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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1998


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Kai Peter Ziegler


X. Internationaler Menschenrechtsschutz

1. Europäische Menschenrechtskonvention

e) Schutz des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK)

       75. Nach der Auffassung des BVerwG in dem Urteil vom 27.1.1998 (1 C 28.96 - InfAuslR 1998, 279) kann eine außergewöhnliche Härte i.S.d. § 19 Abs. 1 S. 2 AuslG auch in der Auflösung einer familiären Lebensgemeinschaft liegen, die nicht unbedingt eine häusliche Gemeinschaft erfordere, dann jedoch zusätzlicher Anhaltspunkte bedürfe. Zwischen einem Vater und seinem nichtehelichen Kind könnten dies intensive Kontakte sein, die das Fehlen eines gemeinsamen Lebensmittelpunktes weitgehend ausgleichen würden. Ein bosnischer Staatsangehöriger heiratete in Jugoslawien eine deutsche Staatsangehörige, reiste im Besitz eines Sichtvermerks nach Deutschland ein und erhielt eine befristete Aufenthaltserlaubnis. Seine Ehe wurde 1994 durch Urteil geschieden, wogegen er Berufung einlegte. Noch vor der Entscheidung verstarb die Ehefrau im Jahre 1995. Im gleichen Jahr wurde ein nichteheliches Kind des Klägers geboren. Seine Klage auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis hatte ebensowenig Erfolg wie seine Revision. Das BVerwG führte u.a. aus, daß die Entscheidung des Gesetzgebers in § 17 Abs. 1 AuslG, familiäre Beziehungen erst dann zur Grundlage eines Aufenthaltsrechtes zu machen, wenn diese Beziehungen die Qualität einer familiären Lebensgemeinschaft erreichen würden, mit Art. 8 EMRK vereinbar sei. Zwar umschreibe Art. 8 Abs. 1 EMRK mit dem Begriff des Familienlebens einen umfassenderen Schutzbereich als Art. 6 GG, da er insbesondere auch das Verhältnis zu nahen Verwandten umfasse. Soweit sich aber der Anwendungsbereich des Art. 8 EMRK mit dem des Art. 6 GG decke, vermittle Art. 8 EMRK keinen weitergehenden Schutz. Aus dem Ziel des Art. 8 EMRK, den einzelnen vor willkürlicher Einmischung der öffentlichen Gewalt in sein Privat- und Familienleben zu schützen, folge grundsätzlich kein Einreise- und Aufenthaltsrecht für Ausländer. Die Ausweisung aus der Bundesrepublik, in der ein nichteheliches Kind des Antragstellers mit deutscher Staatsangehörigkeit lebe, könne allerdings seine Rechte aus Art. 8 Abs. 1 EMRK verletzen. Dies ergebe sich aus der Rechtsprechung des EGMR, der eine Ausweisung für konventionswidrig erachtet habe, weil eine sehr enge Bindung zwischen Vater und Tochter bestanden habe.89 Die Reichweite der Verpflichtung zur Achtung des Familienlebens hänge danach aber von der Lage der Betroffenen ab und räume den Vertragsstaaten einen weiten Ermessensspielraum ein.90 Es sei deshalb mit Art. 8 EMRK vereinbar, über den Zuzug selbst in Härtefällen nach Ermessen zu entscheiden, solange in einer Abwägung nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit die familiären Belange angemessen berücksichtigt würden. Hier könne in der Versagung einer Aufenthaltserlaubnis ein Eingriff in das Familienleben gesehen werden, doch sei er durch den Schutz der öffentlichen Ordnung und das wirtschaftliche Wohl des Landes gerechtfertigt. Dem Kläger fehle es an einer engen Bindung zu seinem Sohn, so daß die konkreten familiären Beziehungen eine geringere Schutzwürdigkeit hätten als die in den Vorschriften der § 17ff. AuslG verfolgten Gemeinwohlziele.

       76. Das OLG Frankfurt wollte in seinem Beschluß vom 30.1.1998 (2 W 281/97 - NJW-RR 1998, 937) Großeltern nur dann einen Anspruch auf persönlichen Kontakt mit ihrem Enkel gewähren, wenn dies dem Wohl des Kindes entspreche. Ein Umgangsrecht der Großeltern ergebe sich nicht aus Art. 8 Abs. 1 EMRK, da dieser zwar auch die Beziehung zwischen drei Generationen schütze, der Schutz jedoch nach der Rechtsprechung des EGMR nicht unabhängig von intensiven Kontakten zwischen Großeltern und Enkelkind bestehe. Staatliche Organe seien aus Sicht der EKMR auch nicht verpflichtet, ein Familienleben wiederherzustellen, das aufgrund des Verhaltens der Beteiligten gestört sei.91 Werde eine Lösung von den aus Art. 8 Abs. 1 EMRK Berechtigten selbst verhindert und fehle es an schützenswerten Beziehungen zwischen den Großeltern und ihrem Enkel, so könne ein Umgangsrecht nicht allein wegen der Verwandtschaft der Beteiligten anerkannt werden. Auch im Hinblick auf die Rechte der Eltern und des Kindes, die nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zu schützen seien, könne der Ausschluß der Großeltern vom Umgang mit ihrem Enkel nicht als konventionswidrig bezeichnet werden. Die Großeltern des Kindes hatten vor dem LG einen Antrag auf Umgang mit ihrem Enkel gestellt, den die Eltern verweigerten, weil erhebliche Spannungen zwischen den Eltern und Großeltern bestanden. Das LG lehnte den Antrag mit der Begründung ab, daß die Großeltern keine Bezugspersonen für ihren Enkel sein könnten, weil seit Jahren keine Kontakte bestanden hätten. Die Eltern seien bestrebt gewesen, das Kind aus den Streitigkeiten herauszuhalten und der 9-jährige Enkel habe erklärt, keinen Kontakt mit den Großeltern zu wollen. Das OLG wies die Beschwerde der Großeltern daher ab.

       77. Für das OVG Rheinland-Pfalz in seinem Beschluß vom 22.9.1998 (10 B 11661/98.OVG - InfAuslR 1998, 496) fordert Art. 8 EMRK Einzelfallentscheidungen über die Verhältnismäßigkeit von Ausweisungen, die eine angemessene Gewichtung der persönlichen und öffentlichen Interessen aufweisen müssen. Das AuslG gewährleiste dies jedoch regelmäßig mit seinen Abstufungen nach Ist-, Regel- und Kann-Ausweisung, sowie seinen Härteregelungen. Der Antragsteller, ein 26-jähriger Marokkaner, der sich seit 22 Jahren in der Bundesrepublik aufhielt und dessen Eltern und Geschwister ebenfalls hier lebten, wurde auf Grundlage von § 47 Abs. 1 Nr. 2 AuslG ausgewiesen. Seine Begehren vorläufigen Rechtsschutzes blieben ohne Erfolg. Das OVG führte aus, daß nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK eine Ausweisung nur verhältnismäßig sei, wenn der Ausländer noch Bindungen zu seinem Herkunftsland habe und seine Straftaten so schwer wögen, daß seine Ausweisung zum Schutz der öffentlichen Ordnung notwendig sei.92 Diese Einzelfallentscheidungen forderten eine angemessene Gewichtung der Rechte des Ausländers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens und der Verteidigung der Ordnung, die ein legitimes Ziel des Art. 8 Abs. 2 EMRK sei. Die abgestuften und Härtefall-Regelungen des AuslG trügen dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz jedoch hinlänglich Rechnung, so daß Ist-Ausweisungen nur höchst selten dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz widersprächen.93 Dies sei hier nicht ersichtlich, da der Antragsteller sich nie in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik integriert habe, die Lebensverhältnisse in Marokko kenne, die Sprache beherrsche und dort mit Hilfe seiner Familie Fuß fassen könne. Eine positive Sozialprognose könne nicht länger gestellt werden, weil weder seine zehn strafrechtlichen Verurteilungen, noch die Warnungen der Ausländerbehörde ihn zu einer Reorientierung bewegt hätten.

       78. Nach Auffassung des VGH BW in seinem Urteil vom 23.4.1998 (A 6 S 1121/96 - VBlBW 1998, 388) verweist § 53 Abs. 4 AuslG lediglich insoweit auf die EMRK, als sich aus ihr Abschiebungshindernisse wegen Gefahren im Zielstaat der Abschiebung ergeben. Drohe die Abschiebung geschützte Rechtsgüter im Bundesgebiet zu verletzen, so seien daraus folgende Hindernisse nicht unter § 53 Abs. 4 AuslG im Asylverfahren, sondern im Vollzugsverfahren der Abschiebung zu berücksichtigen. Vietnamesische Staatsangehörige beantragten im Bundesgebiet ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Der Ehemann, bzw. Vater der Kläger erhielt eine Aufenthaltsbefugnis, die Anträge der Kläger wurden jedoch abgelehnt und ihnen die Abschiebung angedroht. Die Klage vor dem VG und die Berufung vor dem VGH blieben erfolglos. Der VGH führte aus, daß er an seiner bisherigen Rechtsauffassung, daß § 53 Abs. 4 AuslG auch Abschiebungshindernisse aus Art. 8 EMRK umfasse, auf Grund der zwischenzeitlichen Rechtsprechung des BVerwG94 nicht mehr festhalten könne. Danach verweise § 53 Abs. 4 AuslG nur bei zielstaatbezogenen Abschiebungshindernissen auf die EMRK, nicht jedoch in bezug auf geschützte Rechtsgüter im Bundesgebiet. Derartige Vollstreckungshindernisse seien nicht vom Bundesamt im Asylverfahren, sondern von der Ausländerbehörde im Vollstreckungsverfahren zu berücksichtigen.

       79. Das VG München erklärte mit Beschluß vom 27.7.1998 (M 17 S 98.2640 - NVwZ-Beilage 10/1998, 99) die Verfügung der sofort vollziehbaren Ausweisung des türkischen Jugendlichen Mehmet95 für reccfmäßig. Der Antragsteller, ein türkischer Staatsangehöriger, wurde in München geboren. Seine Eltern und Brüder lebten alle in Deutschland und waren im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis. Ab seinem 10. Lebensjahr trat der Antragsteller strafrechtlich in Erscheinung, z.T. mit schweren Straftaten. Zahlreichen und intensiven Betreuungsmaßnahmen, sowie Androhungen der Aufenthaltsbeendigung hatten den Antragsteller nicht von der Begehung von Straftaten abbringen können, so daß er schließlich mit Bescheid vom 22.5.1998 nach §§ 45, 46 Nr. 2 AuslG ausgewiesen wurde. Das VG erachtete die Ausweisung für reccfmäßig und führte aus, daß der lange Aufenthalt des Antragstellers und seine sozialen Bindungen im Rahmen seiner Rechte aus Art. 8 EMRK bei der Güterabwägung nicht vorrangig zu bewerten seien. Zum einen sei es mit Art. 8 EMRK vereinbar, auch minderjährige Ausländer auszuweisen und abzuschieben, zum anderen stelle sich eine Reintegration in das türkische Heimatland nicht als unüberwindbar dar. Die Eltern planten die Rückkehr in die Heimat nach Eintritt in den Ruhestand des bereits 60-jährigen Vaters, die Familie besitze ein Haus in der Türkei, es bestünden verwandtschaftliche Bindungen zu einem Onkel, der Antragsteller sei zweisprachig aufgewachsen, und der Mutter sei es zumutbar, sich zumindest vorübergehend in der Türkei beim Antragsteller aufzuhalten. Wegen der äußerst aggressiven und brutalen Vorgehensweise des Antragstellers stelle sein weiterer Verbleib im Bundesgebiet eine erhebliche Gefährdung der Allgemeinheit dar. Wegen der hohen Zahl von Gewalttaten und der offensichtlichen Wiederholungsgefahr bestehe auch kein Ausweisungsschutz nach Art. 3 Abs. 3 ENA.96

      



      89 EGMR, Urteil vom 21.7.1988, Berrehab./.Niederlande, EuGRZ 1993, 547.
      90 EGMR, Urteil vom 28.5.1985, Abdulaziz, Cabales und Balkandali./.Vereinigtes Königreich, EuGRZ 1985, 567 (569).
      91 So Frowein (Anm. 81), Rndnr. 20, 21.
      92 EGMR, Urteil vom 21.10.1997, Boujlifa./.Frankreich, InfAuslR 1998, 1.
      93 So das BVerwG mit Urteil vom 10.12.1993, Az. 1 B 160.93, InfAuslR 1994, 101.
      94 BVerwG, Urteil vom 11.11.1997, Az. 9 C 13.96, VBlBW 1998, 216.
      95 Siehe dazu auch oben, Nr. [34].
      96 Europäisches Niederlassungsabkommen vom 13.12.1955, BGBl. 1959 II 998.