme, daß der jeweilige Mitgliedstaat das im Streit befindliche Gebiet nach den Bestimmungen der Richtlinien zu einem besonderen Schutzgebiet erklärt bzw. ein solches Schutzgebiet anerkannt habe.84 Ohne ein derartiges aktives Tätigwerden des einzelnen Mitgliedstaates seien daher die Verpflichtungen der Vogelschutzrichtlinie nicht einschlägig.



      82 Richtlinie 94/80/EG des Rates, Abl. L 368/38.

      83 Vgl. hierzu auch die Anmerkung von Louis, NuR 1997, 361ff., der das Urteil des VGH für nicht mit den Regelungen der Vogelschutz- und Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie vereinbar hält.

      84 So auch VGH München im Urteil vom 14.6.1996 (8 A 40125/94 = NuR 1997, 361ff.).