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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1996


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Kerrin Schillhorn


X. Europäische Gemeinschaften

4. Assoziationsabkommen Europäische Gemeinschaften - Türkei

      85. Über die Assoziationsfreizügigkeit der getrennt lebenden Ehefrau eines türkischen Arbeitnehmers hatte das OVG Berlin in seinem Beschluß vom 25.9.1996 (8 S 35/96 = InfAuslR 1997, 189ff.) zu entscheiden. Gegenstand des Verfahrens war der Verlängerungsantrag für die Aufenthaltsbefugnis einer türkischen Arbeitnehmerin mit geringfügiger Beschäftigung, die von ihrem Ehemann getrennt lebte, welcher bereits eine Scheidungsklage erhoben hatte. Das Gericht stellte fest, daß sich türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen unmittelbar auf den Beschluß Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation berufen könnten, um die Verlängerung nicht nur ihrer Arbeitserlaubnis, sondern auch ihrer Aufenthaltserlaubnis zu erlangen. Dabei umfasse das Tatbestandsmerkmal "Arbeitnehmer" prinzipiell auch die Teilzeittätigkeit, die bloße Nebenbeschäftigung, sowie die geringfügige Beschäftigung. Es komme auf eine bestimmte Mindestdauer ebensowenig an wie auf ein Mindesteinkommen. Weiterhin führte das Gericht aus, bei der Antragstellerin handele es sich um eine Familienangehörige des türkischen Arbeitnehmers; daß die Ehegatten seit langem getrennt lebten und das Scheidungsverfahren anhängig sei, ändere hieran nichts. Dem Gemeinschaftsrecht sei es fremd, die Erstreckung der Freizügigkeit auf mit dem Arbeitnehmer verheiratete Familienangehörige vom Erfordernis des ständigen Zusammenlebens abhängig zu machen. Die Eigenschaft des Ehegatten als Familienangehöriger eines Arbeitnehmers gelte vielmehr über die bloße Trennung hinaus bis zur Auflösung der Ehe durch die zuständige Stelle. Hierzu sei es im vorliegenden Fall noch nicht gekommen, so daß der Antragstellerin ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zustehe98.

      86. Ebenfalls über die Teilzeitbeschäftigung eines türkischen Staatsangehörigen hatte der VGH Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 11.12.1996 (11 S 1639/96 = InfAuslR 1997, 229ff.) zu entscheiden. Gegenstand des Verfahrens war das Begehren eines türkischen Doktoranden, der eine erlaubte Nebentätigkeit ausübte, auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung. Der VGH entschied, daß dem Antragsteller ein Anspruch auf Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis nach Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 zustehe, obwohl die Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis nach den Regelungen des AuslG zwingend ausgeschlossen sei. Zur Begründung führte das Gericht aus, die Regelung des Art. 6 ARB 1/80 sei Teil des Gemeinschaftsrechts und habe in den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft unmittelbare Wirkung. Die daraus entstehenden Rechte hätten im Verhältnis zum nationalen Recht Anwendungsvorrang, und innerstaatliche gesetzliche Regelungen des AuslG, die einem Anspruch aus dem Gemeinschaftsrecht entgegenstünden, seien insoweit unanwendbar. Da Art. 6 ARB 1/80 auch auf eine durch einen Doktoranden ausgeübte Nebentätigkeit von 20 Stunden wöchentlich anwendbar sei, sei über den Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis unter Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts erneut zu entscheiden.

      87. Der Anspruch auf gleichberechtigten Zugang türkischer Staatsangehöriger zur beruflichen Bildung gem. Art. 9 des ARB 1/80 war Gegenstand des Beschlusses des VG Frankfurt/M. vom 19.12.1996 (9 G 3832/96 (2), NVwZ-RR 1997, 299). Anlaß der Entscheidung war das Begehren einer in Deutschland geborenen und aufgewachsenen türkischen Staatsangehörigen, in den juristischen Vorbereitungsdienst zugelassen zu werden. Das Gericht führte aus, gem. Art. 9 ARB 1/80 würden türkische Kinder, die in einem Mitgliedstaat der Gemeinschaft ordnungsgemäß bei ihren Eltern wohnten, welche dort ihrerseits ordnungsgemäß beschäftigt seien oder gewesen seien, unter Zugrundelegung derselben Qualifikationen wie die Kinder von deutschen Staatsangehörigen zur Bildung zugelassen. Auf diesen Beschluß könne sich die Antragstellerin auch unmittelbar berufen, da es sich bei dem Beschluß um unmittelbar geltendes Recht handele, wie der EuGH festgestellt habe. Schließlich gelte nach Art. 9 ARB 1/80 keine altersmäßige Begrenzung für Kinder. Aus diesen Gründen habe die Antragstellerin unter Zugrundelegung derselben Qualifikationen einen Anspruch auf die Anwendung derselben Zulassungsbedingungen zu beruflichen Ausbildungen, im vorliegenden Fall zum juristischen Vorbereitungsdienst, wie Kinder deutscher Staatsangehöriger. Die Antragstellerin dürfe wegen ihrer türkischen Staatsangehörigkeit und des Fehlens der Staatsangehörigkeit eines EU-Mitgliedstaates nicht anders behandelt werden als Inländer.

      88. Die Assoziationsfreizügigkeit lehnte jedoch das OVG Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 9.2.1996 (10 A 12882/95 = InfAuslR 1996, 269ff.) im Falle der Täuschung über den ursprünglichen Aufenthaltszweck ab. Gegenstand des Verfahrens war die Überprüfung der Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis eines türkischen Staatsangehörigen, der mit einer in Deutschland geborenen und aufgewachsenen türkischen Staatsangehörigen eine Scheinehe zum Zwecke der Erlangung der Aufenthaltserlaubnis eingegangen und nun seit über einem Jahr bei einer Firma beschäftigt war und dort auch weiter tätig sein konnte. Das Gericht bestätigte die Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis mit der Begründung, eine ordnungsgemäße Beschäftigung i.S.d. ARB 1/80 habe nicht vorgelegen, da der türkische Arbeitnehmer die Aufenthaltserlaubnis durch arglistige Täuschung erwirkt habe. In einem solchen Fall sei der türkische Arbeitnehmer nicht in den Arbeitsmarkt des Mitgliedstaates ordnungsgemäß integriert, und das supranationale Aufenthaltsrecht nach Art. 6 ARB 1/80 gelange gar nicht erst zur Entstehung. Insoweit könne sich der türkische Arbeitnehmer auf keine Rechtsgrundlage berufen, um die Rücknahme der Aufenthaltserlaubnis abzuwehren.



      98 Vgl. auch die Entscheidung des OVG Hamburg (Beschluß vom 30.7.1996 - Bs V 93/96 = InfAuslR 1997, 191), in der das Gericht in einem ähnlich gelagerten Fall entschied, daß ein Anspruch des Ehegatten eines türkischen Arbeitnehmers auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis dann nicht bestehe, wenn sich die Eheleute schon vor Ablauf der Drei-Jahresfrist auf Dauer getrennt hätten.