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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1997


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Lars-Jörgen Geburtig


X. Internationaler Menschenrechtsschutz

1. Europäische Menschenrechtskonvention

a) Art. 3 EMRK als Ausweisungs- und Abschiebungshindernis

       70. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigte in seinem Urteil vom 15.4.1997 (9 C 38.96 - BVerwGE 104, 265 = NVwZ 1997, 1127 = DVBl. 1997, 1384 = InfAuslR 1997, 341) seine im Urteil vom 17.10.1995 (9 C 56.95 - BVerwGE 99, 331 = InfAuslR 1996, 254) entwickelten Ausführungen zu Art. 3 EMRK als Ausweisungs- und Abschiebungshindernis65 unter Auseinandersetzung mit dem Urteil des EGMR vom 17.12.1996 (71/1995/577/663 - InfAuslR 1997, 279). Der Kläger, ein somalischer Staatsangehöriger, kam im März 1993 nach Deutschland, wo er Asyl beantragte. Das Bundesamt lehnte den Asylantrag ab. Das VG hob den Bescheid auf und verpflichtete die Beklagte festzustellen, daß hinsichtlich Somalias ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG vorliegt. Der VGH stellte auf die Berufung des Bundesamtes fest, daß sich aus § 53 Abs. 4 AuslG für den Kläger kein Abschiebungshindernis ergibt. Die Revision des Klägers blieb ohne Erfolg. Die Voraussetzungen des § 53 Abs. 4 AuslG i.V. mit Art. 3 EMRK lägen nur dann vor, wenn der um Abschiebungsschutz nach dieser Vorschrift nachsuchende Ausländer im Zielland der Abschiebung Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung durch den Staat oder eine staatsähnliche Organisation unterworfen zu werden. Art. 3 EMRK sei dabei nach dem eindeutigen Norminhalt des § 53 Abs. 4 AuslG auch auf solche Auslandsfolgen anwendbar, die außerhalb des territorialen Geltungsbereiches der EMRK eintreten können. Ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V. mit Art. 3 EMRK bestehe aber nur dann, wenn dem Ausländer in seinem Heimatstaat oder in einem anderen Drittland Maßnahmen drohten, die auch im Vertragsstaat selbst als unmenschliche Behandlung i.S. des Art. 3 EMRK anzusehen wären. Das sei nur der Fall, wenn dem Ausländer landesweit eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe oder Behandlung drohe, die grundsätzlich von einem Staat ausgehen oder von ihm zu verantworten sein müsse. Ausnahmsweise könnten auch Mißhandlungen durch Dritte eine solche Behandlung darstellen, sofern sie dem Staat zugerechnet werden könnten, weil er sie veranlasse, bewußt dulde oder ihnen gegenüber keinen Schutz gewähre, obwohl er dazu in der Lage wäre. Weiterhin könnten dem Staat solche staatsähnlichen Organisationen gleichstehen, die den jeweiligen Staat verdrängt haben, selbst staatsähnliche Funktion ausüben und auf ihrem Gebiet effektive Gebietsgewalt innehaben. Das Urteil des EGMR in der Sache Ahmed gegen Österreich (vom 17.12.1996, InfAuslR 1997, 279) gebe dem Senat keinen Anlaß zu einer anderen Beurteilung. Der EGMR habe in diesem Urteil bestätigt, daß die vertragschließenden Staaten das Recht hätten, Einreise, Aufenthalt und Ausweisung von Ausländern zu regeln und weder die Konvention noch spätere Protokolle ein Recht auf politisches Asyl enthielten. Der Senat halte daher an seiner Rechtsprechung fest, daß Art. 3 EMRK nicht über den Bereich staatlicher Verantwortlichkeit hinaus ausgelegt und angewendet werden könne. Zu einer Änderung seiner Rechtsprechung sehe sich der Senat auch nicht dadurch veranlaßt, daß der EGMR in dem erwähnten Urteil ausgeführt habe, der Beschwerdeführer könne nicht nach Somalia zurückkehren ohne Gefahr zu laufen, einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die mit Art. 3 EMRK unvereinbar sei; dem stehe angesichts des absoluten Charakters von Art. 3 EMRK auch nicht das Fehlen jeglicher staatlicher Gewalt in Somalia entgegen. Diese nicht näher begründeten Ausführungen rechtfertigten nicht den Schluß, der EGMR lege Art. 3 EMRK dahin gehend aus, daß jede unmenschliche Behandlung - durch wen auch immer -, die einem Ausländer in einem Drittstaat drohe, den Tatbestand des Art. 3 EMRK erfülle. Selbst wenn aber die Entscheidung dahin gehend zu verstehen sei, könne der Senat dieser Rechtsprechung aus den oben erläuterten Gründen nicht folgen. Die Entscheidung des EGMR entfalte zudem keine rechtliche Bindungswirkung über den Kreis der am Verfahren unmittelbar Beteiligten und über den entschiedenen Einzelfall hinaus. Nach den Feststellungen des VGH habe in Somalia seit dem Ausbruch des Bürgerkriegs im Jahre 1991 bis zum Zeitpunkt der letzten Berufungsverhandlung keine zu unmenschlichen Behandlungen i.S. des Art. 3 EMRK taugliche staatliche oder staatsähnliche Herrschaftsgewalt bestanden. Der Kläger könne sich danach nicht auf ein Abschiebungshindernis aus § 53 Abs. 4 AuslG i.V. mit Art. 3 EMRK berufen.

       71. Mit seinem Urteil vom 2.9.1997 (9 C 40.96 - DVBl. 1998, 271 = VBlBW 1998, 97) bestätigte das Bundesverwaltungsgericht das Urteil vom 15.4.1997 und setzte sich mit den inzwischen ergangenen Urteilen des EGMR vom 29.4.1997 (11/1996/630/813) und vom 2.5.1997 (146/1996/767/964) auseinander. Ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V. mit Art. 3 EMRK bestehe nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats nur, wenn dem Ausländer im Zielland der Abschiebung eine Behandlung drohe, die - würde er sie in einem Vertragsstaat der EMRK erleiden - alle tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 3 EMRK erfüllt. Dabei könne grundsätzlich nur eine im Zielstaat von einer staatlichen, ausnahmsweise auch von einer staatsähnlichen Herrschaftsmacht begangene oder von ihr zu verantwortende Mißhandlung eine unmenschliche Behandlung i.S. des Art. 3 EMRK sein, wobei der Begriff der Behandlung ein geplantes, vorsätzliches, auf eine Person gerichtetes Handeln voraussetze. Art. 3 EMRK schütze daher nicht vor den allgemeinen Folgen von Naturkatastrophen und (Bürger-)Kriegen. Das gleiche gelte für die nachteiligen Auswirkungen eines unterentwickelten Gesundheitssystems, weshalb die Herzkrankheit des Klägers ein Abschiebungshindernis nicht zu begründen vermöge. Die neueren Entscheidungen des EGMR gäben keinen Anlaß zu einer Änderung dieser Rechtsprechung. Der EGMR habe in seinem Urteil vom 29.4.1997 erklärt, Art. 3 EMRK könne auch dann zur Anwendung kommen, wenn die geltend gemachte Gefahr von Personen ausgehe, die nicht öffentliche Bedienstete seien, sofern dargelegt werde, daß die Gefahr real sei und die Behörden des Empfangsstaates nicht in der Lage seien, ihr durch angemessenen Schutz zu begegnen (Nr. 40 der Entscheidung). Abgesehen davon, daß diese Ausführungen nicht die tragenden Gründe der Entscheidung seien, decke sich dies mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats, daß Mißhandlungen durch private Dritte eine unmenschliche Behandlung i.S. des Art. 3 EMRK darstellen können, sofern sie dem Staat zugerechnet werden können. Falls der EGMR so zu verstehen sei, daß er die Mißhandlungen durch Dritte dem Staat auch dann zurechnen will, wenn dieser mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln zu einem wirksamen Schutz nicht in der Lage sei, würden sich doch der Entscheidung des EGMR keine Gesichtspunkte entnehmen lassen, die eine Änderung der Rechtsprechung des erkennenden Senats rechtfertigen könnten, da in dem entschiedenen Fall im Empfangsstaat Kolumbien noch eine staatliche Herrschaftsmacht existiere, während dies vorliegend - in Somalia - nicht der Fall sei. Entsprechendes gelte für die Entscheidung vom 2.5.1997. Hier habe der Gerichtshof ausgeführt, er müsse sich angesichts der fundamentalen Bedeutung des Art. 3 EMRK im System der Konvention die nötige Flexibilität vorbehalten, dessen Anwendung auch in Fällen in Betracht zu ziehen, in denen die Quelle der Gefahr einer verbotenen Behandlung im Empfangsstaat auf Umstände zurückzuführen sei, die weder direkt noch indirekt eine Verantwortlichkeit der Behörden des Empfangsstaats begründeten, oder die - für sich genommen - nicht in sich selbst die Standards der EMRK verletzten. Diese Ausführungen des Gerichtshofes verwischten die Grenzen des Schutzbereiches des Art. 3 EMRK. Sie seien völlig vage und könnten sogar dahin gehend zu verstehen sein, daß der Gerichtshof es sich vorbehalten wolle, eine Verletzung von Art. 3 EMRK bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände selbst dann zu bejahen, wenn dessen tatbestandliche Voraussetzungen nicht gegeben sind. Daher halte der Senat auch angesichts dieser Entscheidung an seiner Auffassung fest. Ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V. mit Art. 3 EMRK scheide in bezug auf Somalia hiernach aus. Jedoch ergebe sich ein Abschiebungshindernis aus § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, da der Kläger als Angehöriger eines vom herrschenden Clan in Mogadischu bekämpften Clans bei einer Abschiebung nach Somalia über den Flughafen von Mogadischu aufgrund der besonders heftigen Kämpfe in der Hauptstadt einer extremen Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt wäre und eine Abschiebung in die sicheren Landesteile auf anderem Wege nicht möglich ist.

       72. In seinem Urteil vom 9.9.1997 (9 C 48.96 - InfAuslR 1998, 125) wiederholte das Bundesverwaltungsgericht seine Auffassung, daß die auf einem unzureichenden, dem Standard in Europa und speziell in Deutschland nicht entsprechenden Gesundheitssystem beruhenden Leibes- und Lebensgefahren nicht in den Schutzbereich von Art. 3 EMRK fallen. Als eine bewußte und gezielte Menschenrechtsverletzung eines insoweit noch unterentwickelten Staates könnten sie nicht angesehen werden.

       73. Mit seinem Urteil vom 4.11.1997 (9 C 34/96 - NVwZ 1998, 750) führte das Bundesverwaltungsgericht seine Rechtsprechung zu den Anforderungen an staatsähnliche Organisationen im Hinblick auf das Asylrecht und den Abschiebungsschutz fort. Nach der Rechtsprechung des BVerwG bestehen ein Asylanspruch nach Art. 16 a GG und ein Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG nur, wenn der Ausländer von politischer, d.h. staatlicher oder quasistaatlicher Verfolgung bedroht ist. Ebenso kommt ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V. mit Art. 3 EMRK nur dann in Betracht, wenn im Zielland der angedrohten Abschiebung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch einen Staat oder eine staatsähnliche Organisation droht. Auf die Klage eines afghanischen Asylbewerbers stellte das BVerwG fest, daß es in Afghanistan eine von allen Bürgerkriegsparteien anerkannte Regierung, die als Rechtsnachfolgerin des gestürzten kommunistischen Regimes betrachtet werden könnte, nie gegeben hat. Ebenso gebe es keine staatsähnlichen Organisationen. Für die Bestimmung eines Machtgebildes als staatsähnlich sei nicht nur die Fähigkeit zu bloßer Machtausübung mit Waffengewalt, sondern auch die Herstellung einer inneren Friedensordnung erforderlich. Dazu müsse eine Gebietsgewalt auf einer organisierten, effektiven und stabilisierten territorialen Herrschaftsmacht beruhen. Solange jederzeit mit dem Ausbruch bewaffneter Auseinandersetzungen gerechnet werden müsse, die die Herrschaftsgewalt regionaler Machthaber in Frage stellten, könne sich eine dauerhafte territoriale Herrschaftsgewalt nicht etablieren. In Afghanistan erfülle keine der um die Macht kämpfenden Bürgerkriegsparteien die Anforderungen an eine staatsähnliche Organisation im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts. Es gebe keine über längere Zeit hinweg stabilen Fronten und es finde keine Verständigung über eine friedliche Beendigung des Bürgerkrieges statt. Sämtliche Bürgerkriegsparteien strebten kompromißlos mit militärischen Mitteln die Machtübernahme im Gesamtstaat an. Damit fehle es am Erfordernis der voraussichtlichen Dauerhaftigkeit des Machtgebildes. Dem Kläger könne daher kein Asyl nach Art. 16 a GG und kein Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG oder § 53 Abs. 4 AuslG i.V. mit Art. 3 EMRK gewährt werden. Allerdings liegen nach Auffassung des BVerwG in der Person des Klägers die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG vor, da er wegen seiner herausgehobenen Stellung als Kampfpilot der afghanischen Luftwaffe und der Beteiligung an Putschversuchen landesweit mit einer Nachstellung bis hin zu seiner Tötung zu rechnen habe.

       74. Der VGH Baden-Württemberg entschied in seinem Urteil vom 16.6.1997 (A 14 S 292/97 - ESVGH 47, 254 = InfAuslR 1997, 399), daß eine Abschiebung im Falle einer Krankheit nur in extrem zugespitzten Ausnahmefällen eine Behandlung i.S. von Art. 3 EMRK darstellen und nur dann nach § 53 Abs. 4 AuslG einer Abschiebung entgegenstehen kann. Der Verwaltungsgerichtshof wiederholte zunächst seine Ansicht, daß die Abschiebung eines Betroffenen in ein akut umkämpftes Bürgerkriegsgebiet, in dem mit hoher Wahrscheinlichkeit Tod oder schwerste Körperverletzungen drohen, im Hinblick auf Art. 3 EMRK unzulässig ist, auch wenn diese Gefahren einem Zielstaat oder einem an seine Stelle getretenen staatsähnlichen Äquivalent nicht zugerechnet werden können66. Diese Auffassung nehme zwar stärker den Abschiebungsakt der Bundesrepublik Deutschland selbst und deren aus Art. 3 EMRK resultierende Unterlassungspflicht in den Blick. Gleichwohl liege die Ursache des Abschiebungsschutzes auch hier allein in den Gegebenheiten des Zielstaates. Aus der Beschränkung des Anwendungsbereiches des § 53 AuslG auf Gefahren, die ihre Ursache in den Gegebenheiten des Zielstaates haben, folge, daß konstitutionsbedingte Gefahren als Abschiebungshindernis grundsätzlich ausscheiden. Jedoch könne sich nach der jüngsten Rechtsprechung des EGMR67 in extrem zugespitzten Fallgestaltungen im Hinblick auf konstitutionsbedingte Gründe aus Art. 3 EMRK ein Abschiebungshindernis ergeben, so daß jedenfalls insoweit eine Beschränkung auf primär zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse ausscheidet.

       75. Das Hamburgische OVG verneinte in seinem Beschluß vom 24.6.1997 (OVG Bs VI 25/97 - InfAuslR 1997, 460) Abschiebungsschutz aus § 53 Abs. 4 AuslG i.V. mit Art. 3 EMRK im Falle einer schweren Krankheit bereits aus dem Grund, daß die genannten Bestimmungen einer Abschiebung nur dann entgegenstehen, wenn der abgeschobenen Person im Zielstaat unmenschliche Behandlung droht. Die Nichtgewährung einer dem Heimatstaat nicht möglichen medizinischen Versorgung stelle keine von diesem Staat zu verantwortende unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK dar, da dies grundsätzlich ein aktives Handeln erfordere.

       76. In seinem Beschluß vom 13.11.1997 (13 S 2064/97 - InfAuslR 1998, 126) nahm der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Art. 3 EMRK Stellung. Der VGH sei bisher davon ausgegangen, daß Art. 3 EMRK bezüglich der allgemeinen Folgen von Naturkatastrophen, Bürgerkriegen oder anderen bewaffneten Konflikten ausnahmsweise die primäre Verantwortlichkeit des Vertragsstaates für das Handeln in seiner eigenen Herrschaftsgewalt begründet, wenn der Ausländer durch die Abschiebung in extreme Gefahrenlage für Leib und Leben gebracht wird, die ihn gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausliefert. Der Senat habe die Auffassung vertreten, daß in solchen Ausnahmesituationen bereits die Abschiebung selbst eine unmenschliche Behandlung sei, weil die zwangsweise Verbringung eines Menschen in eine derart extreme Gefahrenlage für seine höchsten Rechtsgüter Leib und Leben eklatant die körperliche Integrität dieses Menschen mißachte und ihn zum bloßen Objekt des Vollstreckungsverfahrens herabwürdige68. Das Bundesverwaltungsgericht habe diese Auffassung in seinem Urteil vom 2.9.1997 - 9 C 40.96 -69 nicht geteilt, sondern entschieden, daß die Abschiebung eines Ausländers in eine extreme Leibes- und Lebensgefahr, die nicht vom Staat oder einer staatsähnlichen Gewalt ausgehe oder zu verantworten sei, nicht gegen Art. 3 EMRK verstößt. Der Senat habe daher seine Rechtsprechung - aus Gründen der Rechtssicherheit - aufgegeben, wobei er auf sein Urteil vom 16.9.1997 (nicht veröffentlicht) verweist. Zudem liege in solchen Fällen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ein zwingendes Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG70 oder zumindest ein zur Erteilung einer Duldung zwingender Grund nach § 55 Abs. 2 bis 4 AuslG71 vor, weshalb nach Ansicht des VGH ein Verstoß gegen Art. 3 EMRK im Ergebnis jedenfalls faktisch ausgeschlossen sein dürfte.

       77. Der Hessische VGH schloß sich in seinem Urteil vom 18.12.1997 (3 UE 3402/97.A - ESVGH 48, 136) der oben zitierten Rechtsprechung des BVerwG an, auch im Hinblick auf die Entscheidung des EGMR in der Sache Ahmed gegen Österreich an der Auslegung von § 53 Abs. 4 AuslG i.V. mit Art. 3 EMRK festzuhalten, wonach Abschiebungsschutz nur gewährt werden könne, wenn der Ausländer im Zielland der Abschiebung Gefahr laufe, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe durch den Staat oder eine staatsähnliche Organisation unterworfen zu werden, und verneinte in bezug auf Äthiopien das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses aus § 53 Abs. 4 AuslG i.V. mit Art. 3 EMRK, da Anhaltspunkte für eine Mißhandlung durch den Staat oder staatlich geduldete Mißhandlungen durch Dritte im Fall des Klägers nicht vorlägen und die allgemeine schwierige wirtschaftliche Lage in Äthiopien keine gezielte staatliche Vorgehensweise darstelle.

       78. In seinem Gerichtsbescheid vom 24.7.1997 (9 E 30433/97.A (V) - NVwZ-Beilage 1998, 19) und seinem Beschluß vom 27.8.1997 (9 G 50507/97.A(2) - InfAuslR 1998, 84)72 lehnte das VG Frankfurt/Main die Auffassung des BVerwG ab, daß grundsätzlich nur unmittelbare oder mittelbare Mißhandlungen durch staatliche oder quasi-staatliche Organe des Landes, in das abgeschoben werden soll, als unmenschliche Behandlung i.S. von Art. 3 EMRK anzusehen sind. Maßgebendes Staatsverhalten i.S. des Art. 3 EMRK sei das deutscher Stellen, wenn diese Abschiebung im Einzelfall zu einer unmenschlichen Behandlung eines Ausländers führt. Das Abschiebungshindernis des § 53 Abs. 4 AuslG i.V. mit Art. 3 EMRK stelle nur auf Handlungen der Bundesrepublik ab, nicht aber auf Handlungen des Zielstaates. Das VG geht daher in bezug auf Somalia vom Bestehen eines Abschiebungshindernisses aus, da jeder Rückkehrer der ernsthaften Gefahr von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt sei.

       79. Das OVG Rheinland-Pfalz stellte in seinem Beschluß vom 27.11.1997 (10 B 12299/97.OVG - InfAuslR 1997, 199) fest, daß aus der Gefahr der Doppelbestrafung in der Türkei kein Abschiebungshindernis aus § 53 Abs. 4 AuslG i.V. mit Art. 3 EMRK erwächst, da die Türkei bei der Doppelbestrafung sich beim Strafmaß auf die Höhe der im Ausland verhängten Strafe beschränke und die (teilweise) im Ausland verbüßte Strafe auf die Vollstreckung der erneut ausgeworfenen Strafe anrechne. Dafür, daß allein schon die erneute Bestrafung eine Maßnahme i.S. des Art. 3 EMRK wäre, sei nichts vorgetragen.

       80. Das VG Braunschweig bejahte in seinem Urteil vom 31.1.1997 (3 A 3278/96 - NVwZ-Beilage 1997, 62) ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V. mit Art. 3 EMRK für desertierte Angehörige der russischen Weststreitkräfte hinsichtlich der Russischen Föderation. Die Inhaftierung eines Menschen könne, auch wenn sie wegen eines in vielen Ländern bestehenden Straftatbestandes wie Desertion erfolge, eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen. Aufgrund der nach Auskunft verschiedener Stellen grausamen und inhumanen Bedingungen in den russischen Gefängnissen, insbesondere in der Untersuchungshaft, drohe dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die konkrete Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung bei einer Inhaftierung in Rußland.

       81. Ebenso war das VG Würzburg in seinem Urteil vom 20.1.1997 (W 8 K 96.30772 - NVwZ-Beilage 1997, 57)73 davon überzeugt, daß der Kläger, der 1990 von den Weststreitkräften der früheren Sowjetunion desertierte, bei einer Verurteilung in der Russischen Föderation, aber auch schon vorher in der Untersuchungshaft mit einer Haftsituation rechnen muß, die den Anforderungen des Art. 3 EMRK nicht mehr genüge, weshalb er Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V. mit Art. 3 EMRK genieße.

       82. Demgegenüber vertrat das VG Ansbach in seinem Urteil vom 23.9.1997 (AN 20 K 96/33099 - NVwZ-Beilage 1998, 30 = InfAuslR 1997, 40) in bezug auf einen Westgruppendeserteur kasachischer Staatsangehörigkeit die Auffassung, daß die allgemeine Lage in den Strafvollzugsanstalten in Kasachstan sich nicht als zielgerichtetes Handeln des Staates gegen einzelne oder eine Vielzahl von Personen darstellt und mithin weder eine unmenschliche oder erniedrigende Strafe noch eine solche Behandlung i.S. des Art. 3 EMRK gegeben ist.

       Zum Umfang des Verweises in § 53 Abs. 4 AuslG auf die EMRK und das aus ihr begründete Abschiebungshindernis vgl. Urteil des BVerwG vom 11.11.1997 (9 C 13.96) unter [40].

      



      65 Vgl. dazu Röben (Anm. 2), [63].
      66 Zur Aufgabe dieser Rechtsprechung durch den VGH Baden-Württemberg vgl. [76].
      67 Vgl. Urteil vom 2.5.1997 - D. gegen Vereinigtes Königreich, InfAuslR 1997, 381.
      68 Senatsurteile vom 22.1.1997, EzAR 043 Nr. 20 und vom 5.6.1996, EzAR 043 Nr. 16.
      69 Vgl. oben [71].
      70 BVerwGE 99, 324 (328).
      71 Urteil vom 2.9.1997, vgl. oben [71].
      72 Zu den Ausführungen zum Abschiebungsverbot nach § 51 Abs. 1 AuslG in diesem Beschluß vgl. oben [47].
      73 Zu den asylrechtlichen Aspekten des Urteils vgl. oben [51].