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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1999


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Ludger Radermacher


IX. Internationaler Menschenrechtsschutz

Europäische Menschenrechtskonvention

b) Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK)

       36. In einer Entscheidung vom 16.12.1999 (4 CN 9.98 - DVBl. 2000, 807) betonte das BVerwG, daß ein Normenkontrollgericht bei der Ausübung seines Verfahrensermessens nach § 47 Abs. 5 S. 1 VwGO verpflichtet ist, Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK mit dem Inhalt, den die Vorschrift in der Entscheidungspraxis des EGMR gefunden hat, vorrangig zu beachten. Das Normenkontrollgericht sei verpflichtet, über den Einwand des Eigentümers gegen eine Festsetzung, die sich auf sein im Gebiet eines B-Planes gelegenes Grundstück unmittelbar auswirke, aufgrund öffentlicher mündlicher Verhandlung zu entscheiden. Zwar betreffe Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK nach dem deutschen Vertragstext nur zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen. Aus den völkerrechtlich authentischen Fassungen des EMRK Vertragstextes in englischer und französischer Sprache gehe jedoch hervor, daß der Rechtscharakter des strittigen Anspruchs entscheidend sei. Ebenso komme es nach der Rechtsprechung des EGMR für die Frage, ob ein Streit zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen zum Gegenstand habe, nicht auf eine innerstaatliche Rechtswegzuweisung, auf die Rechtsnatur der für die Entscheidung maßgeblichen Rechtsvorschriften (Privatrecht oder öffentliches Recht) oder den Rechtsstatus der Beteiligten an (Privatpersonen oder Träger hoheitlicher Gewalt).63 Entscheidend sei vielmehr allein, daß ein Verfahren im Ergebnis unmittelbare Auswirkungen auf zivilrechtliche Rechte und Pflichten haben könne, was auch bei einer Reihe von Streitigkeiten der Fall sei, die nach deutschem Recht verwaltungsrechtlicher Natur seien. Dies gelte gerade für das Recht am Grundeigentum. Im zu entscheidenden Fall könne sich aufgrund der eigentumsgestaltenden Wirkung des B-Planes und der Form des durch § 47 VwGO dem Grundstückseigentümer eröffneten Rechtsschutzes auch die Entscheidung über die Gültigkeit eines B-Planes nach § 47 Abs. 5 VwGO unmittelbar auf das Grundeigentum auswirken. Auch der lex posterior-Grundsatz greife hier nicht, da ein Vorrang des späteren Gesetzes nur dann gegeben sei, wenn der Gesetzgeber seinen Willen zur Abweichung von völkervertraglichen Verpflichtungen ausdrücklich bekundet habe. Die Gesetzesmaterialien zu § 47 VwGO ließen jedoch nicht die Schlußfolgerung zu, daß der Gesetzgeber den bei der gerichtlichen Kontrolle von B-Plänen erwünschten Vereinfachungs- und Beschleunigungseffekt dem Öffentlichkeitsgebot des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK grundsätzlich habe überordnen wollen.

       37. In einem Urteil vom 18.11.1999 nahm der 1. Strafsenat des BGH (1 StR 221/99 - BGHSt 45, 321) Stellung zu der Frage der Konsequenzen eines gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens i.S. von Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verstoßenden Lockspitzeleinsatzes, bei dem eine unverdächtige und zunächst nicht tatgeneigte Person durch eine von einem Amtsträger geführte Vertrauensperson in einer dem Staat zuzurechnenden Weise zu einer Straftat verleitet worden ist und dies zu einem Strafverfahren geführt hat. Wie schon in vorangegangenen Entscheidungen64 hielt der entscheidende Senat auch hier eine Strafzumessungslösung für das geeignete Mittel, um einen im Einzelfall erforderlichen Ausgleich für einen Konventionsverstoß zu schaffen. Der EGMR habe mehrfach betont, daß sich die konkrete Ausgestaltung der Grundprinzipien der EMRK nach nationalem Recht richteten.65 Nach deutschem Recht aber komme die Anerkennung eines Verfahrenshindernisses nur in Betracht, wenn der Tatrichter der Tatprovokation nicht bei der Strafzumessung, durch Absehen von Strafe oder sonst durch Anwendung und Auslegung des Straf- und Strafverfahrensrechts in angemessener Weise Rechnung tragen könnte. Ansonsten wäre man gezwungen, einem "Alles oder Nichts"-Prinzip zu folgen, das die möglichen vielgestaltigen Abstufungen in der Schuld des Täters unberücksichtigt lasse. Im deutschen Recht ziehe selbst der massive Verstoß gegen § 136 a StPO nach ausdrücklicher gesetzlicher Regelung lediglich ein Beweisverwertungsverbot und kein Verfahrenshindernis nach sich.66 Ein Verfahrenshindernis werde gar bei Grundrechtsverstößen abgelehnt.67 Allerdings sei der Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK im Urteil ausdrücklich auszusprechen. Ein solcher Konventionsverstoß erfordere eine gerechte Entschädigung, die durch die Anerkennung eines besonderen, gewichtigen und schuldunabhängigen Strafmilderungsgrunds erfolgen solle, der zur Unterschreitung der ansonsten schuldangemessenen Strafe zu führen habe.68 Hierbei bedürfe das Ausmaß der dadurch bedingten Strafmilderung der exakten Bestimmung in den Urteilsgründen. Der Tatrichter könne die Strafmilderung in vielfältiger Weise berücksichtigen. So könne etwa ein besonders schwerer Fall trotz Vorliegen eines Regelbeispieles abgelehnt, auf die gesetzliche Mindeststrafe zurückgegangen werden oder auch die Einstellung der Verfahren nach §§ 153, 153 a StPO bei Vergehen ausgesprochen werden.

       Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf eine Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts, das in einem Beschluß vom 29.6.1999 (4 St RR 133/99 NStZ 1999, 527 f.) die Auffassung vertrat, daß die Tatprovokation durch einen polizeilichen Lockspitzel jedenfalls dann nicht zu einem Verfahrenshindernis führt, wenn die Verurteilung des Täters nicht auf der Aussage dieser polizeilichen Vertrauensperson beruht.

       38. Mit Urteil vom 10.11.1999 entschied der BGH (3 StR 361/99 - BGHSt 45, 308 ff.), daß das Verschlechterungsverbot dem neuen Tatrichter nicht gebietet, das Ausmaß der Kompensation für die Verletzung des Beschleunigungsgebots des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK im Vergleich zu der bisherigen Strafe des früheren Tatrichters zu bestimmen. Er habe vielmehr die an sich - ohne die Verletzung des Beschleunigungsgebots - verwirkte Strafe in einem neuen, eigenständigen Strafzumessungsvorgang zu ermitteln, ohne an die Höhe der früheren Strafe gebunden zu sein. Zugrunde lag die landgerichtliche Verurteilung eines Angeklagten zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten. Nach Revision und Zurückverweisung - gestützt auf eine Verletzung des Beschleunigungsgebots nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK - hielt das dann zuständige LG eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und 6 Monaten für angemessen, die es aufgrund der Verletzung des Beschleunigungsgebotes um ein Jahr auf zwei Jahre und sechs Monate ermäßigte. Die hiergegen gerichtete Revision blieb erfolglos. Der BGH erkannte, daß es nicht gegen das Verschlechterungsverbot des § 358 Abs. 2 StPO verstößt, daß die Strafkammer bei der konkreten Bestimmung der Kompensation von einer an sich verwirkten Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und 6 Monaten ausgegangen ist. § 358 Abs. 2 StPO verbiete nur, daß das angefochtene Urteil in Art und Höhe der Rechtsfolgen zum Nachteil des Angeklagten verändert werde. Folge sei jedoch nicht, daß die Auffassungen und Wertungen, die der angefochtenen, aber aufgehobenen Entscheidung zugrunde liegen, den neuen Tatrichter in irgendeiner Form bänden. § 358 Abs. 2 StPO ziehe lediglich eine Obergrenze. Bestätigt werde dieses Ergebnis dadurch, daß gerade in den Fällen, in denen eine Aufhebung erfolgt sei, weil der frühere Tatrichter eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes nach Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK nicht ausreichend berücksichtigt und sich mit der strafmildernden Wirkung der allgemeinen Verfahrensdauer begnügt habe, der neue Tatrichter nicht beurteilen könne, in welchem Umfang in der bisherigen Strafhöhe die dem Art. 6 Abs. 1 S.1 EMRK zugrunde liegenden Gesichtspunkte bereits berücksichtigt worden seien.

       39. In einem Beschluß vom 12.3.1999 (4 B 112/98 - NStZ 1999, 551) erkannte das BVerwG, daß eine mündliche Verhandlung nach Art. 6 Abs. 1 EMRK jedenfalls dann im allgemeinen nicht im verwaltungsgerichtlichen Berufungsverfahren zwingend geboten ist, wenn eine Beweisaufnahme vor der voll besetzten Richterbank des Berufungsgerichts an Ort und Stelle stattgefunden hat, den Beteiligten hierbei Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist, das Berufungsgericht seine Auffassung über das Ergebnis der Beweisaufnahme mitgeteilt hat und - aus einem anderen Gesichtspunkt heraus - nur noch Rechtsfragen zu entscheiden gewesen sind. Aufgrund mündlicher Verhandlung hatte das VG der Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Baugenehmigung für das angeblich im ungeplanten Innenbereich liegende Vorhaben des Klägers stattgegeben. Auf die Berufung der beklagten Behörde hin nahm der VGH in vollbesetzter Richterbank unter Beteiligung der Parteien die Lage des Grundstücks in Augenschein. Die bauplanungsrechtliche Qualifizierung des klägerischen Grundstücks als Außenbereichsgrundstück teilten die Richter während der Beweisaufnahme vor Ort den Parteien mit. Durch Beschluß hielt der VGH die Berufung gemäß § 130 a VwGO einstimmig und ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung für begründet, weil § 35 BauGB dem Vorhaben entgegensteht. Die gegen die Nichtzulassung der Revision beim BVerwG eingelegte Beschwerde blieb erfolglos. Ein Ermessensfehler bei der Handhabung des § 130 a VwGO sei nicht gegeben, da die Beteiligten die Gelegenheit gehabt hätten, zum Ergebnis der Beweisaufnahme und der ihnen bekannten Würdigung seitens des Gerichts Stellung zu nehmen. Art. 6 Abs. 1 EMRK erfordere nicht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung im Berufungsverfahren. Nach der Rechtsprechung des EGMR sei auf die Besonderheiten des jeweiligen Rechtsmittelverfahrens abzustellen. Keiner öffentlichen Verhandlung bedürfe es insbesondere, wenn im Rechtsmittelzug nur noch über Rechtsfragen zu urteilen sei. Die vorliegend zunächst auch zu entscheidende Tatsachenfrage sei von der voll besetzten Richterbank mit den Prozeßbeteiligten im Rahmen der Beweisaufnahme erörtert worden.




      63 EGMR, Urteil vom 28.6.1978, Série A No. 27, Ziff. 88 ff. = EuGRZ 1978, 406, 416 - Fall König; W. Peukert, in: Frowein/Peukert, EMRK-Kommentar, 2. Aufl. 1996, Rdnr. 15 ff. zu Art. 6.

      64 Grundlegend BGHSt 32, 345 = NJW 1984, 2300.

      65 EGMR, StV 2990, 481 [482]; NStZ 1999, 47 [48].

      66 BGHSt 38, 214 [222] = NJW 1992, 1463.

      67 BGHSt 43, 53 [56] = NJW 1997, 2689.

      68 BGH, StV 1995, 131.