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Deutsche Rechtsprechung in völkerrechtlichen Fragen 1999


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Ludger Radermacher


XIII. Europäisches Gemeinschaftsrecht

5. Freizügigkeit

       70. Die in § 3 Abs. 2 Wehrpflichtgesetz (WPflG) getroffene Regelung über die Genehmigungspflicht von Auslandsaufenthalten Wehrpflichtiger ist nach Auffassung des BVerwG (6 C 30.98 - BVG 110, 40 ff.) mit Europäischem Gemeinschaftsrecht, insbesondere mit der Freizügigkeitsgarantie des Art. 18 Abs. 1 EG, vereinbar. Streitgegenstand zwischen den Beteiligten war die Frage, ob der Kläger für den zu Promotionszwecken verlängerten Aufenthalt in Großbritannien der Genehmigung der Wehrersatzbehörde bedürfe. In diesem Zusammenhang wurde auch die Vereinbarkeit von § 3 Abs. 2 WPflG mit Gemeinschaftsrecht überprüft. Das BVerwG erkannte, daß Art. 18 Abs. 1 EG (früher Art. 8 a Abs. 1 EGV) das Recht eines jeden Unionsbürgers formuliert, sich vorbehaltlich der im Vertrag und in den Durchführungsbestimmungen vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten. Diese politische Grundfreiheit finde jedoch keine Anwendung auf solche Beschränkungen der Ausreisefreiheit, die ausschließlich verteidigungspolitischer Natur seien. Aus der für diesen Sachverhalt maßgeblichen Fassung des Vertrages über die Europäische Union ("Vertrag von Maastricht") vom 7.2.1992131 folge, daß die nationale Verteidigungspolitik als Teilbereich der Sicherheitspolitik von den Vertragsstaaten nicht in die supranationale Zuständigkeitsordnung der Europäischen Gemeinschaften eingegliedert worden sei. Dies folge aus Formulierungen wie denen in Erwägungsgrund 9 der Präambel, Art. B Unter-Abs. 1. Spiegelstrich 2 EU-Vertrag (jetzt Art. 2 Unter-Abs. 1 Spiegelstrich 2 EU) sowie Art. J. 4 EU-Vertrag (jetzt Art. 17 Abs. 1 Unter-Abs. 1 EU), wonach die Verwirklichung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik nur auf längere Sicht oder zu gegebener Zeit geschehen solle und mithin in konjunktivischer Formulierung in eine unbestimmte Zeit verwiesen werde. Dem habe das in Art. J. 4. formulierte strikte Konsensprinzip für verteidigungspolitische Beschlüsse entsprochen. Dieses Ergebnis folge auch aus dem in Art. E EU-Vertrag (jetzt Art. 5 EU) formulierten Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wonach die Gemeinschaftsorgane nur tätig werden dürften, wenn ihnen eine vertragliche Ermächtigungsnorm Kompetenzen und Befugnisse verleihe. Zudem sei zu sehen, daß der Verfassungsgeber in Art. 12 a, 73 Nr. 1, 87a und 115 b GG eine verfassungsrechtliche Grundentscheidung für eine wirksame militärische Landesverteidigung getroffen habe. Die konkretisierenden Bestimmungen des Wehrpflichtgesetzes aktualisierten somit eine in der Verfassung enthaltene Grundentscheidung. Würde man Art. 18 Abs. 1 EG in der vom Kläger gewünschten Weise verstehen, so könnte sich jeder Wehrpflichtige der Erfüllung der Wehrpflicht durch Verlegung seines Aufenthalts in einen anderen EU-Mitgliedstaat sanktionslos entziehen. Selbst bei einer gedachten Anwendbarkeit des Art. 18 Abs. 1 EG ändere sich nichts an diesem Ergebnis, da bezüglich dieses Rechts auf den hinsichtlich der Verkehrsfreiheiten formulierten Vorbehalt aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit nach Art. 39 Abs. 3, 46 Abs. 1 EG (früher Art. 48 Abs. 3, 56 Abs. 1) zurückgegriffen werden könne. Dieser sich zudem durchweg in den die Freizügigkeit konkretisierenden Bestimmungen des sekundären Gemeinschaftsrechts findende Vorbehalt umfasse mit dem Begriff der öffentlichen Sicherheit auch die äußere Sicherheit. Die Mitgliedstaaten könnten somit - vom Gemeinschaftsrecht anerkannt - die zu deren Gewährleistung geeigneten und erforderlichen Maßnahmen treffen. Die in § 3 Abs. 2 WPflG getroffene Regelung verstoße aufgrund ihrer zeitlichen Begrenzung und einer Ausnahmeregelung für Härtefälle auch nicht gegen den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Gegen das Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art 12 Unter-Abs. 1 EG; früher Art. 6 EGV) werde nicht verstoßen, da die Lage deutscher Wehrpflichtiger nicht mit derjenigen junger Männer in anderen EU-Mitgliedstaaten vergleichbar sei, die über eine Berufsarmee verfügten. Auch ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK132, nach der es jeder Person frei stehe, jedes Land einschließlich des eigenen zu verlassen, sei deshalb nicht gegeben, weil die Voraussetzungen der nach Art. 2 Abs. 3 Protokoll Nr. 4 EMRK möglichen Beschränkungen erfüllt seien. Die Einschränkung sei im Sinne der Rechtsprechung des EGMR in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit notwendig. Bei der Bestimmung des Begriffes "notwendig" billige der Gerichtshof den Behörden, Gerichten und Gesetzgebungsorganen der Vertragsstaaten einen Ermessensspielraum zu, der unzweifelhaft nicht überschritten worden sei. Aus den gleichen Gründen sei § 3 Abs. 2 WPflG auch eine im Sinne des Art. 12 Abs. 3 IPbürgR133 zulässige Einschränkung gegenüber der Verbürgung der Ausreisefreiheit in Art 12 Abs. 2 IPbürgR.

       71. Mit Urteil vom 29.2.1999 entschied das BSG (B 1 KR 1/98 - NZS 1999, 607 ff.)134, daß die gesetzliche Krankenkasse für Rücktransporte aus dem Ausland auch dann nicht aufzukommen hat, wenn der Versicherte von einem Mitgliedstaat der Europäischen Union zur Weiterbehandlung ins Inland verlegt wird. Die Klägerin ist Mitglied der beklagten Ersatzkasse. Durch einen Unfall in Griechenland erlitt sie eine Schädelfraktur und wurde nach stationärer Behandlung in Athen nach Deutschland zurücktransportiert. Die Übernahme der durch diesen Transport entstandenen Kosten lehnte die Beklagte ab. Das BSG bestätigte die Klagabweisung durch das LSG und erkannte, daß der einzig in Betracht kommenden Anspruchsgrundlage des § 13 Abs. 3 SGB V jedenfalls der Ausschlußtatbestand des § 60 Abs. 4 S. 1 SGB V entgegensteht. Der Krankentransport sei als inländische Leistung zu behandeln und falle in die grundsätzliche Zuständigkeit der Beklagten. Die Vorschrift kennzeichne Krankenfahrten sinngemäß als akzessorische Nebenleistungen, die ausschließlich dazu dienten, die im konkreten Fall erforderliche Krankenhausbehandlung als Hauptleistung zu erbringen. Auf die Behandlung in Athen als einer vorhergehenden Hauptleistung könne der Transport somit nicht bezogen werden. Den griechischen Träger der Krankenversicherung träfen über die ihm gemeinschaftsrechtlich zugewiesene Zuständigkeit als aushelfender Träger (Art. 22 Abs. 1 Buchst. a Ziff. I EWGV 1408/71)135 keine weitergehenden Leistungspflichten, da der Akzessorietätsgrundsatz auch im Gemeinschaftsrecht gelte und die gemeinschaftsrechtlich angeordnete Leistungsaushilfe und das dabei anzuwendende griechische Recht nicht die Weiterbehandlung in einem ausländischen Krankenhaus umfasse. Die Leistungsaushilfe des örtlichen Trägers habe lediglich den begrenzten Zweck, die kostenfreie Krankenbehandlung für den Zeitraum sicherzustellen, in dem der eigentlich zuständige Träger die Sachleistung wegen des Territorialitätsprinzips nicht zur Verfügung stellen könne. Im übrigen sei eine unterschiedliche soziale Absicherung in den Mitgliedstaaten der EU hinzunehmen. Bei einem Wechsel des Versicherten in ein anderes Land sei er auf den dort geltenden Leistungskatalog beschränkt.

       72. Mit Urteil vom 16.6.1999 entschied das BSG (B 1 KR 5/98 - BSGE 84, 98 ff.), daß ein Pflichtversicherter in der Krankenversicherung der Rentner, der ausschließlich eine Rente aus der deutschen Rentenversicherung bezieht, seinen Status als Versicherter nicht dadurch verliert, daß er seinen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union verlegt. Krankenversicherungsleistungen, die während eines vorübergehenden Deutschlandaufenthalts erforderlich werden, richteten sich in ihrem Umfang nach deutschem Recht. Zugrunde lag der Fall eines Klägers, der als Bezieher einer Rente aus der deutschen Rentenversicherung zusammen mit seiner Ehefrau seinen Wohnsitz nach Spanien verlegt hatte. Krankenversicherungsbeträge zahlte er an die beklagte AOK. Während eines Deutschlandaufenthalts ließen sich die Eheleute Zahnersatz eingliedern. Die Zahlung der nach deutschem Recht hierfür vorgesehenen Zuschüsse lehnte die Beklagte ab. Die Klage des Ehemannes, der sich die Ehefrau später anschloß, hatte letztlich Erfolg. Das BSG führte aus, daß der Kläger aufgrund der Art. 22, 31 der EWG-Verordnung 1408/71136 für sich und seine Ehefrau in allen Mitgliedstaaten der EU vollen Krankenversicherungsschutz genießt, der alle Leistungen am Wohnort sowie ggf. auch Geldleistungen umfaßt. Nach Art. 28 Abs. 1 Buchst. a EWG-Verordnung 1408/71 sei der Träger am Wohnort für die Erbringung von Sachleistungen verantwortlich. Es werde dabei fingiert (Versicherungsfiktion), daß der Rentner nach den Rechtsvorschriften des Wohnsitzstaates zum Bezug einer Rente berechtigt sei und Anspruch auf Sachleistungen habe. Daneben nehme Art. 28 Abs. 1 S. 1 EWG-Verordnung 1408/71 auf das Recht Bezug, das für einen Bewohner des die Rente gewährenden Staates gelte (Wohnsitzfiktion). Diesen Leistungsansprüchen ständen Beiträge gegenüber, die dem Rentner von seiner Rente und anderen deutschen Versorgungsbezügen einbehalten würden. Art. 33 EWG-Verordnung 1408/71 unterstelle ein Junktim zwischen Versicherungslast und Beitragsrecht. Hinsichtlich der Versicherteneigenschaft nach § 30 SGB V könne dann der Status des Klägers kein anderer sein.

       73. Das Hamburgische OVG erkannte mit Beschluß vom 2.12.1999 (3 Bs 402/98 - InfAuslR 2000, 168 ff.), daß Widerspruch und Anfechtungsklage eines Ehegatten gegen die Ablehnung eines Antrags auf Erteilung oder Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis/EG auch dann aufschiebende Wirkung haben, wenn die Ehegatten getrennt lebten und es sich womöglich um eine sog. Scheinehe handelt. Für den Ausschluß des § 72 Abs. 1 AuslG genüge es grundsätzlich, daß der formelle rechtliche Status als Ehegatte eines freizügigkeitsberechtigten Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates (§ 1 Abs. 2 AufenthG/EWG)137 nachgewiesen sei. Die Antragstellerin erstrebte die Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltsgenehmigung. Sie war mit einem in Deutschland wohnhaften Griechen verheiratet, der eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis/EG besaß. Sie lebte jedoch mittlerweile getrennt von ihrem Ehemann. Nach ablehnendem Bescheid der Hamburger Ausländerbehörde hatte der Eilrechtsschutz im wesentlichen Erfolg. Das OVG erkannte, daß der Klage gegen die Verfügung der Antragsgegnerin gemäß § 80 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 12 Abs. 9 AufenthG/EWG, § 72 Abs. 1 AuslG aufschiebende Wirkung zukommt, soweit sie sich gegen die Versagung der Aufenthaltsgenehmigung richtet. § 12 Abs. 9 AufenthG/EWG schließe die Anwendung des § 72 Abs. 1 AuslG auf Ausländer aus, die zu dem in § 1 Abs. 1 und 2 AufenthG/EWG umschriebenen Kreis der freizügigkeitsberechtigten Personen gehörten. Der Bezug auf diesen Personenkreis finde in § 12 Abs. 1 AufenthG/EWG seinen Ausdruck darin, daß dessen Abs. 1 an den in § 1 AufenthG/EWG umschriebenen Personenkreis anknüpfe. Ohne Bedeutung für den Ausschluß des § 72 Abs. 1 AuslG sei demgegenüber, ob nach den weiteren Bestimmungen des AufenthG/EWG beschränkende Maßnahmen vorgesehen seien oder im Einzelfall Einschränkungen vorgenommen werden könnten. Die Anwendbarkeit des § 12 Abs. 9 AufenthG/EWG hänge somit auch nicht von einem weiteren Zusammenleben der Ehegatten ab. Im übrigen sei die Freizügigkeit für den Ehegatten auch nach Art. 10 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68138 nicht vom Fortbestehen einer gemeinsamen Familienwohnung abhängig. Für den Ausschluß des § 72 Abs. 1 AuslG genüge es grundsätzlich, daß der formelle rechtliche Status eines freizügigkeitsberechtigten Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats (§ 1 Abs. 2 AufenthG/EWG) nachgewiesen ist. Dies gelte unabhängig davon, daß der Aufenthalt nach Gemeinschaftsrecht im Ergebnis wohl versagt werden dürfte, wenn eine bloße Scheinehe feststände. Es widerspreche der Funktion des § 12 Abs. 9 AufenthG/EWG und schränke dessen Funktion über Gebühr ein, wenn das Verfahren mit der Frage befrachtet würde, ob eine Scheinehe vorliege.

       74. In seinem Beschluß vom 5.8.1999 (3 Bs 113/99 - InfAuslR 1999, 486 ff.) entschied das Hamburgische OVG, daß ein ohne das erforderliche Visum eingereister Drittstaatsangehöriger nach der Heirat mit einem freizügigkeitsberechtigten EG-Angehörigen das Bundesgebiet nicht zur Durchführung des Visumsverfahrens verlassen muß. Dem Fall zugrunde lag der Antrag eines ägyptischen Staatsangehörigen auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis/EG. Der Antragsteller, gegen den eine bestandskräftige asylrechtliche Abschiebungsandrohung vorlag, war verheiratet mit einer in Deutschland lebenden Italienerin, die die unbefristete Aufenthaltserlaubnis/EG besaß. Die Antragsgegnerin lehnte den Antrag unter Berufung auf Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nach § 12 Abs. 1 S. 1 AufenthG/EG ab. Das VG untersagte der Antragsgegnerin im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO, den Antragsteller vor einer rechtskräftigen Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis/EG aus der Bundesrepublik Deutschland abzuschieben. Die durch die Antragsgegnerin beantragte Zulassung der Beschwerde blieb ohne Erfolg. Das OVG erkannte, daß § 17 Abs. 5 AuslG einem Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis/EG nicht im Wege steht, da der Anspruch seine Grundlage nicht im Ausländergesetz, sondern im europäischen Gemeinschaftsrecht hat. Vom allgemeinen Ausländerrecht abweichende und hier anwendbare Bestimmungen (§ 2 Abs. 2 AuslG) seien die Vorschriften der §§ 1 Abs. 2, 7, 12 AufenthG/EWG. Die in § 12 AufenthG/EWG genannten Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit nach Art. 48 Abs. 3, 56 Abs. 1 EWGV seien andere Gründe als diejenigen, die bei § 17 Abs. 5 AuslG das Versagen einer Aufenthaltserlaubnis trotz Vorliegens eines Anspruchs ermöglichten. Wegen der Eigenständigkeit des Gemeinschaftsrechts könne die Rechtsposition des Antragstellers sogar stärker sein als diejenige, die er im Falle der Eheschließung mit einer deutschen Staatsangehörigen hätte. § 12 AufenthG finde auch schon bei der Ersterteilung der Aufenthaltserlaubnis/EG Anwendung, da die Freizügigkeit ein unmittelbar aus Art. 48 EWG fließendes Recht sei. Es gehöre nicht zu den Vorbedingungen für den Erwerb des Rechts auf Einreise und Aufenthalt, daß die den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung betreffenden Vorbehalte nach Art. 48 Abs. 3 und 56 Abs. 1 EWG-Vertrag nicht eingriffen. Für die Freizügigkeit von Familienangehörigen bestehe ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit im Grundsatz die gleiche Rechtslage. Art. 10 Abs. 1 Buchst. a der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68139 erlaube dem Ehegatten eines Arbeitnehmers, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt und im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist, ungeachtet der eigenen Staatsangehörigkeit bei Erfüllung der in Abs. 3 dieses Artikels genannten Voraussetzungen Wohnung zu nehmen. Ein Sichtvermerk könne von dieser Personengruppe zwar verlangt werden. Jedoch dürfe die Sanktion gegen einen solchen Sichtvermerksverstoß nicht in der Entfernung aus dem Hoheitsgebiet bestehen, da eine Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne des EG-Vertrages nicht gegeben sei.

       75. Mit Beschluß vom 8.6.1999 (11 S 655/99 - NVwZ 2000, 345 f.) erkannte der VGH Mannheim, daß die Regelung des § 9 Abs. 1 i.V.m. VI 1 DVAuslG ohne Rücksicht auf Zweck und Dauer des beabsichtigten Aufenthalts gilt. Sie hebe, soweit es Staatsangehörige von EU-Mitgliedstaaten betreffe, nicht darauf ab, ob diese auf der Grundlage des europäischen Gemeinschaftsrechts Freizügigkeit genössen. Dem Beschluß zugrunde lag der Eilantrag einer französchen Prostituierten gegen die ihr gegenüber erlassene Ausweisungsverfügung und Abschiebungsandrohung, dem das VG stattgegeben hatte. Die Beschwerde wurde nicht zugelassen. Der VGH erklärte, daß die verfügte Ausweisung nicht auf den Tatbestand einer Ermessensausweisung nach §§ 45 I, 46 Nr. 2 (i.V.m. § 92 I Nr. 1) AuslG hat gestützt werden dürfen, da der Antragsteller die Regelung des § 9 I 1 i.V.m. VI 1 DVAuslG zugute kommt. Nach dieser Regelung könnten die Staatsangehörigen der EG-Staaten und der EFTA-Staaten eine erforderliche Aufenthaltsgenehmigung innerhalb einer Frist von drei Monaten nach der Einreise einholen. Die Regelung stelle nicht darauf ab, ob der Ausländer einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung habe. Es gebe auch keinen normativen Anhaltspunkt dafür, daß sich diese Vorschrift, soweit sie Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der EU betreffe, nur auf solche Personen beziehe, die nach den Freizügigkeitsvorschriften des Europäischen Gemeinschaftsrechts ein Recht auf Einreise und Aufenthalt haben. § 9 I DVAuslG stelle allein auf die Staatsangehörigkeit ab.

       76. Das BVerwG unterstrich in einer Entscheidung vom 7.12.1999 (1C 13.99 - BVerwGE 110, 140-151), daß das mangels Kenntnis der Behörde unterlassene Einstellen einer gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsberechtigung in die einer Ausweisungsverfügung zugrundeliegenden Ermessenserwägungen dann unschädlich ist, wenn die Ausweisung auch unter Berücksichtigung dieser Freizügigkeitsberechtigung rechtmäßig gewesen ist. Die Sperrwirkung einer Ausweisung nach § 8 Abs. 2 S. 3 AuslG stehe der Erteilung einer beantragten Aufenthaltserlaubnis/EG entgegen. Der Entscheidung zugrunde lag der Fall eines wegen mehrerer Straftaten mit bestandskräftiger Verfügung ausgewiesenen Bürgers mit jugoslawischer und griechischer Staatsangehörigkeit, dessen Abschiebung nicht vollzogen wurde und der die Rücknahme der Ausweisungsverfügung sowie die Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis/EG erstrebte. Das BVerwG betonte, daß trotz einer dem Kläger zukommenden gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsberechtigung die Ausweisung rechtmäßig gewesen ist, da die Voraussetzungen von § 12 Abs. 1 AufenthG/EWG vorgelegen haben. Eine Ausweisung sei danach möglich, wenn eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliege, die ein Grundinteresse der Gemeinschaft berühre. Irrelevant sei, daß die Behörde die Freizügigkeitsberechtigung mangels Kenntnis nicht in ihre Ermessenserwägungen eingestellt habe, wenn die Ausweisungsverfügung bei Berücksichtigung dieser Tatsache rechtmäßig gewesen wäre. Der begehrten Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis/EG stehe die Sperrwirkung der Ausweisung nach § 8 Abs. 2 S. 3 AuslG entgegen. Die Sperrwirkung erstrecke sich auf alle Arten von Aufenthaltsgenehmigungen, die nach dem Ausländergesetz erteilt würden. Hierzu gehöre auch die Aufenthaltserlaubnis/EG nach § 1 Abs. 4 AufenthG/EWG, da dieses Gesetz seinerseits das Ausländergesetz für anwendbar erkläre (§ 15 AufenthG/EWG). Mit dem gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrecht sei diese Regelung vereinbar, da der Kläger spätestens bei Fortfall der die Einschränkung der Freizügigkeit rechtfertigenden Gründe eine Befristung der Ausweisungswirkungen verlangen könne und eine Pflicht zur vorherigen Ausreise dann nicht bestehe.

       Hingewiesen sei noch auf die vorinstanzliche Entscheidung des VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10.3.1999 (13 S 2209/97 - VBlBW 1999, 427 ff.).




      131 BGBl. 1992 II 1523.

      132 Protokoll Nr. 4 vom 16.9.1963, BGBl. 1968 II 422.

      133 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 19.12.1966, BGBl. 1973 II 1533.

      134 NZS 1999, 607 ff.

      135 Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.6.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ABlEG Nr. L 149 vom 5.7.1971, 2-50.

      136 Ibid.

      137 Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 31.1.1980, BGBl. 1980 I 116.

      138 Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft vom 15.10.1968, ABlEG L 257 vom 19.10.1968, 2-12.

      139 VO vom 15.10.1968 (ABlEG EG Nr. L 257 S. 2 mit Änd.).