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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1997


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Lars-Jörgen Geburtig


VIII. Asylrecht

2. Inländische Fluchtalternative

       52. Mit Kammerbeschluß vom 24.3.1997 (2 BvR 1024/95 - NVwZ-Beilage 1997, 65 = EuGRZ 1997, 419 = InfAuslR 1997, 273) hob das Bundesverfassungsgericht auf die Verfassungsbeschwerde eines jugendlichen Kurden aus der Türkei hin ein verwaltungsgerichtliches Urteil, mit dem die Asylklage unter Verweis auf das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative als offensichtlich unbegründet abgewiesen wurde, wegen einer Verletzung von Art. 19 Abs. 4 i.V.m. Art. 16 a Abs. 1 GG, auf. Es sei bei sehr jungen Asylbewerbern in jedem Einzelfall zu prüfen, ob sie in der Lage sind, am Ort der inländischen Fluchtalternative ihren Unterhalt zu sichern. Es sei mit Art. 19 Abs. 4 i.V.m. Art. 16 a Abs. 1 GG unvereinbar, daß das VG mit letztlich spekulativen Erwägungen dem Beschwerdeführer den vollen Nachweis für das Nichtbestehen einer inländischen Fluchtalternative aufgebürdet und zugleich den weiteren Rechtsweg abgeschnitten hat. Soll der Asylsuchende bei angenommener regionaler Gruppenverfolgung auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden, so setze dies verläßliche Feststellungen darüber voraus, daß der Betroffene dort nicht in eine ausweglose Lage gerät. Eine existenzielle Gefährdung könne sich dabei auch daraus ergeben, daß der Asylbewerber am Ort der Fluchtalternative für sich das wirtschaftliche Existenzminimum weder aus eigener Kraft noch mit Hilfe Dritter gewährleisten kann. Das Gericht hätte sich in Wahrnehmung seiner Aufklärungspflicht durch geeignete Fragen und Nachforschungen selbst davon überzeugen müssen, daß eine inländische Fluchtalternative außerhalb vernünftiger Zweifel gegeben ist. Insbesondere wäre es Sache des Gerichts gewesen, sich angesichts der durch Gutachten bestätigten menschenunwürdigen Bedingungen, unter denen alleinstehende Jugendliche in den Großstädten der Westtürkei leben müssen, davon zu überzeugen, ob der von ihm angenommene Ausweg für Jugendliche zumutbar ist. Dies sei nicht geschehen, weshalb das Urteil des VG aufzuheben war.

       53. In seinem Urteil vom 9.9.1997 (9 C 43.96 - DVBl. 1998, 274) befaßte sich das Bundesverwaltungsgericht damit, ob die Gebiete außerhalb des Südostens der Türkei für die klagenden türkischen Staatsangehörigen syrisch-orthodoxen Glaubens inländische Fluchtalternativen darstellen. Das Gericht stellte zunächst fest, daß die Gewalttätigkeiten, die seit dem Frühjahr 1993 im Tur Abdin von der muslimischen Bevölkerung mit Duldung des Staates gegen die syrisch-orthodoxen Christen begangen werden, eine mittelbar staatliche, politische Gruppenverfolgung der dort lebenden syrisch-orthodoxen Christen darstellen. Bei der Frage, ob der Kläger Mitglied der verfolgungsbetroffenen Gruppe ist, führte das Gericht seine Rechtsprechung zum Unterschied zwischen "regionaler" und "örtlich begrenzter" Gruppenverfolgung fort. Kennzeichen einer "regionalen" Gruppenverfolgung sei es, daß der verfolgende Staat die gesamte Gruppe im Blick hat, sie aber z.B. aus Gründen politischer Opportunität nicht oder jedenfalls derzeit nicht landesweit verfolgt. Durch das Merkmal "regional" werde die Verfolgung als eine solche gekennzeichnet, die nicht landesweit, sondern nur regional praktiziert werde. Bei einer derartigen Regionalisierung des Verfolgungsgeschehens blieben die außerhalb der Region lebenden Gruppenmitglieder mitbetroffen; ihre potentielle Gefährdung rechtfertige die Anwendung des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabs, wenn die regionale Gefahr als objektiver Nachfluchttatbestand nach ihrer Flucht auftritt. Für einen Angehörigen dieser Gruppe habe sich der Staat nachträglich als Verfolgerstaat erwiesen. Deshalb komme für ihn als inländische Fluchtalternative nur ein Gebiet in Betracht, in dem er vor Verfolgung hinreichend sicher ist. Anders sei es hingegen, wenn sich die Verfolgungsmaßnahmen nur gegen solche Personen richten, die z.B. zusätzlich aus einem bestimmten Ort oder Gebiet stammten oder dort ihren Wohnsitz oder Aufenthalt haben. Dann bestehe schon die Gruppe, die der Verfolger im Blick hat, lediglich aus solchen Personen, die alle Kriterien - etwa Religion einerseits, Gebietsbezogenheit andererseits - erfüllen. Bei dieser "örtlich begrenzten" Verfolgung seien die Angehörigen der religiösen Gemeinschaft, die nicht gleichzeitig auch die weiteren die Gruppe konstituierenden Merkmale - etwa die Gebietsansässigkeit - in eigener Person aufweisen, von der Verfolgung von vornherein nicht betroffen. Ihnen sei als unverfolgt Ausgereisten die Rückkehr in die Heimat zuzumuten, wenn ihnen dort nach dem allgemeinen Prognosemaßstab nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Im vorliegenden Fall dränge sich die Frage auf, ob das tatsächliche Verfolgungsgeschehen nicht eher darauf schließen lasse, daß die syrisch-orthodoxen Christen im Tur Abdin als Gruppe nicht ausschließlich wegen ihres syrisch-orthodoxen Glaubens, sondern auch aufgrund militärisch-strategischer Überlegungen und zum Zwecke der Landwegnahme verfolgt werden. Nur wenn dies verneint werden könne, gehörten alle syrisch-orthodoxen Christen in der Türkei zur verfolgungsbetroffenen Gruppe. Damit habe sich das OVG erneut zu befassen. Für den Fall, daß der Kläger einer regionalen Verfolgungsgefahr als syrisch-orthodoxer Christ unterliegt, untersucht das BVerwG sodann, ob eine inländische Fluchtalternative besteht. Maßgeblich war hierbei vor allem, ob das Fehlen einer wirtschaftlichen Existenzgrundlage an den Orten einer möglichen Fluchtalternative ausnahmsweise unerheblich ist, weil die wirtschaftliche Situation am Herkunftsort nicht anders wäre. Bei vorverfolgt ausgereisten Asylsuchenden komme es darauf an, ob eine derartige Notlage im Zeitpunkt der Ausreise auch am Herkunftsort bestanden habe. Bei unverfolgt Ausgereisten, die von einer nachträglichen regionalen Verfolgung betroffen sind, komme es darauf an, ob eine inländische Fluchtalternative im Zeitpunkt des Entstehens des Nachfluchttatbestandes gegeben war. Sei im Zeitpunkt des Beginns der regionalen Verfolgung die wirtschaftliche Situation am Herkunftsort nicht anders als am Ort einer inländischen Fluchtalternative gewesen, so scheide ein Nachfluchtgrund aus. Gehe es schließlich um die Frage, ob aus gegenwärtiger Sicht eine innerstaatliche Fluchtalternative bestehe, so müsse die wirtschaftliche Lage im verfolgungsfreien Gebiet mit der Lage verglichen werden, die im Zeitpunkt der Rückkehr in den Heimatstaat am Herkunftsort bestünde. Da der Kläger selbst aus Istanbul stammt, komme es hier zudem auf die wirtschaftliche Lage in Istanbul als Ort der inländischen Fluchtalternative nicht an, da diese mit der Lage am Herkunftsort (auch Istanbul) identisch ist. Die Asylberechtigung des Klägers hänge demnach lediglich davon ab, ob er im Frühjahr 1993 in Istanbul hinreichend sicher gewesen wäre. Bejahendenfalls hätte er dort eine inländische Fluchtalternative gehabt.